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MENSCHEN UNTER WOLKEN
ОглавлениеHeute habe ich an dich gedacht. Ich wollte dir sagen, dass ich dich vermisse. Aber nicht auf eine Wir-waren-einmal-verliebt-ineinander-, sondern auf eine Du-warst-mein-bester-Freund-und-jetzt-weiß-ich-nicht-mehr-wer-ich-bin-Art.«
»Ich weiß, was du meinst. Ich vermisse dich auch.«
Es fällt auf dich und zerdrückt dich. Aber es fühlt sich nicht danach an. Weil du so leer bist und so fucking schwer. Jede Bewegung fühlt sich an, als würdest du ein unerträgliches Gewicht hochheben. Du weißt nicht, was du tun sollst, wohin du gehen sollst. Du fühlst dich einsam. Auf eine Art ist es so, als würdest du gar nichts spüren, als würde nichts etwas bedeuten. Aber da ist dieser Drang, etwas zu spüren. Ist es nicht seltsam, dass Leere so schmerzhaft ist?
Ich sehe sie an, wie sie in ihrem Pulli versinkt. Wir knien auf der Schultoilette in der Kleinstadt und wiegen Drogen ab. Hinter ihren Augen liegen Glassplitter. Sie reflektieren das industrielle Licht der alten LED-Lampen. Mit ihr ist alles anders.
Wo beginnen Geschichten? Und wo hören sie auf? Tage sind vergangen, geschmolzen wie brauner Schnee.
In warmer Dunkelheit unter Stuck in Westberlin flüstert er: »Ich glaube, du suchst etwas. Und weißt vielleicht selbst nicht, was.«
Ummantelt von einer Melancholie, die mich seit dem Tag in der Abflughalle nicht verlassen hat, nicke ich stumm. Nach Monaten unter einer Taucherglocke habe ich gefunden, wonach ich gesucht habe. Das ist, glaube ich, das Problem. Nun stehe ich in einem weißen Raum und mir wird klar, dass ich das, was ich so sehr brauche, einfach nicht bekommen kann. Vor mir liegt das leere Wissen darüber, dass all das Glitzernde, Funkelnde, das noch kommen wird, nur Blattgold ist.
Eigentlich will ich das gar nicht. Den hohlen Raum betrachten, der in mir liegt. Es ist so zermürbend, ein mir sehr bekanntes und doch so unbeschreibliches Gefühl anzuschauen und immer und immer wieder in meinen Händen umzudrehen.
Es war nichts. Nur einige leise Worte, zwischen Hunderten von Häusern und Tausenden Wohnungen mit noch viel mehr Menschen. Und jeder von ihnen atmete, begann zu atmen, hörte auf zu atmen. Sie dachten und kochten und schwiegen. Und in mir zerbrach etwas. Ein kleines, dünn gesponnenes Seil war dort gewesen, wo die Scherben liegen. Kein großer Bruch am Boden, nur ein einziges Glas in einer endlosen Vitrine. Ich wusste, ich hatte schon Schlimmeres erlebt. Kronleuchter waren zerkracht und ich stand immer noch auf den Schienen in Ostberlin.
Aber so sehr ich mich auch dazu zwang, alles abzutun und mir zu sagen, dass sie nur eine von vielen war, bloß ein weiterer Name auf einer grotesk genauen Liste auf meinem Bildschirm – ich glaubte mir selbst nicht.
Der Wind war wieder kalt und ich spürte meine Knochen zittern. Mechanisch stieg ich aus der U-Bahn und lief über die Warschauer Brücke. Der Fernsehturm leuchtete, schaffte es heute jedoch nicht, mich zu retten. Ich sah aus wie ein alter Herr in einem zu kleinen, zu schmalen Körper. Die Schulterpolster meines Jacketts standen ab wie die Hörner eines Stieres im August. Meine pechschwarzen Haare wehten im eisigen Wind. Ich war endlich wieder dunkel und gefährlich. Nur mein Inneres war schwach und geleeartig wie der Dotter von pochierten Eiern.
Müsste ich den Schmerz beschreiben, würde er aussehen wie eine negative Parabel. Erst ist alles ganz in Ordnung. Du lebst und erfreust dich, du bist genervt und manchmal traurig. Alles läuft auf einer Ebene. Du gleitest sanft durch dein Koordinatensystem und nichts passiert. Doch plötzlich verändert sich etwas. Neue Funktionen, neue Graphen. Du schießt nach oben und bist nervös, wenn du sie vor dir siehst. Spielend ziehst du sie in deine Welt. Bis sie sich fallen lässt und du am Höhepunkt ankommst. Oben glitzert alles. Du atmest Euphorie und alles scheint endlos zu fließen. Die Sonne steht über Berlin und du hältst ihre Hand. Alles könnte so bleiben. Doch du weißt, dass Kostbarkeit durch ihre Endlichkeit bestimmt ist.
Wochen später stehst du unter dem Türrahmen beim bunten Park. Du willst sie küssen und sie schreckt zurück. Die Distanz zwischen euch klafft wie felsige Abgründe im Himalaja. Sie will dich nicht, weil du nicht bist wie sie.
Du gehst, blickst nicht zurück und merkst, wie du langsam runterfällst. Wie die Strahlen auseinanderfallen und dein Körper sticht. Irgendwie bist du leer und wütend auf dich selbst. Du hättest dich nicht öffnen sollen.
Zwei Jahre später liegst du in der Altbauwohnung in der dunklen Stadt. Draußen fliegen mikroskopisch kleine Partikel durch die Luft, die die ganze Welt zum Stillstand bringen. Ich laufe durch den Regen und setze mich mit nassen Haaren auf einen Sessel. Der Geruch des Raumes erinnert mich an etwas, doch ich kann es nicht zuordnen. Vor mir sitzt eine runde Frau, sie sieht aus wie eine Eule. Ich mag sie.
Ein paar Tage später halte ich einen Brief in der Hand. Auf welkem Papier steht dünn gedruckt: »Rezidiv Depression, mittelschwere Episode.«
Ich bin rückfällig geworden. Die Ausweglosigkeit meiner Situation lässt mich in alte Muster verfallen, schon vor die Tür zu gehen, kostet Kraft. Was soll ich da? Vor geschlossenen Läden stehen, in gerade so geöffnete Restaurants gehen, mit Freunden, die ich nicht habe. Erwachsenwerden ist für mich eine Treppe abwärts.
»Ich glaube, Social Media macht uns depressiv.« Meine Augen schmerzen. Ich habe gestern zu viel gekokst.
»Ja, da hast du recht, das merken auch wir Psychologen. In gewisser Weise leisten wir die Gegenarbeit zu dem, was online passiert«, sagt sie hoffnungsvoll und zugleich erschöpft.
»Ich bin ein Teil davon, Teil eines zerstörerischen Systems.« Wie soll ich die Ambivalenz, die in mir liegt, in Worte fassen?
»Fühlst du dich schuldig?« Sie schaut mir in die Augen und ich weiche aus, raus aus dem Fenster.
»Ja.«
Ein paar Wochen später fragt sie mich nach meiner moralischen Erziehung. Sie sieht, dass ich immer wieder zwischen Abgründen hänge. Dass sich kein größerer Sinn und keine Richtung in meinen Gedanken formen. Ich beantworte die Frage: Meine Mutter versuchte, mir ihr christlich-mexikanisches Regelwerk aufzuerlegen. Mein Vater hatte eine klare Linie, wenn es um das Lügen ging. »Das hat auf mich nicht wirklich Eindruck gemacht. Ich habe mich dem irgendwie so bedenkenlos widersetzt. Ich habe viel gelogen.« Ich spreche von den zwei unterschiedlichen Bildern, die es von mir gibt.
»In meinem Umfeld war das anders, es gab nicht wirklich Regeln für Richtig und Falsch. Ich war oft bei Freundinnen, die alles durften. Gutes Benehmen, Freundlichkeit, Empathie, das war nie für einen Gott oder eine abstrakte Vorstellung von Gesellschaft. Es war nur für einen selbst.« In meinem Kopf setze ich eine Notiz: Irgendwann mal was über Individualismuskritik schreiben.
»Du sagst Sachen, die ich ganz oft sehe. Eure Generation ist frei von moralischen Grenzen, ihr müsst euch nicht an irgendeiner Art von bürgerlicher oder religiöser Moral orientieren. Der Leitspruch eurer Generation ist: Alles ist erlaubt und richtig, solange es aus dir selbst kommt. Dabei wissen wir oft gar nicht, was wir wollen, wir können es auch nicht immer. Wir haben widersprüchliche Bedürfnisse und sind mit den endlosen Möglichkeiten überfordert.«
Eine moderne Diagnose, die eigentlich schon ziemlich alt ist. Entfremdung, Überforderung, die kalte Großstadt, Einsamkeit und Gott ist tot. Ich denke an die Gedichte des Expressionismus, die ich vor zwei Jahren so gern las. In einer Gedichtanalyse über Georg Trakls Gedicht »De profundis« schrieb ich: »Die empirische Glücksforschung geht heute davon aus, dass Glaube von hoher Bedeutung für die Glückseligkeit der Menschen ist. Ein Verlust von Glauben, wie er in der Moderne häufig vorzufinden ist, löst ein Bezugsvakuum für den Menschen aus. Es existiert kein offensichtlicher transzendenter Sinn mehr und der Mensch fühlt sich dadurch oft verloren.«
Aber was ist dieser Sinn? Gibt es den überhaupt?
Der moderne Mensch verspürt immer mehr eine Überforderung und Ohnmacht angesichts der Komplexität der Welt, ihrer Probleme und der Bedeutung des Einzelnen in ihr. Vor allem Menschen in den Metropolen des 21. Jahrhunderts tendieren dazu, diese Gefühle verstärkt wahrzunehmen. In einer Welt voller Menschenmassen, endloser technischer Möglichkeiten und von übertriebenem Materialismus stellen sich viele die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es entsteht eine enorme Kluft zwischen der faktischen Austauschbarkeit des Einzelnen und dem in westlichen Gesellschaften zelebrierten, oft über alles gestellten Individualismus.
Die Frage, ob und inwiefern unser Leben jedoch von Bedeutung ist, ist aufgrund der Säkularisierung und der Vielfalt an Lebensphilosophien und politischen Ideologien allgemein nicht mehr zu beantworten. Im Ursprung war sie dies auch nie, jedoch haben Autoritäten in der Vergangenheit die Frage und somit auch deren Antwort für sich beansprucht und damit über das Leben anderer Menschen bestimmt. Heute ist es Leid und Erleichterung zugleich, dass wir diese Frage für uns ganz allein beantworten müssen.
Ich habe überhaupt keine Lust, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Das macht nur mit 15 angetrunken auf Hügeln in trostlosen Vorstädten beim Sonnenuntergang Spaß. Jetzt ist das alles irgendwie so ernst und wichtig geworden, ein Framework für sein Leben zu haben. Ich bin glücklich darüber, dass ich in einer Zeit aufgewachsen bin, in der ich ich sein durfte. Aber ich frage mich auch, was ist heute anders? Warum fühle ich mich so? Sind das nur meine eigenen unbedeutenden Probleme oder vielleicht Symptome einer ganzen Generation?
Ich spreche mit vielen Menschen und trotz der unterschiedlichen Nuancen und Wahrnehmungen entsteht ein klares Bild, wir sind eine in uns selbst gespaltene Generation.
Auf einer dünnen Metalltreppe im fünften Stock über der Spree betrinke ich mich mit Marketing-Millennials.
»Ihr seid als Generation so cool. Ihr seid confident, accepting und stark nach außen, ihr könnt so über alles reden, Mental Health, Body Positivity, Masturbation, Trans, Gay, alles. Wir konnten das nicht, das war irgendwie tabu oder zumindest unhöflich.« Unter den DDR-Bauten in Ostberlin sagt eine Freundin: »Wir sind einfach alle fucking depressed.«
Menschen schreiben mir ihre Gedanken zur Generation Z: »Wir haben einen starken Drang zum Individualismus und sehen trotzdem alle gleich aus.« »Kinda broken but still goin’ strong.« »We can relate to everything yet so many of us are misunderstood.« »A (sad) generation with happy pictures.«
Einerseits wirken wir frei und selbstbewusst, wir haben alle Möglichkeiten, wir sind politisch aktiv und streben eine bessere Welt an. Aber in uns ist nicht alles, wie es nach außen scheint. Die endlosen Möglichkeiten in jedem Lebensbereich überfordern uns, wir sind orientierungslos, einsam und vergleichen uns mit unrealistischen, unerreichbaren Idealen. Psychische Krankheiten, vor allem Angststörungen und Depressionen, wie ich sie beschreibe, sind die Krankheiten unserer Generation.
Es ist, als würden wir unter einer Wolke schweben, die durchzogen ist von der Hoffnung auf eine bessere Welt, auf ein besseres Ich. Sie ist voller Versprechen, Möglichkeiten und Wege, doch sie führt uns auch zu unseren größten Ängsten und in eine tiefe Einsamkeit. Die Wolke, die die Lebenszeit unserer gesamten Generation lückenlos einschließt, ist Verheißung und Verdammnis zugleich: das Internet.