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Prolog

Ein bleigrauer Himmel hing über einer vom Wüten des Meeres vielfach durchbrochenen Landzunge. Auf einer der verbliebenen Inseln duckten sich einige schäbige Wellblechhütten im Wind zusammen. Zwischen den rostigen Wänden, überzogen von Schichten ausgeblichener Farbe lag ein trauriger Schulhof. Aus den tiefhängenden Wolken breitete sich ein feiner Nieselregen wie ein dünnes fadenscheiniges Tuch über die verlorene Siedlung aus. Eine Schar brüllender Kinder umzingelte ein verängstigtes, schlankes etwa zehnjähriges Mädchen auf einem trostlosen Schulhof. Der Lauteste und Größte von ihnen zog an einem ihrer beiden schwarzen Zöpfe. Das Opfer neigte schräg das Gesicht und verzog es zu einer schmerzerfüllten Grimasse unter dem Gelächter der lachenden Gruppe.

„Sind bei ihr noch alle Tassen im Schrank? Gerade hat sie mir erzählt, einen Eiskaiser im Traum gesehen zu haben, der im Kampf gegen ein einäugiges Monster seine Königreiche verteidigt!“, verspottete sie eine Mitschülerin.

„Guck mal das Brandzeichen auf ihrer Backe - wie bei Rindern. Sie ist bestimmt auch ein Schlachtvieh!“, rief ein anderer, dominanter mittelgroßer Junge aus der zweiten Reihe.

Das letzte Wort stachelte die Gruppe weiter an. Alle johlten durcheinander „Blödes Schlachtvieh! Wertloses Stück Dreck!!“

Das schrille, immer aggressivere Triumphgeschrei der wilden Horde erfüllte die Luft.

Daraufhin schubsten und stießen die Schüler ihr Opfer im Kreis herum. Das arme, bedrängte Kind keuchte erschrocken und suchte panisch nach einem Ausweg. Aber es gab kein Entkommen. Überall auf ihrem Oberkörper spürte sie den unerträglichen, aggressiven Druck dieser verhassten Menge. Hilflose Wut stieg in ihr auf. Ein Sturm des Zorns tobte in ihrem Kopf. Das Blut pulsierte und kochte in ihren Adern. Sie verzweifelte an ihrer Machtlosigkeit – es waren einfach zu viele brutale Gegner auf einmal. Am liebsten wäre sie ans andere Ende der Welt geflohen, um sich dort in einem tiefen Loch zu verkriechen, weit weg von diesen blindwütigen Angreifern. In dem hoffnungslosen Versuch ihre Peiniger auf Abstand zu halten, ruderte sie ziellos mit ihren dünnen Armen.

Der Ring ihrer Widersacher schloss sich immer enger um sie, als sie unvermittelt einen Spalt zwischen zwei Jungen entdeckte. Durch das Schlupfloch leuchtete ein Sonnenstrahl so hell und verheißungsvoll wie die Fackel der Freiheitsstatue, die sie einmal in einem Bilderbuch bewundert hatte. Mit aller Kraft warf sie sich in diese Richtung, nur um nach wenigen taumelnden Schritten sofort wieder eingekesselt zu werden.

„Lasst mich los!“, schrie sie mit einer Mischung aus Furcht und brodelnder Empörung.

Ihre Tränen und das Flehen um Befreiung schien die Angriffslust der rasenden Mitschüler nur weiter anzufachen, so als würde ihre Schwäche eine tief verwurzelte Grausamkeit in ihnen erwecken. Wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe umringten die streitlustigen Kameraden sie noch enger und drohender als zuvor. Ein Mädchen der vorderen Reihe, das dem wehrlosen Kind gegenüberstand, reckte ihren Hals nach vorne und spuckte sie an. Ein Junge neben ihr tat es ihr nach, dann noch einer, bis schließlich alle in diese entwürdigende Attacke einfielen. Ein wahrer Speichelschauer prasselte auf sie nieder. Das gedemütigte Kind hielt ihre Arme schützend vor ihr Gesicht. Die widerliche klebrige Flüssigkeit rann zäh an ihrer Wange und ihren Ärmeln herab. Wie konnten sie nur so grausam zu ihr sein? Was hatte sie ihnen getan? Als der Spuckregen langsam nachließ, hob sie schüchtern den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte sie auf Erbarmen und glaubte schon, dass sich die Gruppe nach diesem Gewaltausbruch auflösen und einer anderen Beschäftigung zuwenden würde. Nichts dergleichen geschah. Stattdessen bahnte sich ein untersetzter Schüler aus einer anderen Klasse zielstrebig einen Weg zu ihr. Sie kannte ihn vom Sehen, hatte aber noch nie mit ihm geredet. Er war gelegentlich in Prügeleien verwickelt und zog zumeist den Kürzeren. Einmal verfolgten ihn die zwei stärksten Jungen der Schule. Damals hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und ihn sogar verteidigt, weil er ihr als der Schwächere leidtat. Seine wutentbrannten Rivalen stürzten sich sofort auf dieses freche kleine Mädchen, dass es wagte, sich ihnen in den Weg zu stellen. Die ganze Pause hindurch hatten diese bösartigen Burschen sie rücksichtslos über den Schulhof gehetzt. In letzter Sekunde war ihr die Flucht in eine Toilettenkabine gelungen, wo sie sich bis zum Unterrichtsbeginn erschöpft und zitternd versteckte.

Warum wollte denn dieser Mitschüler ausgerechnet jetzt zu ihr? Hatte er vor sich für ihre Hilfe zu revanchieren und sie jetzt zu verteidigen? Einen Augenblick lang schaute er sie durchdringend an. Eine angespannte Stille herrschte plötzlich in der Gruppe. Mit bebender Stimme wandte sie sich hoffnungsvoll an ihn.

„Sag ihnen bitte…“

Doch er ließ ihr keine Zeit ihren Satz zu beenden. Grob packte er das verzagte Mädchen an den Schultern und warf sie wortlos zu Boden. Beim Anblick der zu seinen Füßen liegenden, hilflosen Gestalt, die seiner Gewalt restlos ausgeliefert war, breitete sich ein grausamer Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Begeisterung brandete unter den übrigen Schülern auf.

„Bravo! Zeig´s ihr“

„Mach weiter! Sie hat es verdient!“

Endlich war es ihm gelungen sich aus der Masse zu erheben und seinerseits vergangene Demütigungen abzuschütteln. Er fühlte sich in diesem Augenblick als der größte Junge der Schule. Sichtlich genoss er dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit, dieser einmalige Augenblick, der ihm den Rang eines Anführers in den Augen der anderen verlieh. Er sonnte sich in seinem leicht errungenen Erfolg. Das Mädchen stemmte sich zitternd hoch, aber der Junge holte aus und schlug ihr kraftvoll ins Gesicht. Sie verlor erneut das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Dieses Mal prallte ihr Kopf auf den Beton. Ihr Schädel schmerzte dumpf und blendende Sterne wirbelten pulsierend vor ihren Augen. Heftige Übelkeit überwältigte sie von einer Sekunde auf die andere. Benommen krümmte sie sich auf dem nassen, schmutzigen Boden zusammen. Schutzlos der Willkür ihrer Feinde ausgesetzt, versuchte sie sich vor der Hölle um sich herum tief in ihr Innerstes zurückzuziehen, der einzige Schutzraum, der ihr noch geblieben war. Erneute Beleidigungen und wüstes Gejohle ertönten in dem entfesselten Mob um sie herum. Sekunden später hagelten von überall her Schläge auf sie ein. Wellen heißen Schmerzes loderten durch ihren ganzen Körper. Starkes Schwindelgefühl übermannte sie und, von Krämpfen geschüttelt, erbrach sie ihren gesamten Mageninhalt in einem gewaltigen Schwall. Angeekelt wandten sich die anderen Schüler von ihr ab und ließen sie einfach in ihrem Elend liegen. Mit flatternden Lidern blickte sie sich um. Durch den Schleier der Tränen verschwamm alles in ihrem Gesichtsfeld. Die schemenhaften Silhouetten der davonlaufenden kichernden Peiniger verblassten schließlich vor dem konturlosen Gebäude. Ihre Schmähungen verstummten und das Mädchen rollte bewusstlos zur Seite. Regenwasser, Schlamm und Blut vermengten sich zu schmierigen Flecken, die das sonderbare Mal auf ihrer Wange, ein bläulich schimmernder Eiskristall, überdeckten.

Hüter des Klimas

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