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Kapitel 2: Abhängige Unabhängigkeit
ОглавлениеDer 17.02.2008 war mich ein Sonntag wie jeder andere und die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos war mir zu dem Zeitpunkt noch unbekannt.
Erst als am nächsten Tag die Anerkennungen einiger Staaten, darunter der USA, Großbritannien und Frankreich, folgten, nahm ich das Geschehen überhaupt zur Kenntnis. Ich betrachtete die Angelegenheit damals unwissentlich eher positiv, da für mich der sogenannte Volkswille unabhängig von der Situation ausschlaggebend war.
Ich beschäftigte mich damals mit viel banaleren Sachen, die mich persönlich viel eher berührten. Die bloße Kenntnisnahme solcher Ereignisse war unter meinen damaligen Freunden und Bekannten keine Selbstverständlichkeit.
Deshalb hatte ich zu der Zeit nicht einmal eine Person im Bekanntenkreis, mit der ich darüber überhaupt ausführlich hätte sprechen können.
Die neusten Handymodelle auf dem Markt waren damals ein viel begehrteres Thema unter meinen ehemaligen Kontakten als alle politischen Angelegenheiten zusammen.
Im Nachhinein ist es für mich mehr als verständlich, denn das ist einfach nur ein Beispiel für unsere Gesellschaft inklusive der weitgehend verblendeten Jugend, die eine große Interesselosigkeit für die meisten Dinge an den Tag legt. Dieses Phänomen beobachte ich bis zum heutigen Tag; dabei ändern sich je nach Ära nur die Mode und die Statussymbole. Erst ein halbes Jahr später fing ich an, mich mit dem Kosovo zu beschäftigen, da die Grundfrage der Unabhängigkeit an sich immer wieder aktuell wird.
Das Verlangen eines Volkes nach Unabhängigkeit mag in erster Linie unantastbar sein, allerdings gestaltet sich eine Abspaltung von einem Staat als äußert kompliziert.
Dabei bestätigen Ausnahmen die Regel. So können wir mit Osttimor den ersten unabhängigen Staat im 21. Jahrhundert verzeichnen, über den sich die Geister nicht großartig stritten. Dennoch war auch der Weg von Osttimor für die Unabhängigkeit mit viel Gewalt verbunden, wenn auch die geopolitischen Interessen der Großmächte an der ganzen Angelegenheit sehr gering waren.
Durch die Vermittlung der Vereinten Nationen konnte tatsächlich ein angemessenes Ergebnis erzielt werden und so wurde Osttimor im Mai 2002 unabhängig.
Wie schon bereits erwähnt, hielten sich die Großmächte mit ihrem Interesse zurück. Dementsprechend waren sich die Vereinten Nation in der Angelegenheit einig.
Hinzu kommt, dass Portugal in den 70er Jahren nach der Nelkenrevolution Osttimor ohne großes Bedenken in die Unabhängigkeit entließ, Indonesien mit seinem territorialen Anspruch hingegen die ganze Angelegenheit bis zum Ende des 20. Jahrhundert anheizte, was letzten Endes nichts an der Unabhängigkeitsbestrebung Osttimors änderte.
Der Südsudan bekam auch eine sehr weitreichende Anerkennung der Weltgemeinschaft, wobei auch seine Vorgeschichte mit viel Gewalt verbunden ist. Da auch beim Südsudan das Interesse der Großmächte weitestgehend ausblieb, gestaltete sich dessen Unabhängigkeit ohne großes Theater auf der politischen Weltbühne.
Traurigerweise scheint sich der Südsudan jedoch zu einem gescheiterten Staat zu entwickeln.
Jedenfalls entsteht dieser Andruck, wenn man sich die Lage um ihn neutral ansieht.
Dabei sollte man aber nicht außer Acht lassen, dass es immer wieder auch positive Überraschungen in Bezug auf die Entwicklung gibt.
Man könnte zu der Auffassung kommen, dass unsere Welt tatsächlich im Großen und Ganzen objektiv in der Unabhängigkeitsfrage agiert, wären da aber nicht andere Fälle, in denen plötzlich alles komplizierter und widersprüchlicher wird. Interessant und teilweise sehr suspekt wird die Unabhängigkeitsfrage, wenn die Interessen der Großmächte betroffen sind oder sogar eine Großmacht in Bezug auf ihr Territorium selbst.
Umso erstaunlicher ist, dass diese Großmächte die treibende Kraft in der UNO bilden. Bemerkenswert ist auch, dass es Länder gibt, die gelegentlich die Unabhängigkeit einer Region aus einem Staatsgebilde befürworten, aber in anderen Fällen die Souveränität eines Landes kompromisslos unterstützen. Natürlich könnte man dieses Verhalten mit der jeweiligen Situation begründen, allerdings sind die Fälle im Prinzip ähnlicher, als man sich das am Anfang denken mag.
Dieses Verhalten der Großmächte kann nur mit einem geopolitischen Interesse zusammenhängen. Dementsprechend ist es umso auffälliger, dass man bei gewissen Fällen Argumente wie das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, Menschenrechte oder die komplizierte und oft mit Krieg verbundene Geschichte des jeweiligen Landes verwendet, aber wiederum bei einem anderen Konflikt um die Unabhängigkeit diese Sachen komplett weglässt.
Daran sehen wir erneut die Doppelmoral der Politik sowie die Tatsache, dass es grundsätzlich nicht um Gerechtigkeit, sondern nur um den eigenen Nutzen auf der geopolitischen Bühne geht.
Selbstverständlich lassen sich nicht alle Unabhängigkeitsbestrebungen in einen Topf werfen.
So werden z. B. in den Mainstream-Medien angebliche gravierende Unterschiede aufgezeigt. Damit ist die vorgeworfene Doppelmoral auf den ersten Blick zwar noch nicht vorhanden, jedoch sollte man immer noch genauer hinsehen.
Im wissenschaftlichen und philosophischen Sinne gibt es auch überhaupt kein gleich: Nichts ist identisch und somit weist alles im Leben einen Unterschied auf.
Da verwundert es eigentlich niemanden, dass die ganzen Regionen auf dem Weltglobus, die nach Unabhängigkeit streben, Unterschiede aufweisen.
Was man aber grundsätzlich machen könnte, ist das Prinzip der territorialen Wahrung eines Staates oder die komplette Unterstützung jeglicher separatistischen Bestrebungen. Ganz knapp und kurzgefasst: Entweder unterstützt man den Separatismus oder distanzierst sich von diesem Vorgehen. Solche Prinzipien würden einen glaubwürdiger aussehen lassen. Nichtsdestoweniger galt die Anerkennung einer Region, in der die Gegenseite direkt oder indirekt eine größere Macht darstellte, eigentlich als ein verbotener Akt, denn solch eine Handlung könnte sich im Nachhinein als eine Art Büchse der Pandora herausstellen.
In dieser Hinsicht brach die westliche Welt mit der Anerkennung des Kosovos das erste Mal dieses Tabu.
Zweifellos wurde damit ein Präzedenzfall geschaffen. Kein halbes Jahr später wurden im August 2008 durch Russland die beiden Republiken Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt. Bemerkenswert ist, dass die westlichen Staaten den Kosovo in seiner Unabhängigkeit unterstützen, sich jedoch im Fall Abchasien und Südossetien auf die georgische Souveränität stützen; umgekehrt trifft dies aber im gleichen Sinne auch auf Russland zu.
Die Doppelmoral ist erneut in vollem Glanze sichtbar, denn beide Seiten vertreten zwei unterschiedliche Positionen in einer Grundfrage, je nachdem, wann die eine Position und wann die andere praktischer für einen ist.
Russland ist allerdings laut westlicher Ansicht ein autokratischer Staat mit einer eingeschränkten Freiheit. Da verwundert es auch nicht sonderlich, dass dieses Land die Dinge mit zweierlei Maß handhabt.
Man kann der Russischen Föderation vieles zu Recht vorwerfen, allerdings sollte man auch Folgendes beachten: Russland versucht nicht, die Welt mit Demokratie zu bekehren, und predigt auch nicht großartig Freiheit.
Der Westen dagegen präsentiert sich als Vorreiter der Demokratie auf der Welt und nimmt sich das Recht heraus, andere Staaten in diesem Bereich ständig zu belehren.
Außerdem wird im Namen der Demokratie das eigene außenpolitische Interesse durchgesetzt – eine äußerst fragliche Methode für Länder, die sich als Vorreiter der Demokratie ausgeben.
Das Völkerrecht wird besonders oft erwähnt, vorausgesetzt, es dient dem eigenen Vorteil in einer Angelegenheit. Ist dies hingegen nicht der Fall, wird es gerne außen vor gelassen.
Der Jugoslawienkrieg 1999 ist dabei nicht wegzudenken, denn da wurde das Völkerrecht gnadenlos verletzt, da es dem Westen in seinem Vorhaben nicht nützlich war.
Der Kosovo und sogar Montenegro sind Produkte dieses Krieges. Dementsprechend ist rein sachlich gesehen die Entwicklung nach dem Krieg nicht rechtens, da die Entstehung des Kosovos sowie Montenegros durch diesen illegalen Krieg begünstigt wurde.
Es stellt sich generell die Frage, wie es sein kann, dass sich die westliche Welt solch eine Doppelmoral in Bezug auf den Separatismus erlaubt.
Nach der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland wurden in westlichen Mainstream-Medien ausführlich Vergleiche gezogen. Letzten Endes oder schon zu Beginn kam man zu dem Entschluss, dass die Unterschiede angeblich zu groß seien, sodass man Abchasien und Südossetien nicht mit dem Kosovo gleichsetzen könne.
Der Unterschied bezieht sich überwiegend auf Abweichungen in den Zeiträumen sowie in den Verhandlungen. Interessant war auch, häufiger von der Doppelmoral Russlands über den Kosovo zu lesen.
Doch dass dabei der Westen die gleiche Doppelmoral nur andersherum an den Tag legt, war anscheinend nicht erwähnenswert.
Letztlich kann man natürlich nicht sagen, dass Äpfel und Birnen das Gleiche seien. Jedoch sind deutliche Gemeinsamkeiten doch vorhanden, da beide Obstsorten bzw. Kernobstgewächse sind und beide auf Bäumen wachsen.
Genauso hatten Abchasien, Südossetien und der Kosovo ein großes Verlangen nach Unabhängigkeit; zudem wurden all diese Regionen mit großen Kriegen konfrontiert. Deshalb herrschen da sehr wohl gravierende Gemeinsamkeiten und die Versuche, dieses Offensichtliche mit kleinen Unterschieden wegzuretuschieren, um dadurch ein anderes Gesamtbild zu präsentieren, ist an Heuchelei kaum zu überbieten.
Die Frage der Zugehörigkeit von Tibet zeigt uns eine weitere neue Position in einer Grundfrage: Anhand verschiedener Berichte lässt sich nicht über die komplizierte Menschenrechtslage in Tibet durch China hinwegsehen. Da die Menschenrechte im Westen ganz groß geschrieben werden, wäre eine weitreichende Unterstützung für Tibet angebracht.
Allerdings begrenzt sich die westliche Unterstützung auf eine leise Verurteilung in schriftlicher sowie mündlicher Form und selbst da hält sich die Kritik sehr weit zurück. Das Einführen von Sanktionen oder gar ein lautes Verurteilen ist nicht möglich, da die Angst im Westen vor einer wirtschaftlichen Konfrontation mit China viel zu groß ist. Somit sehen wir, dass das wirtschaftliche Interesse eben doch über dem Menschenrecht steht – ein Verfahren, an dem sich alle bei Gelegenheit bedienen, sogar der Westen. Diese Angst und Scheinheiligkeit des Westens lassen sich aber um noch eine Stufe steigern, und zwar im Umgang mit Taiwan.
Ein nach westlicher Ansicht demokratischer Staat wird nicht in seiner Unabhängigkeit unterstützt, obwohl Taiwan in jeder Hinsicht unabhängig ist, sei es die Politik, Wirtschaft oder das Militär. Der überwiegende Teil der Bevölkerung Taiwans wünscht sich ebenfalls keine Wiedervereinigung mit China.
Die offene Unterstützung des Westens hält sich aber auch hier mehr als nur in Grenzen; viel zu groß ist die Sorge vor wirtschaftlichen und diplomatischen Konsequenzen durch China. Die Angst vor Chinas Wut ist sogar so groß, dass Taiwan selbst als schon in jeder Hinsicht unabhängiger Staat Angst davor hat, sich offiziell für souverän zu erklären. Da China nach der westlichen Auffassung ein unfreies Land ist, macht es das ganze umso trauriger.
Somit kommt man zum folgenden Bild: Das unfreie China macht, was es will, zumindest auf seinem Territorium, und der freie Westen guckt nur zu, da ihm sein wirtschaftliches Interesse wichtiger ist.
Ein weiteres Messen mit zweierlei Maß in einer bereits vorhandenen Doppelmoral können wir auch in Europa nur zu gut sehen. So stimmte Schottland 2014 über die Unabhängigkeit von Großbritannien ab und wählte letzten Endes knapp für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Schottland bekam die Möglichkeit, frei darüber zu entscheiden. Zwar dauerte es viele Jahre, bis es zum Referendum kommen durfte, aber Fakt bleibt, es wurde seitens Großbritanniens ohne großen Vorbehalt ermöglicht. Glücklicherweise sehen wir hier, dass es nicht immer einen Krieg benötigt, um an die Unabhängigkeit zu kommen bzw. die Möglichkeit zu erhalten.
Ironischerweise ist Schottland in seiner Mehrheit für die weitere Mitgliedschaft in der Europäischen Union, allerdings stimmte Großbritannien 2016 im EU-Mitgliedschaftsreferendum für einen EU-Austritt. Somit geht auch Schottland in seinem heutigen Zustand aus der EU, wobei man aber erwähnen muss, dass die Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU müheselig erscheinen; zu groß ist die Bürokratie dahinter. Daran sieht man ein weiteres Mal, dass ein Referendum und der damit bekundete Wille des Volkes in Wirklichkeit nur eine sekundäre Rolle spielen. Der Wunsch geht erst dann in Erfüllung, wenn alle wirtschaftlichen bzw. bürokratischen Angelegenheiten geklärt sind.
Das, was für einen geht, ist für den anderen nicht möglich. Zumindest ist dieses Motto auf Katalonien bezogen.
Der Wille der katalanischen Bevölkerung nach Unabhängigkeit ist sogar in ihrem Bestreben deutlich größer als bei den Schotten. Jedoch bekommt die Region Katalonien nicht einmal die Möglichkeit, ein von allen Seiten anerkanntes Referendum über die Unabhängigkeit durchzuführen. So blieb im Jahr 2017 auch das Referendum über die Abspaltung nur ein formaler Akt. Die Katalanen werden einfach alleingelassen, denn die internationalen Akteure sprechen sich grundsätzlich für die Souveränität Spaniens aus. Der Wille der Katalanen, zumindest von deren Mehrheit, findet kein richtiges Gehör und so wird auch die brutale Polizeigewalt an Demonstranten nach dem Referendum 2017 im Grunde toleriert.
Zwar wird wie üblich zur Besonnenheit und Vernunft aufgerufen, jedoch können die mit Knüppel niedergeschlagenen Befürworter der Unabhängigkeit in Katalonien herzlich wenig mit diesen inhaltslosen Worten anfangen. Erstaunlich ist, dass bei der Unabhängigkeitsfrage weltweit sehr viele Antworten zur Auswahl stehen. So kann man diese Angelegenheit mit „ja“, „nein“, „vielleicht“, „ja, aber nicht möglich“, „jein“, „nein doch“ und „erst einmal nicht“ beantworten.
Es zählt, wo die Region liegt, welches Interesse eine Unabhängigkeit mit sich bringt und ob man dadurch profitiert. Mit ein wenig Glück kann eine eher wenig nutzbare Region zur Unabhängigkeit gelangen, was auch von der Welt ganz oder überwiegend akzeptiert wird.
Regionen mit brauchbarem Potenzial unter anderem für Drittstaaten erhalten solche Prioritäten grundsätzlich nicht, es sei denn, man geht den Weg der Gewalt; dann lässt sich möglicherweise etwas ändern.
Im Falle der Unabhängigkeit diverser Regionen lässt sich nicht nur die einfache Doppelmoral erkennen, sondern auch eine abgrundtiefe Scheinheiligkeit, die ihresgleichen sucht. Es kommt darauf an, wer du bist, was du besitzt und woher du kommst; erst dann kann man dich kategorisieren. Sollte man aus dir einen Nutzen ziehen können und du stellst allgemein keine Gefahr dar, ist dir deine freie Entfaltung gewährleistest. Bei etwas anderem wird es hingegen deutlich komplizierter. Früher habe ich dieses Denken nur auf die Gesellschaft allgemein angewandt, um auf die Missstände hinzuweisen. Jetzt aber sehe ich, dass es sich auch auf die Weltpolitik im weiteren Sinne anwenden lässt. Dabei ist es auch kein Wunder, dass die Gesellschaft gravierende Defizite aufweist. So spiegelt es auch die Politik wider, denn wir alle sind nur Menschen.