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Stellas Entdeckungen

Fiona mühte sich ohne Unterlass voranzukommen. Dank einer günstigen Strömung kam sie schneller vorwärts als erwartet. Erneut wanderte ihr Geist in den Gefilden der friedlichen Vergangenheit.

Mit Hilfe ihres Fernrohrs hatte Stella über die Verteilung der Ozeane und Kontinente auf der Erde sehr viel gelernt. Sie erforschte jeden Tag neue lebende Arten auf diesem Planeten. Nachdem sie sich die Sprachen der Tiere angeeignet hatte, war ihr Wunsch die vielen unterschiedlichen Mundarten der Menschen, nach jahrelanger Übung zu beherrschen, endlich Wirklichkeit geworden. Der Weg bis dahin war recht beschwerlich gewesen, denn ihr Teleskop zeigte zunächst nur Landflächen, Orte und Städte stark vergrößert. Sie wurde Zeugin des regen Treibens der Menschen auf öffentlichen Plätzen und in den Straßen. Manchmal hörte sie sie sogar miteinander reden. So fiel es ihr allerdings schwer sich die Laute der verschiedenen Sprachen dauerhaft einzuprägen. Es kam dennoch der Tag, an dem sie beim Einstellen ihres Fernrohrs auf ein Dorf des nordamerikanischen Kontinents eine falsche Bewegung machte. Zuerst bot sich ihrem Auge nichts als eine braune Steinwand dar. Doch nach einer Weile geschah ein Wunder. Das Objektiv präsentierte ihr einen Klassenraum mit einem Lehrer, der für seine Schüler Buchstaben an die Tafel schrieb. Stella betrachtete aufmerksam, wie er die Schriftzeichen kunstvoll und sorgfältig aneinanderreihte. Mit ihrem Stab zauberte sie für sich selbst einen Eisstift und eine Tafel und so begann sie ebenfalls zu schreiben und auch wie die Menschen zu sprechen. Von nun an enthüllte ihr das Teleskop alle Geheimisse von abertausenden Bildungsstätten der Welt. Nichts mehr konnte sie daran hindern ihren unstillbaren Wissensdurst zu befriedigen. Stella ließ Fiona an ihren vielen Erkenntnissen über die Erde und ihre Bewohner teilhaben. Jeden Tag bekam der Schwan somit auch Sprach- und Erdkundeunterricht. Da sie beide mit diesem Planeten tiefverwurzelt waren, legte Stella großen Wert darauf, Fiona alles was sie wusste, beizubringen.

„Komm! Ich zeige dir die Heimat", bot sie ihr oft an. Der Schwan nickte dann immer begeistert und Stella hob sie vor ihrem Fernrohr hoch.

Zu ihrer großen Freude hatte Stella festgestellt, dass Harald und sein Volk die Sprachen der Tiere und Menschen ebenfalls studiert hatten.

Nachdem die Eisprinzessin den Eiskaiser aus der unmittelbaren Nähe gesehen hatte, dachte sie nur noch an ihn. Sie beobachtete entsetzt wie Helena, Celesta, die legitime Wärmekönigin, mit ihrem ganzen Hof festnahm und sich dann selbst zur neuen Herrscherin ernannte. Von da an überschlugen sich die Ereignisse in atemberaubendem Tempo. Helena und ihre Soldaten brachten überall auf der Welt Haralds Gletscher und Eiskönigreiche zum Schmelzen. Stella und Fiona hatten seine letzten Abenteuer auf der Erde mit größter Anspannung verfolgt. Die beiden Freundinnen bewunderten den Mut des Eiskaisers und seine Beharrlichkeit angesichts der immer größer werdenden Hindernisse, die Helena ihm in den Weg legte. Kurz vor Haralds Aufbruch in den Himalaya zur Rettung eines Dorfes, das die Eisschmelze beinahe überflutet hätte, war Stella der überirdische Glanz von Haralds Zepter aufgefallen. Trotz der Entfernung, die ihren Planeten von der Erde trennte, hatte sie das gleißende Licht fast geblendet. Von dem Zeitpunkt an übertrug ihr Teleskop nur noch Bilder von Harald, seinem Ringen um den Schutz des Klimas und die Aufrechterhaltung seiner Königreiche. Ernsthaft besorgt um sein Wohlergehen war Stella oft kurz davor ihm zu Hilfe zu eilen. Doch jedes Mal unmittelbar vor der Abfahrt erfasste sie eine unbeschreibliche Angst und sie verwarf diesen Impuls. Sie stellte sich vor, wie befremdet er reagieren mochte, schon allein beim Anblick ihrer Person. Stammelnd würde sie ihm ihre Unterstützung im Kampf gegen Helena anbieten und er würde vielleicht so tun, als wäre nichts passiert und sie höflich zurückweisen. Diese Vorstellung war ihr unerträglich. Sie fühlte sich nicht in der Lage, eine solche Enttäuschung zu verwinden. Stella ahnte keineswegs, dass der Eiskaiser sich in seinem tiefsten Inneren nach einer Eisprinzessin sehnte und dass, sie ihm sogar einmal im Traum erschienen war. Doch als die immer angriffslustigere Hitzekönigin auf einen Schlag mit ihrem Schwarm von Soldaten die Antarktis binnen eines einzigen Tages zum Schmelzen brachte, hatte sie vor Entsetzen fast die Besinnung verloren. Vor dem Hintergrund dieser grässlichen Katastrophe erschien ihre Furcht vor einer möglichen Zurückweisung Haralds nur noch lächerlich. Es ging jetzt um Leben oder Tod. Der Kaiser und seine Trolle, Jotunn, Risi und Erik, standen aneinander geklammert auf einer schwimmenden Eisscholle! Das war zu viel. Stella fühlte sich elend und kraftlos.

„Was hast du?“ hatte Fiona panisch gefragt, als die Prinzessin bleich und zitternd auf ihren Stuhl sank und mit weit aufgerissenen Augen ins Leere starrte.

„Sie werden sterben!“, seufzte sie atemlos. Beide Freundinnen verharrten einen Augenblick in bedrückter Stille. Mit einem Ruck erhob sich die Prinzessin. Unversehens fiel alle Verzagtheit von ihr ab wie ein altes Kleid.

„Lass uns sofort aufbrechen. Ich bin bereit, alles zu riskieren, um dem Kaiser und seinen Trollen zu helfen.“

Mit einem Satz waren Stella und der Schwan auf ihre Eiswolke gesprungen. Wie eine phantastische Sternschnuppe flogen sie durch das Weltall, durchstießen den Himmel und konnten in letzter Sekunde Harald samt seinen Freunden den sicheren Tod ersparen.

Während ihrer Reise erklärte Fiona der Eisprinzessin, warum auch sie unbedingt dem Eiskaiser und seinen Trollen helfen wollte.

„Ich wurde auf der Erde geboren. Obwohl ich nur wenige, bruchstückhafte Erinnerungen an jenen Planeten habe, denke ich oft an die zauberhaften Landschaften, die ich durch dein Teleskop gesehen habe. Es ist meine Heimat. Zwar sind meine Eltern und Geschwister dort wegen der um sich greifenden Umweltverschmutzung verstorben, aber nachdem du mich gerettet hast, möchte ich für die Welt, die auch die meine ist, etwas Gutes vollbringen.“

Stella hörte ihr zu, wenngleich ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf die immer grösser vor ihr anwachsende rotierende Erdkugel gerichtet blieb. Ihre Hände umklammerten das Steuerrad, das sich mitten auf der Wolke erhob.

„Da es keinen einzigen Gletscher und kein Eis mehr auf der Erde gibt, werden Harald und seine Trolle den Planeten verlassen müssen. Es ist überall deutlich wärmer geworden. Wenn ich mich dort zu lange aufhalte, werde auch ich mich wegen der anhaltenden Hitze auflösen. Nur wenn es uns gelingt den Eiskristall aus dem Zepter des Eiskaisers auf der Erde zu bewahren, können wir überhaupt die Eispanzer der Polkappen und den ewigen Schnee auf die Berge zurückbringen. Einzig und allein dieser Eiskristall vermag die verlorene Harmonie der Jahreszeiten wiederherzustellen. Das Leben würde überall wieder in den schillerndsten Farben erblühen. Obgleich unsere Chancen für die Umsetzung unseres waghalsigen Vorhabens sehr gering sind, müssen wir es wenigstens versuchen.“

Die Eisprinzessin steuerte ihre Eiswolke im schnellen Tempo auf die Erde zu. Myriaden von Sternen leuchteten auf der dunklen Leinwand des Alls.

Der Schwan schaute sie mit glänzenden Augen an.

„Stella, ich bleibe auf der Erde, koste es, was es wolle. Ich werde den Eiskristall von Haralds Zepter zwischen meinen Flügeln wie ein Kleinod hüten.“

Ein freudiges Lächeln trat auf Stellas strahlendes Gesicht.

„Deine einzigartige Krone, Haralds Zepter und mein Teleskop scheinen miteinander verbunden zu sein. Das erklärt, warum mein Fernrohr in den letzten Monaten, als Helena die Herrschaft des Eiskaisers zunehmend gefährdete, nur noch Bilder von ihm und seinen Gefährten zeigte. Ein glückliches Band des Schicksals hat uns alle zueinander gebracht. Harald, du und ich gehören zusammen und nur meine Angst vor der Zurückweisung meiner Liebe, die ich für den Eiskaiser empfinde, hat mich von ihm ferngehalten. Du musst ein Mädchen mit dem Abbild eines Eiskristalls auf ihrer Wange suchen. Sie ist die Auserwählte zur Rettung der Erde. Auf deiner Mission wirst du auch einen Freund kennenlernen, der dir beistehen wird.“

Fiona sah sie verblüfft an.

„Woher weißt du das?“

„Als du gestern neben meinem Fernrohr standest, sind mir das Mädchen und dein zukünftiger Freund mit dir in ihrer Mitte erschienen. Ich habe erstmal geglaubt es handle sich um ein Hirngespinst, eine absurde Fantasterei. Aber nach der äußersten Notlage, in die der Eiskaiser heute geraten ist, fällt es mir jetzt leichter dieses Bild richtig zu deuten.“

„Das klingt ja wie in einem Märchen“, fügte der Schwan hinzu.

Stella hob eine schimmernde Schatulle, die am Fuß des Steuerrads lag. Auf ihrem Deckel war ein großer glitzernder Kristall abgebildet.

„Dieses Kästchen ist unzerstörbar. Ich habe es aus dem Kern eines Kometen geschmiedet für die Aufbewahrung von Haralds Eiskristall. Der Schatz, der die Welt retten soll, wird unter deinen Federn verborgen bleiben. Schütze ihn vor Wind und Flut, Hitze und Glut, bis du dieses Mädchen findest.“

Stella durchquerte die oberen Schichten der Atmosphäre in Windeseile. Dabei vermied sie um Haaresbreite einen Zusammenstoß mit einem Satelliten, dessen Umlaufbahn ihren Kurs kreuzte. Die aufreißende Wolkendecke gab unvermittelt einen spektakulären Ausblick auf die Ozeane frei. Doch ehe sie beide die Aussicht auch nur für einen kurzen Moment hätten genießen können, wirbelte sie ein ungestümer Wind in alle Himmelsrichtungen. Stella hielt Fiona mit einem Arm fest, krallte ihre Finger um das Steuerrad der Eiswolke mit einer Hand und sicherte die Schatulle zwischen ihren Beinen. Unter ihnen erhoben sich finstere, bedrohliche Monsterwellen. Schäumende Wasserungeheuer rasten auf die Küsten zu und überschwemmten weite Teile des amerikanischen Kontinents. Die tosenden und gewaltigen Wassermassen fraßen sich mit voller Wucht tief in das Festland und begruben ganze Städte unter sich. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen schallte bis zu Stellas Eiswolke. Die ganze Erde schien sich in einem einzigen Todesschrei zu verkrampfen. Beide konnten das namenlose Grauen, welches sich hier direkt unter ihnen entfaltete, kaum ertragen. Tränen traten in ihre Augen und verschleierten ihre Blicke. Bei ihrer wilden Achterbahnfahrt geriet, nun unversehens die leere bergige Landschaft der Antarktis in ihr Sichtfeld. Deren kahle, eisfreie Oberfläche gesprenkelt mit rauchenden Vulkanen lieferte eine erste Erklärung für die von Helena ausgelöste weltumspannende Katastrophe.


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