Читать книгу Der Zirkel des Narzissten - Valerija Konstantinova Skripnicenko - Страница 8

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Kapitel 1

Ich höre meinen Herzschlag und versuche, so leise wie möglich zu atmen, um bloß nicht gehört zu werden. Mein ganzer Körper zittert und mir laufen Tränen über die Wangen. Die Todesangst lässt mich bei jedem dumpfen Schlag zusammenzucken und ich schnappe nach Luft nach jedem lauten Schrei. Es fühlt sich an, als würden scharfe Messerklingen tief in mir stecken, die sich bei jeder noch so kleinen Bewegung durch meine Brust schneiden. Ich schließe fest meine kleinen Augen und halte abwechselnd meine kleinen Kinderhände vor das Gesicht und die Ohren. In der Hoffnung taub, blind und unsichtbar zu sein, aus Angst - entdeckt zu werden. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Gefühlte sieben Tage, in denen ich im Schlafzimmerschrank stehe und versuche, nicht zu schreien oder zu sterben. Wie so oft knicken meine kleinen Beine abwechselnd ein und ich verliere immer wieder den Halt. Langsam nur werden die hysterischen Schreie der vielen fremden Stimmen leiser. Die Abstände der heftigen Schläge gegen die dünnen Wände, die das ganze Haus beben lassen - länger.

Ich will nur noch zurück in mein Bett. Unter die Decke und wieder einmal alles vergessen.

Ich höre das laute Knallen der Haustür und nur noch Mamas Weinen und ihre Schritte. Ich öffne die Schranktür, weil ich weiß, dass wieder alles vorbei ist. Wieder einmal bin ich froh, dass er weg ist und sie noch lebt. Ganz oft habe ich den lieben Gott gebeten, Mama zu beschützen und war, wie jedes Mal aufs Neue, erleichtert, dass er mich erhört hat in diesem muffigen Schrank zwischen all den Decken, Handtüchern und Mamas Anziehsachen. Sie nimmt mich zum Trösten und Beruhigen auf den Arm, selbst am Zittern und verweint, drückt mich an sich und wiederholt ständig:

"Er ist weg, er ist weg."

Schaukelnd mit mir auf dem Arm setzt sie sich auf die Bettkante und wimmert, während ich ihr durch das Haar streichle und sie ebenfalls beruhige. In mir ist nichts als Leere und Erschöpfung. Das Einzige, was ich jetzt noch will, ist in mein Bett und unter die Decke zu meinem Kuscheltier. Nach einer Weile auf ihrem Arm legt sie mich ab und deckt mich zu. Streichelt mir noch einige Minuten liebevoll über das Gesicht und verlässt dann den Raum. Sie zieht die Tür hinter sich zu, obwohl ich ihr immer sagte, dass ich es nicht mag.

Lautlos weine ich im dunklen Zimmer in das, durch die Fenster scheinende Licht der Sterne, vor mich hin. Ich bitte den lieben Gott immer wieder, mir meine geliebte Mami zu schicken. Doch er hört mich nicht. Mit meinem Kuscheltier fest im Arm falle ich in einen tiefen Schlaf.

Es vergingen einige Tage und die Gemüter hatten sich beruhigt. Es war ein schöner und sonniger Morgen und ich wachte mit der Sonne im Gesicht auf. Aus der Küche roch es lecker und ich hörte es klappern und brutzeln. Noch verschlafen, aber gutgelaunt wollte ich mich an jenem Tag rausputzen und mein neues, gepunktetes Lieblingskleid anziehen. Ich wollte nämlich eine Ballerina sein und tanzen. Wie eine aus dem Fernsehen, die auf Zehnspitzen Pirouetten drehten, mit den Händen über dem Kopf.

Also holte ich mir das Kleid aus dem Schrank, in dem meine Anziehsachen ordentlich hingen und zog es vom Kleiderbügel. Mit dem Kleid in den Händen lief ich in die Küche zu Mama und fragte euphorisch:

"Mama, Mama darf ich dieses Kleid anziehen?" Und konnte mit der Antwort zwar rechnen, aber nicht umgehen, denn mein starker Wille schloss das Verständnis dafür aus. Es war doch so warm draußen, die Sonne schien und es war Sonntag und außerdem wollte ich es doch so unbedingt. Wie so oft, waren mir das erste Verneinen und der strenge Blick nicht genug. Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck und Tränen in den Augen setzte ich einen weiteren Versuch an, meinen kleinen Kopf durchzusetzen:

"Wieso?"

"Es ist zu kalt und du brauchst das nicht! Neulich erst warst du wieder krank!”, war ihre Antwort. Sie wendete sich wieder ihrer Küchenarbeit zu, in der Hoffnung, es wäre geklärt.

Ich musste auch krank gewesen sein, zumal Mama das sagte und auch eine Ärztin kam und mir eine Spritze gab, aber krank gefühlt hatte ich mich nicht.

"Aber bitte, bitte nur kurz, ich will doch tanzen." Verlieh ich meinem Wunsch mit meinem weinenden Ausdruck den Nachdruck. Mamas Ton wurde laut und streng. Mit großen Schritten kam sie auf mich zu und riss mir das Kleid aus den Händen. Sie beugte sich über mich mit weit aufgerissenen Augen, knirschenden Zähnen und ermahnendem Zeigefinger und schimpfte: "Nein heißt Nein und wenn du hier noch mehr Theater machst, dann bringe ich dich zu deinem Vater."

Mein Körper verkrampfte und aus meinem tiefsten Inneren bohrte sich ein unbändig hysterisches Weinen. Es war, als würde ich, genau in diesem Moment, zum hundertsten Mal in meinem dreieinhalb Jahre altem Leben sterben. Wie ferngesteuert zog ich mich zurück ins Schlafzimmer, um nach Luft zu schnappen. In solchen Momenten wollte ich immer nur allein sein. Ganz allein.

Es dauerte eine Weile bis ich wieder zu mir kam und mich beruhigte, denn meine Tobsuchtsanfälle, ausgelöst durch krampfartige Schmerzen in meiner Brust, zerrten sehr an meinen Nerven. Gefangen in meiner Hysterie weinte ich immer, bis mir die Tränen ausgingen und ich vor Erschöpfung einschlief.

"Wie undankbar du bist, wieso kannst du nicht hören, wie alle anderen Kinder auf ihre Eltern hören? Schau wie ich zittere, schau was du wieder angestellt hast. Das werde ich deinem Vater erzählen.", schimpfte sie mir noch nach. Diese Worte zeigten mir, wie hilflos und wie fehl am Platz ich doch war ohne meine Mami.

Das Frühstück nach meinem Wutanfall würgte ich am Esstisch in der Küche schweigend runter und ging anschließend zurück in das Schlafzimmer, in dem drei Betten standen. Eines auf dem meine Großmutter schlief, das zweite, auf dem meine Mama schlief und das dritte, in welchem ich schlief.

Die Sonne durchflutete das Zimmer. Ich lag einige Zeit auf meinem Bett und starrte den Schrank, der direkt davorstand, an. Mich plagte das schlechte Gewissen wegen meines Wutanfalls und auch, weil Mama wieder schimpfen musste und sich wieder so aufgeregt hatte. Dann war da aber auch die große Angst vor meinem Vater, die mich noch einige Stunden quälte und der Wunsch, in diesem Kleid zu tanzen.

Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, so zu tun, als ob ich spielte in den Anziehsachen, die sie mir anzog. Die Tür des Schlafzimmers war tagsüber immer geöffnet und sie kam später herein. Mit leiser Stimme und lächelnd rief sie mich zum Mittagessen, als hätte ich nichts Schlimmes angestellt oder sie mir verziehen. Glücklich, erleichtert und dankbar für ihr liebevolles Lächeln wollte ich nun alles dafür tun, um es zu erhalten.

Am Tisch saß ich still und aß meinen Teller leer und schaute nicht Mal in der Gegend herum.

Einmal kündigte sich mein Vater zu Besuch an.

Aus Mamas Erzählungen und den Gesprächen der Erwachsenen, die ich zwangsläufig immer mitbekam, wusste ich, dass er ein Mörder war. Er vergewaltigte und ermordete meine Mami, ein Jahr zuvor. Ich wusste zwar nicht, was das bedeuten sollte, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein.

Er war nämlich ein sehr gefährlicher Mann und kam auch immer laut schreiend mit anderen gefährlichen Männern, um mich zu töten und von Mama wollte er immer Geld. Deswegen sollte ich mich auch immer im Schrank verstecken und leise sein. Mama konnte uns vor ihm immer nur mit Müh und Not und der Hilfe der Nachbarn beschützen und riskierte dabei ständig ihr Leben.

Trotz Mamas Anweisung, mich gut zu benehmen während seines Besuchs, um ihn nicht wieder wütend zu machen, damit er nicht wieder tobte und um sich schlug, gelang es mir nur kurz die Tränen vor seinem Erscheinen zu unterdrücken. Ich sollte mich zusammenreißen und nicht wieder weinen und ihn somit provozieren. Doch trotz der Anweisung rannte ich direkt nach dem Klingeln an der Haustür ins Badezimmer und weinte - leise. In der Hoffnung, dass es keiner mitbekam.

Sie machte ihm auf und schickte ihn durch in die Stube.

Seine Schritte hörte ich als er noch im Flur des 9-stöckigen Wohnhauses die Treppe hochkam und gerochen habe ich ihn durch drei Türen und den Wohnungsflur. Seine Stimme zu hören, als er Mama begrüßte, war vergleichbar mit zwei großen Händen, die mich würgten und einem schweren Stein auf meiner Brust, der mich nicht Luftholen ließ. Mein Herz schlug schnell und meine Hände wurden kalt und nass.

Ich hörte Mamas Stimme vor der Badezimmertür, wie sie ihn in die Stube durchschickte. Anschließend kam sie mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht zu mir ins Badezimmer. Sie ging vor mir in die Hocke und wiederholte ihre Anordnung in einem unbeschwerten und liebevollen Ton.

Ich sollte ihm bloß gehorchen und ein gutes Mädchen sein und aufhören, zu weinen. Denn Papa hatte mich vermisst und brachte extra Bastelkleber mit, um mit mir zu basteln.

Widerwillig ging ich den langen Flur entlang zum Wohnzimmer, um meinen Job zu machen. Es fühlte sich für mich an wie der Gang zur Schlachtbank. Er saß derweil schon mit Bastelkram und seinem Kleber am Wohnzimmertisch und erwartete mich. Lächelnd empfing er mich und ich lächelte wie auf Knopfdruck, mit verweinten Augen zurück. Ich hatte Angst, Irgendetwas durcheinander zu bringen. Ich hatte Angst, falsch zu reagieren. Ich hatte Angst, falsch zu basteln. Ich hatte Angst, zu weinen oder etwas Falsches zu sagen. Nur langsam ging ich auf ihn zu und er schob den Stuhl neben sich zur Seite, damit ich mich neben ihn setzen konnte. Mama blieb im Türrahmen der Stube mit ihrem Geschirrtuch in der Hand stehen und sagte liebevoll:" Willst du Papa nicht umarmen und einen Kuss geben?" Er kniete sich vor mich auf den Boden und streckte die Arme aus. Willenlos befolgte ich die unterschwellige Anweisung und ließ mich umarmen.

Ich spürte ihr Dasein und ihre Blicke im Rücken und in mir baute sich ein unerträglicher Druck auf. Meine Beine kribbelten, mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Hände zitterten.

Er zog mich an sich und umarmte mich. Er hielt mich fest. Meine Angst war von jetzt auf gleich weg, so als hätte sich in meinem Kopf ein Schalter umgelegt. Ich fühlte mich plötzlich wie in einem Kokon. Sein Geruch, sein Atem, sein kratziger Bart, sein Herzschlag durch den kratzigen Pullover waren mir so fremd und vertraut gleichzeitig, dass ich mich in mir selbst verlor. Ich schloss die Augen, aus denen Tränen flossen und versuchte mich mit aller Macht zusammen zu reißen. Ich atmete nicht, ich bewegte mich nicht. Ich wollte nicht, dass er loslässt. Doch traute ich mich nicht, ihn zu umarmen. Ich hatte mich so geschämt, weil ich ihn in diesem Moment so liebte und keine Angst vor ihm hatte oder ihn hasste. Mama stand noch immer im Türrahmen und beobachtete uns. Ich wusste, sie würde sofort schimpfen, wenn ich auch nur einen Ton von mir gäbe.

Er ließ mich los, als er mein Weinen bemerkte und schaute mich zuerst enttäuscht an und schließlich auf den Boden.

Mein Vater noch vor mir kniend, starrte Mama mich mit einem hämischen Lächeln an, als wäre es für sie klar gewesen, dass ich aus Angst vor ihm wieder einmal weinte.

Sie lächelte immer so, wenn sie im Recht war.

Ich schaute sie an und sah, wie sie blitzartig ihre Mimik veränderte und ihn aufforderte, zu gehen. Da er mich wieder verängstigte und sie nun wieder Stunden bräuchte, um mich zu beruhigen. Sie begleitete ihn hinaus zur Haustür und erwähnte meinen anstrengenden Charakter. Sie flüsterte ihm, ich sei unzähmbar.

Meine innere Stimme wollte rausschreien, dass er bleiben sollte, aber ich bekam keinen Ton raus. Ich wollte ihn festhalten, aber ich war wie versteinert. Ich genoss jede Sekunde, in der er in diesem Zimmer war und verfolgte jeden seiner Schritte hinaus in den Flur. Noch schwerer wurde es in mir, als sie mich tröstete und mir erklärte, dass ich selbst schuld war an dem nur kurzen Besuch, denn ich hatte ihn mit meiner Hysterie wieder vertrieben.

Ungefähr ein Jahr zuvor verabschiedete sich in diesem Flur meine geliebte Mami am frühen Abend von mir. Zuvor machte sie sich im Schlafzimmer schick und war gekleidet in hellblauer Bluse und einem hellblauen Rock. Von meinem Bett aus beobachtete ich, wie sie sich fertig machte. Leise summte sie ein Liedchen vor sich her und schnitt Grimassen, die mich zum Lachen bringen sollten, da ich zunehmend unruhiger wurde. Ich wollte nicht, dass sie ging und weinte. All ihre Bemühungen mich zu beruhigen stressten sie, doch ließ sie es mich nicht spüren.

Zum Abschied nahm sie mich auf ihren Arm und ich versuchte, sie mit aller Macht festzuhalten. Ich schrie, weinte, tobte und bettelte, damit sie bei mir bliebe, aber es war nicht, genug. Sie musste dringend los und war spät dran, also eilte Urgroßmutter ihr aus dem Wohnzimmer zur Hilfe und nahm mich ihr ab. Doch auch bei ihr auf dem Arm wollte und konnte ich mich nicht beruhigen, schrie wie am Spieß und trat um mich.

Mami war sichtlich hin und hergerissen und hatte ein schlechtes Gewissen, mich zurückzulassen. Schnappte sich jedoch ihre Tasche, küsste mich bei Urgroßmutter auf dem Arm auf die Stirn und ging den Flur entlang zur Haustür. Dort drehte sie sich noch ein letztes Mal zu mir um, warf mir einen Handkuss zu und sagte: “ Sei lieb, ich bin bald wieder da, mein Schatz.” Und ging hinaus.

Ich war zweieinhalb Jahre alt und wusste, ich würde sie nie wieder sehen. Den ganzen Abend tobte ich, schrie und weinte. Jeder Versuch, den Urgroßmutter unternahm, mich zu beruhigen, scheiterte und sie war am Ende ihrer Kräfte. Oma war nicht Zuhause und sie mit der Situation maßlos überfordert.

Erst Stunden später schlief ich vor Erschöpfung ein.

Mitten in der Nacht schreckte ich auf. In einem Traum sah ich meine Mami unter klarem Wasser liegen mit verschränktem Arm unter ihrem Kopf und angewinkelten Beinen. Neben ihr lag ihre Tasche und auch die Schuhe hatte sie an. Über ihr schwammen kleine Goldfische. Sie lächelte und sagte:" Bis Bald."

Ich setzte mich im Bett auf und weinte lautlos. Für mich war klar, ich hatte versagt, denn Ich war nicht laut genug. In mir starb in jener Nacht die Hälfte meiner Seele und je mehr ich fühlte desto lauter weinte ich, bis Urgroßmutter mich hörte und kam, um mich zu trösten. Ich hatte so viel geweint, dass ich furchtbaren Durst hatte und Sie mir ein Glas Wasser brachte. Meine kleinen zittrigen Hände konnten das Glas aber nicht ruhig halten und ich verschüttete die Hälfte in meinem Bett. Sie redete auf mich ein und versuchte alles Menschenmögliche, um mich zu beruhigen. Sie versprach mir, dass Mami und Oma bald wieder zurück seien, doch ich glaubte ihr nicht.

In den Morgenstunden wurde ich von vielen fremden Stimmen geweckt. Auch Oma war wieder da und weinte. Alle waren besorgt und panisch, das Haustelefon klingelte oft und ich verstand, dass alle nach meiner Mami suchten. Ich blieb in meinem Bett und starrte an die Decke und wartete…

Die ersten Wochen nach ihrem Verschwinden lag ich überwiegend in meinem Bett, mit ihrem Stoff Taschentuch über meinem Gesicht und ließ mich von niemandem anfassen. Ich wollte niemanden sehen und vermied jeden Kontakt. Ich aß widerwillig und nur mit gutem Zureden. Spielte und lachte nicht und war vollständig in mich gekehrt.

Ich bekam mit, wie ständig Leute kamen und gingen. Männer und Frauen, die weinten und mir Geschenke brachten, mich auf den Arm nehmen wollten und Oma Trost spendeten.

Monatelang durchkämmten Suchtrupps, organisiert von Anwohnern und Nachbarn, der Polizei und Mamis Freunden, Omas Bekannten und sämtlichen Kollegen die ganz Stadt. Durchsuchten jeden Busch und jeden Winkel bei den eisigen Temperaturen und heftigen Schneestürmen Russlands, in der Hoffnung, sie lebend zu finden oder zumindest - die Gewissheit. Jedoch ohne Erfolg.

Ich war zweieinhalb Jahre alt und hatte mit allem, was ich konnte versucht zu erklären, dass sie im Wasser war bei den Fischen. Unter dem Gullydeckel. Aber niemand glaubte mir, außer Oma. Monatelang erinnerte ich sie an meinen Traum, bis sie irgendwann mit mir an der Hand los ging und mir so gut wie jeden Gully in unserem Viertel zeigte. Doch die meinte ich alle nicht.

In den nächsten Monaten zerrte der Verlust meiner Mami zwar an unseren Nerven und hing wie ein grauer Schleier über unseren Köpfen, doch schlich sich phasenweise der Frieden ein. Natürlich schwand mit jedem Tag die Hoffnung, meine Mami lebend zu finden und der Haussegen hing auch zeitweise schief. Mein psychischer und physischer Zustand ließen zu wünschen übrig, denn ich wurde seit dem Verschwinden meiner Mami immer trotziger und war ständig krank. Aufgrund des aufgebrachten Mitleids für mich war es nicht leicht, mich zu erziehen. Ich weigerte mich, auf Urgroßmutter zu hören, die überwiegend auf mich aufpasste, da ich zu krank für den Kindergarten war. Auch sonst wollte ich oft mit dem Kopf durch die Wand und setzte meinen Willen durch. Nicht einmal die Geschichten über meine Mami konnten mich hinbiegen und jeder Vergleich mit ihr, der mich zu Gehorsamkeit animieren sollte, war ein Schuss in den Ofen. Beide verzweifelten an meinem schwierigen Charakter, denn sie hatten auch zusätzlich mit dem Verlust ihrer Tochter und Enkelin zu kämpfen. Nichtsdestotrotz liebten mich beide und wollten die Schäden und meine Traumata so gering wie nur möglich halten, denn sie standen in der Verantwortung, mir ein Leben zu bieten. Die Trauer über den Verlust meiner Mami sollte ich weniger spüren, indem ich Oma - Mama nannte und Urgroßmutter - Oma.

Ich war vier Jahre alt und mein Papa feierte seinen Geburtstag.

Wenn ich behaupten würde, ich hätte mich über die Einladung zu seiner Feier gefreut, würde ich lügen aber auch, wenn ich das Gegenteil behaupten würde. Seine Besuche wurden seit dem Verschwinden meiner Mami immer weniger und eskalierten meistens noch im Treppenhaus.

Am Nachmittag machten Mama und ich uns auf zu ihm nach Hause. Auf dem Weg bat Mama mich, lieb zu sein und mit meiner Cousine nicht zu streiten. Wir wüssten ja, wie zickig die war und der Klügere sollte immer nachgeben.

Bei Papa angekommen wurden wir herzlich begrüßt von meiner Cousine, meiner Oma und ihm. Alle schienen gut gelaunt und freuten sich auf das Essen, das Papa mit Oma vorbereitet hatte. Es duftete wunderbar aus der Küche, als wir in die Wohnung reinkamen. Wir legten unsere Jacken im Flur ab und zogen unsere Straßenschuhe aus. Mama gratulierte ihm mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange zu seinem Geburtstag. Sie übereichte ihm ein Geschenk, das er auf die Kommode legte, ohne es auszupacken.

Er ging in die Hocke, damit auch ich ihm gratulieren konnte und umarmte mich. Ich brachte aber keinen Ton raus, obwohl wir das so oft mit Mama geübt hatten.

Im Wohnzimmer stand eine weiße, mit Blumen verzierte Vase auf dem Tisch, mit Acht oder Neun rosa Rosen. Die Blüten waren fast alle noch geschlossen und zwei davon ließen ihren Kopf hängen.

Es war ein zwar kalter, aber sonniger Januartag und wir wollten draußen spielen. Meine Cousine hatte nämlich ein neues Fahrrad geschenkt bekommen und wollte es mir unbedingt zeigen. Mit Papa, dem gutgelaunten Geburtstagskind, gingen wir raus auf den Hof, als schon nach kurzer Zeit ein Streit zwischen uns Kindern entfachte. Ich wollte dieses Fahrrad auch mal fahren und meine Cousine erlaubte es nicht. Also fing ich an, zu weinen. Mein Vater wollte den Streit schlichten und meine Tränen trocknen und nahm meine Cousine ins Gebet, die dann aber heulend zu ihrer Oma rannte und sich beschwerte.

Wer genau wen danach umbringen wollte, war nicht klar. Ich konnte nur aus dem Schlafzimmer sehen, wie mein Vater seine Mutter mit einem Beil aus der Wohnung auf den Hof jagte, nachdem ein riesiger Streit im Flur des Familienhauses zwischen Mama und Oma eskalierte und wir in Sicherheit gebracht wurden, noch bevor Papa der Kragen platzte. Ausgesprochen hat es niemand, zumindest habe ich es nicht gehört, aber den Schuldschuh an der ruinierten Feier zog ich mir selbst an. Das ist die letzte Erinnerung an meine Familie väterlicherseits und damit verbinde ich bis heute - rosa Rosen.

"In Deutschland gibt es ganz viele verschiedene Sorten Eis, aber das darfst du niemandem erzählen, sonst wollen die alle mit.", waren Mamas Worte in dem langen Flur unserer Wohnung, als sie mir die Jacke anzog, um mich in den Kindergarten zu bringen. Monatelang hat sie mich auf die Abreise nach Deutschland vorbereitet und mir immer wieder die Vorzüge Europas aufgezählt. "Dort müssen wir keine Angst mehr vor diesem Monster haben.", mit diesen Worten versprach sie mir Seelenfrieden und eine angstfreie Zukunft. "In Deutschland ist es viel wärmer als hier, da wirst du nicht mehr krank sein.", versprach sie mir ein sorgenfreies Leben. Auch, dass ich dann mehr Spielsachen und schönere Kleider haben werde als meine doofe Cousine und ich nicht mehr weinen müsse.

Oh, wie freute ich mich mit fünf Jahren auf so viel verschiedene Eissorten, Sicherheit und Luxus. Auch Gesundheit durch besseres Klima war ein Argument. Denn ich war oft bei Ärzten oder sie bei uns, es gab viele Spritzen in den Po. Im Kindergarten war ich eher selten, dafür aber einmal in einem Sanatorium. Aber krank fühlte ich mich nie.

Nach langen und heimlichen Vorbereitungen war der Tag gekommen, an dem ich abgeholt wurde. Mamas alter Bekannter erwies ihr einen Gefallen, mich in Moskau vorrübergehend zu beherbergen, während sie die fehlenden Dokumente für die Auswanderung nach Deutschland fertig stellen lassen konnte.

Für meine Ausreise aus Kasachstan war eine Adoption zwingend notwendig. Denn mein Vater hätte niemals seine Erlaubnis zur Ausreise in die EU erteilt. Wie praktisch war doch in dieser Situation sein Alkoholismus.

Ihn abzufüllen und die Adoptionspapiere, getarnt als kurzfristige Ausreiseerlaubnis, unterschreiben zu lassen, mit der Bitte, uns einen Urlaub in Deutschland zu erlauben, um die Familie zu besuchen, war ein Kinderspiel. So wurde sie offiziell zu meiner Adoptivmutter, als ich bereits außer Landes war.

"Lass das Kind keinesfalls auch nur eine Sekunde aus den Augen, hast du gehört?!", mit diesen Worten vertraute Mama mich ihrem Bekannten an, der mich außer Landes brachte und für einige Monate in Moskau zusammen mit seiner Ehefrau und deren beiden erwachsenen Kindern behütete. Bevor sie mit Oma nach einiger Zeit nachreiste und mich weiter mitnahm nach Deutschland. Wo auch schon weit entfernte Verwandte uns erwarteten.

Auf meine Abreise und den Abschied bereitete sie mich lange vor und erzählte mir von den lieben Leuten, bei denen ich vorrübergehend leben würde und dass sie bald mit Oma nachkäme. Vielleicht auch deshalb fiel es mir am Tag der Abreise nicht sonderlich schwer mitzufahren, jedoch war sie meine Bezugsperson und ersetzte mir meine Mami.

An dem Abend ging alles schnell. Das Taxi wartete bereits vor dem Haus und wir fuhren zu dritt mit dem Fahrstuhl aus dem sechsten Stock in das Erdgeschoss. Meine Oma war, wie immer, übertrieben lieb. Wie immer, wenn Fremde dabei waren. Doch ihre Nervosität war deutlich zu spüren. Wir verabschiedeten uns im Flur des Hauses voneinander und ich fuhr schweren Herzens mit, auch wenn der Mann sehr nett war. Er nahm mich im Haus vor der angelehnten Tür fest an die Hand und wir gingen raus. Ich drehte mich noch einige Male um und sah Oma winken, aber wir gingen sehr schnell und sprangen in das Taxi, dessen Türen bereits offenstanden und der Motor lief, hinein. Und schon ging die Reise los. Beruhigt hatte ich mich schon nach kurzer Zeit. Da der Mann mich ablenkte und mir gut zusprach. Er erzählte mir von seiner Ehefrau und seinen beiden netten Kindern, die sich bereits auf meinen Besuch freuten und viele Geschenke für mich hätten. Mir nahm es ein bisschen den Trennungsschmerz, lenkte mich aber auch gleichzeitig davon ab, dass ich auf der Fahrt zum Flughafen nicht aus dem Fenster gucken durfte.

Aus dem Flugzeug schauten wir hinunter auf die Lichter der Stadt und er erzählte mir von dem Kreml, den er vorhatte, mit mir zu besuchen. Von dem leckeren Essen, das seine Frau kochte und den Kindern, die versprachen, mit mir zu spielen.

Diese Versprechen hielt er Alle ein, selbst das, dass die Zeit in Moskau vergehen würde wie im Fluge. Die Zeit verging nämlich wirklich wie im Flug. Ich war vernarrt in seine Frau und in den jüngeren Sohn. Alle vier behüteten mich, spielten den ganzen Tag mit mir und den Kreml haben wir zur schönsten Zeit des Jahres besucht. Zu Weihnachten. Es sah aus wie in einem Buch, überall Lichter und ich fühlte mich wie in einem Märchen. An jedem Tag meines Aufenthaltes wurde ich bespaßt. Oft musste der Sohn als Pferd herhalten und ich ritt auf ihm durch die Wohnung. Ich mochte ihn aber auch, weil er mich besonders lange und hochschaukelte auf dem Spielplatz. Deren Tochter spielte auch viel mit mir und ich durfte auch fast allen ihren Puppen die Haare schneiden.

Der Zirkel des Narzissten

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