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Round 15

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Sam hat kaum geschlafen, dennoch steht sie mit Precious an der Hand am nächsten Vormittag im Krankenhaus. Jean hat sie bei Matt in der Werkstatt gelassen. Sie hat im Augenblick genug mit sich selber und Precious zu tun. Jean würde eh noch nicht verstehen was sie hier macht und was auf sie zukommen würde. Precious hingegen weiß ganz genau welcher Weg nun vor ihr liegt.

Es war eine unausgesprochene Abmachung, als Precious am Abend zuvor mit ihren Schlafsachen bei Sam im Schlafzimmer stand und nach einem kurzen Blick zu ihrer Mutter ins Bett kraxelte. Sam schaute noch einmal nach Jean, kroch dann aber auch ins Bett, nahm Precious in den Arm und schlief irgendwann mit ihr ein. Zwar wachte sie nach wenigen Minuten Schlaf immer wieder auf, aber die Maus schlief wenigstens. Mehr wollte sie gar nicht.

Jetzt steht sie aber mit der Kleinen vor Neves Zimmer. Sam hat es gestern nicht mehr geschafft dieses zu betreten. Sie floh irgendwann vor diesem Anblick und den Schmerzen die ihr dadurch bereitet wurden. Ihr ist also alles, was nun auf sie zukommt, ebenso fremd wie Precious.

»Bereit?«, fragt sie ihre Tochter leise, schaut zu ihr hinunter und drückt ganz vorsichtig ihre Hand. Der Lockenkopf schüttelt sich heftig.

»Ok, dann warten wir noch etwas.« Sam will gerade umdrehen und sich noch ein paar Minuten auf die Stühle setzen, als Precious sie davon abhält. Eisern hält sie sich an ihrer Hand fest, umgreift mit der anderen den Griff und schiebt mit aller Kraft die Tür etwas auf.

Sam zieht die Luft scharf ein, als sie das Beatmungsgerät arbeiten hört. Schon damals nach der Stromattacke war ihr dieses Geräusch zuwider. Niemals hätte sie geglaubt dieses jemals wieder hören zu müssen.

Precious öffnet die Tür ein weiteres Stück. Abrupt bleibt Sam stehen. Ihre Augen haften sich an dieses grauenvolle Bild, das ihr auf ein Neues geboten wird.

Regungslos und an unzähligen Maschinen angeschlossen, liegt Neve im Bett. Irgendwie hoffte Sam, dass Neve in der Zwischenzeit aufgewacht ist und sie nun willkommen heißt. Aber die Realität sieht wieder einmal anders aus. Nichts hat sich geändert. So wie Sam sie gestern verlassen hat, liegt Neve noch immer dort. Fast stramm wie ein Zinnsoldat liegt ihr abgemagerter Körper im Bett und ist mit einer dünnen Decke zugedeckt. Links neben ihr steht ein Perfusor mit insgesamt sechs verschiedenen Medikamenten. Rechts vom Bett steht das Gerät für die Vitalparameter, daneben dieses … dieses … Monster von Herz-Lungen-Maschine. Das Ding, das Neves Körper am Leben hält … obwohl Neve das in diesem Ausmaß niemals wollte. Drei verschiedene Monitore sprühen ihre elektronischen Wellen durch das Zimmer und überwachen Neves Blutdruck, Körpertemperatur und Atmung. Unzählige Digitalanzeigen präsentieren irgendwelche Ziffern mit denen Sam nichts anfangen kann.

Sams Körper bewegt sich keinen Zentimeter vom Fleck, während Precious mutig auf das Bett ihrer Mutter zugeht. Als sie allerdings einen Widerstand an ihrer Hand spüren kann, bleibt sie stehen und blickt zu Sam zurück. Deren Augen sind vor Schock weit geöffnet. Bestürzt über diesen Anblick, starrt Sam weiterhin zu dem Bett in dem ihre Frau liegt und von diesem kleinen Besuch nicht das Geringste mitbekommt.

Neves Mund ist durch einen dicken Schlauch fast vollständig verdeckt. Nichts lässt erahnen was Neve mit diesem Mund alles machen kann. Alles Schöne und alles Üble, nichts. Jetzt scheint alles stehen geblieben zu sein. Nichts entspricht mehr der Normalität. Selbst die unzähligen Kabel und Schläuche, die auf irgendeine Weise mit Neves Körper verbunden sind, sind nicht normal. Nichts ist an diesem Bild normal, gar nichts.

»Mum?«, flüstert Precious vorsichtig.

»Mum!« Erst als sie zaghaft an Sams Hand rüttelt, weiß die Südländerin, dass sie gemeint ist. Blitzschnell blinzelt sie ihren Schock weg, lässt Precious’ Hand los, dreht sich um und schließt die Tür. Mit dem Gesicht zur Tür versteckt, atmet sie noch ein paar Mal tief durch, bevor sie sich in das Zimmer zurückdreht. Sie hofft dadurch den Anblick besser verarbeiten zu können. Als sie ihre Frau aber wieder dort liegen sieht, überfährt sie ein neuer Schock. Sie muss sich zusammenreißen um nicht in Tränen auszubrechen.

Precious geht hingegen mit sicheren Schritten an das Bett. Sie greift nach Neves Hand und nimmt sie in ihre eigene.

»Hallo Mummy«, flüstert sie vorsichtig.

»Sie kann dich nicht hören«, reißt Sam Precious' hoffnungsvolle Blase mit kalter Stimme auseinander. Was ist los mit ihr? Sie kann doch nicht einfach … .

Precious blickt kurz zu ihr zurück und lässt daraufhin Neves Hand los. Sie geht ein paar Schritte rückwärts und setzt sich auf den dortigen Stuhl. Ihre Augen ruhen auf ihrer Mutter, die vor ihr im Bett liegt und nichts von alldem mitbekommt.

Nur langsam wagt sich Sam an das Bett heran. Sie wollte ihre Frau nie wieder in einem Krankenhausbett sehen. Und jetzt? Jetzt ist alles sogar noch viel schlimmer, als sie sich das jemals hätte vorstellen können. Ihre Frau liegt dort mit offenem Brustkorb und ist mit einer Maschine verbunden, die ihren Herzschlag nachahmt. In ihrem Hals steckt ein bestialischer Plastikschlauch, nur um der Lunge Luft zuzuführen. Nadeln über Nadeln verabreichen ihr irgendwelche Medikamente, Geräte messen irgendwelche Ströme oder sonstiges. Das was da liegt ist doch kein Mensch. Das ist eine Ansammlung von unterschiedlichen Plastiksorten in ebenso unterschiedlichen Farben und Funktionen. Und für diesen Zustand ist nur Sam alleine verantwortlich. Sie hat ihre Frau in dieses Bett gebracht, sonst niemand. Neve wollte diesen Zustand nicht. Sie wollte nicht, dass Sam geschockt an ihrem Bett steht und um sie bangen muss. Sie wollte auch nicht, dass Precious sie so sieht. Neve hat soweit vorausgedacht und im Sinne ihrer Familie entschieden. Und Sam?

Neve hatte Recht. Sam ist ein Egoist. Ein verdammter Egoist.

Wütend über sich selbst, tritt Sam von der anderen Seite an das Bett heran. Sie nimmt ebenfalls Neves Hand in ihre. Kurzzeitig erschrickt sie. Neve fühlt sich so kalt an. Sofort blickt sie zu einem der Monitore. Neves Körpertemperatur ist etwas niedriger als normal, aber nicht besorgniserregend.

Sam blickt zu ihrer Frau zurück. Sie schluckt. Langsam beugt sie sich hinunter. Wie damals im New Yorker Krankenhaus gleitet sie an Neves Ohr. Als sie den Duft ihrer Frau riechen kann, überfällt sie ein wohliger Schauer.

»Es tut mir leid, Neve.« Sie schluckt ein weiteres Mal.

»Es tut mir leid, dass du jetzt hier liegst. Ich hätte dich gehen lassen sollen, aber … .« Benommen von der Situation und ihren eigenen Worten, schaut sie flüchtig über den Tubus hinweg zu Precious, die noch immer auf dem Stuhl sitzt und ihre Mutter regungslos anschaut.

»Aber ich konnte das nicht. Ich konnte es einfach nicht.« Alleine der Gedanke daran, dass sie ohne Neve hätte sein müssen, treibt ihr die Tränen in die Augen. Ihr ganzer Körper beginnt zu kribbeln. Eine Gänsehaut kriecht ihren Rücken hinauf, Übelkeit steigt auf.

Gegen die verräterischen Tränen ankämpfend, vergräbt Sam ihr Gesicht in Neves Halsbeuge. Sehnsüchtig atmet sie den Duft ihrer Frau ein. Sie konnte sie nicht gehen lassen, unter keinen Umständen. Niemals!

»Was ist das, Mommy?« Precious’ Stimme reißt Sam in die kalte Gegenwart zurück. Schniefend nimmt sie den Kopf hoch und blickt hinter sich. Precious steht einen Schritt hinter ihr und schaut sich den Perfusor an. Angestrengt schluckt sie. Sie schaut zu Neve zurück und streicht ihr sanft über die Wange.

»Das nennt man einen Perfusor. Es ist eine Spritzenpumpe, die verschiedene Medikamente in Mummys Körper pumpt.«

»Und welches Medikament ist das da?« Precious’ kleine Hand zeigt auf eine der Spritzen. Ohne richtig hingesehen zu haben, antwortet Sam »Ich weiß es nicht«.

»Und das da?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und das da?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und das da?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und das da?«

»Ich weiß es nicht.«

Precious bohrt ihrer Mutter unermüdlich und erbarmungslos diese Fragen zwischen die Rippen, die sie beim besten Willen nicht beantworten kann. Und weil sie das nicht kann, und weil sie für Neves Zustand verantwortlich ist, spürt Sam Wut in sich aufsteigen.

Angestrengt blickt sie zu Neve hinunter. Precious geht währenddessen um das Bett herum. Anstatt sich auf den Stuhl zu setzen, bleibt sie vor den Maschinen stehen.

»Und was ist das da für eine komische Maschine?«

»Ich weiß es nicht, Precious.« Nervosität steigt in Sam auf.

»Was steht da auf dem Bildschirm?«

»Keine Ahnung.« Sam spürt, dass ein merkwürdiges kribbeln in ihr aufsteigt.

»Was dreht sich da so komisch?«

»Woher soll ich das wissen?« Sams Stimme wird gereizter.

»Was ist denn das rote da?«

»Precious!« Mit einem Mal schreit Sam so laut durch das Zimmer, dass sie sich selbst davor ängstigt. Erschrocken hebt sie den Kopf und schaut zu ihrer Tochter hinüber. Die steht mit ausgestrecktem Finger vor eine der Maschinen und schaut ihre Mutter mit großen Augen eingeschüchtert an. Als Sam erkennen kann, dass Tränen in Precious aufsteigen, wird ihr bewusst was sie getan hat.

»Oh Gott Precious, es tut mir leid. Entschuldige bitte.« Sofort eilt Sam um das Bett herum und zieht Precious an sich.

»Entschuldige, Schatz. Ich … ich bin einfach nur kaputt. Meine Nerven sind etwas angespannt. Ich wollte dich nicht anschreien. Entschuldige bitte.«

»Ist schon gut.« Precious zögert keine Sekunde. Bestätigend zu ihrer Aussage umarmt sie ihre Mutter fest. Durch Precious' Bewegung weiß Sam, dass sie zu Neve schaut.

»Und Mummy schläft wirklich ganz tief und fest? So fest wie sie neulich bei mir im Bett geschlafen hat?« Sam schnauft angestrengt.

»Fester, viel viel fester. Nur die Ärzte können sie wecken. Aber das geht im Augenblick noch nicht. Das habe ich dir doch erklärt.«

»Ja«, nickt Precious.

Sam geht aus der Hocke, streicht Precious über den Haufen Haare und zeigt auf die Maschinen.

»Soll ich dir erklären was ich weiß? Auch wenn das nicht wirklich viel ist?« Freudig nickt Precious wild mit dem Kopf und folgt wissbegierig dem Finger ihrer Mutter. Dieser wandert etwas planlos über den kleinen Bildschirm.

»Also, die Zahlen zeigen an, wie hoch oder niedrig Mummys Körpertemperatur ist. Im Moment ist sie zu niedrig, aber das ist nicht schlimm. Das da ist der Blutdruck.« Sams Hand wandert zur anderen Maschine. Neugierig folgt ihr Precious.

»Und das ist das Beatmungsgerät. Es pumpt Luft in Mummys Lungen, weil sie das im Augenblick selber nicht kann. Das Atmen übernimmt also die Maschine für sie.« Mit fragendem Blick schaut Precious zu Sam hoch.

»Das verstehe ich nicht.« Sam setzt sich auf den Stuhl und zieht Precious zu sich.

»Das hier …«, sie holt tief Luft und atmet diese danach wieder aus »ist das atmen, das weißt du ja.« Bestätigend nickt Precious und macht ihrer Mutter die Atmung nach.

»Super, Mummy kann das im Moment allerdings von alleine nicht machen. Deswegen macht das die Maschine für sie. Es gibt auch noch Maschinen wo man die Atmung ganz gut beobachten kann.«

»Echt? Sieht man dann die Luft? So wie im Winter, wenn man warme Luft in die kalte pustet?« Sam muss bei so viel Neugierde tatsächlich grinsen.

»Nein Schatz, so sieht man das nicht. Aber es gibt Maschinen wo ein schwarzer Faltenbalg zu sehen ist, der bei jedem aus oder einatmen entweder rauf oder runter geht. So kann man die Atmung sehr gut nachverfolgen. Diese Maschine …« Sam zeigt flüchtig hinter sich »ist praktisch genau dasselbe, nur etwas anders aufgebaut. Dennoch hilft es Mummy beim Atmen.« Neugierig blickt Precious zu Neve. Sie verengt die Augen und schaut dann bockig zu Sam zurück.

»Hat Mummy deswegen diesen Schlauch im Mund?« Sam grinst. Liebevoll stupst sie ihrer Maus auf die Nase.

»Du bist unfassbar schlau. Richtig Schatz, genau richtig.« Sie steht wieder vom Stuhl auf und tritt an die Herz-Lungen-Maschine.

»Tja …«, murmelt sie hilflos und blickt über dieses Monstrum an Technik »so ganz genau weiß ich auch nicht wie das funktioniert. Lass mich kurz überlegen.« Precious wird so still, dass man sogar die Mäuse husten hören könnte, falls es im Krankenhaus welche geben sollte.

»Ok, also Mummys Blut wird durch den Schlauch hier aus ihrem Körper in die Maschine gepumpt.« Sofort reißt Precious ihren Kopf hoch.

»Was?«, quiekt sie erschrocken.

»Hör mir zu«, lächelt Sam zuversichtlich.

»Mummys Blut wird hier hineingepumpt und sofern ich die Technik richtig verstehe, wird das Blut dort gereinigt. Dort hinten wird aus dem Blut dann der verbrauchte Sauerstoff rausgenommen und frischer Sauerstoff wieder dazu gepumpt. Und wenn das alles fertig ist, pumpt die Maschine das Blut wieder in Mummys Körper zurück. Das geht die ganze Zeit so. Ununterbrochen. Ein Kreislauf, verstehst du? Deswegen redet man auch oft davon, dass der Kreislauf eines Menschen nicht stimmt, weil dann das Blut nicht gleichmäßig durch den Körper gepumpt wird. Die Maschine macht das aber so gut und präzise, dass Mummy nichts passieren kann.« Mit großen Augen schaut Precious die monströse Maschine an.

»Das da ist also Mummys Blut?« Sie zeigt auf einen Schlauch, in dem sich ein roter Rinnsal bewegt. Bei dem Gedanken daran, dass das tatsächlich Neves Blut ist, wird Sam für einen kurzen Augenblick anders.

»Ja Schatz, das ist Mummys Blut.« Gefangen von diesem schon fast abartigen Gedanken, setzt sich Sam auf den Stuhl zurück und zieht Precious auf ihren Schoß.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt die kleine Maus. Sam schüttelt den Kopf.

»Nichts, wir werden einfach nur hier sitzen und Mummy beim schlafen zusehen, ok?« Precious scheint ein klein wenig zu überlegen, bis ein kurzes »Ok« von ihr kommt. Dann schlingt sie ihre Arme um Sams Hals, legt ihren Kopf gegen den ihrer Mutter und schaut zu Neve in das Bett.

***

»Jessica?«

»Hm?« Sam rutscht etwas bequemer in den Stuhl der ihr in den letzten Tagen so vertraut geworden ist. Die Arme und Hände hat sie auf der Matratze ablegt und ihr Kinn dort platziert. Seit einer Stunde betrachtet sie ihre regungslose Frau.

Tag für Tag wechseln sich die Freunde an Neves Seite ab. Außer Sam, sie ist jeden Tag hier. Manchmal nimmt sie Precious mit, manchmal kommt sie alleine, nur um kurz danach einen ihrer Freunde zu empfangen. Heute ist Jessica an ihrer Seite. Auch wenn es an sich nichts Aufregendes zutun gibt, sitzt Jessica in diesem Zimmer und leistet ihrer Freundin Gesellschaft.

»Wenn du Neves Patientenverfügung gefälscht hast, muss dir doch der Vermerk mit dem Vormund aufgefallen sein. Ich will dir damit jetzt nichts unterstellen oder so, aber … .«

»Nein Sam, ich hatte die Verfügung gar nicht gesehen. Ich hatte sie das erste Mal in der Hand, als ich sie in den Briefumschlag geschoben habe.« Sam hebt den Blick und schaut ihre Freundin fragend an.

»Ich bin einfach beim Arzt reingeplatzt und habe ihm sofort gesagt was ich von ihm erwarte. Nur mit Widerwillen änderte er gewisse Passagen ab und überreichte mir danach die Verfügung. Ich habe also gar nicht gesehen wer als Vormund eingetragen war.« Nachdenklich blickt sie zu der Zeitschrift auf ihrem Schoß hinunter. Irgendwie wütend schlägt sie eine Seite um. Es hört sich fast an, als wenn sie die Seite herausreißen würde. Sie schnauft laut aus.

»Ehrlich gesagt, war ich geschockt, als die Krankenschwester mitteilte, dass Neve mich als Vormund angab. Nicht weil du mir im ersten Augenblick gerne den Kopf abgerissen hättest«, lächelnd schaut Jessica zu ihrer Freundin hinüber »sondern weil ich niemals diese Verantwortung für Neve übernehmen wollte. Sie hat mich damit tatsächlich zu etwas gezwungen was ich in meinem ganzen Leben nicht freiwillig angenommen hätte.«

»Warum nicht?« Wehmütig blickt Jessica zu Neve hinüber.

»Weil ich sie eigentlich genauso wenig gehen lassen kann wie ihr. Aber Neve traut mir nun mal zu, dass ich irgendwo noch ein Stück weit genug Verstand habe und ihren Wunsch respektiere.« Jessica lacht schnippisch.

»Keine Ahnung wie sie auf diesen Dünnpfiff kommt, aber ich habe jetzt leider Gottes die Arschkarte gezogen.« Schnaufend schlägt sie die Zeitschrift zu. Ihr Blick verweilt auf ihrer regungslosen Freundin.

Sam steht vom Stuhl auf, geht um das Bett herum und bleibt vor Jessica stehen. Nachdenklich schaut sie zu ihr hinunter.

»Wenn …«, sie schluckt hart »sollte mit Neve in der Zwischenzeit irgendetwas passieren was die Ärzte nicht beeinflussen können und ihr nur schaden würde, würdest du sie dann gehen lassen?« Fassungslos reißt Jessica ihren Kopf hoch. Entsetzt starrt sie Sam an.

»Die Frage ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, krächzt sie leise. Hektisch blickt sie zwischen Sam und Neve hin und her.

»Sam, ich kann doch nicht einfach … . Du würdest … . Ich … .«

»Denk dabei nicht an mich, vergiss mich bei dieser Entscheidung. Denke dabei nur an Neve und sonst niemanden. Würdest du sie gehen lassen, sollte sie leiden?« Wirr schweifen Jessicas Augen zu ihrer Freundin hinüber. Sie schluckt schwer, bewegt ihren Kopf dann allerdings zu einem kaum sichtbaren Nicken.

»Ich würde den Rest meines Lebens nicht mehr froh werden und an dieser Entscheidung zerbrechen, aber Neve erwartet das von mir. Sie hat mich nicht aus einer Laune heraus ausgewählt. Sie wusste was sie tat. Das weiß sie immer.«

»Ja«, lächelt Sam »auch wenn wir ihre Entscheidungen nicht immer gleich verstehen und nachvollziehen können.«

»Sie ist einfach zu schlau für uns«, lacht Jessica, obwohl sie sich keineswegs danach fühlt. Erst recht nicht, als Sams Hand plötzlich nach ihrem Kinn greift. Jessica zuckt erschrocken, richtet ihren Blick dann aber nach oben. Sam beugt sich hinab und gleitet an ihr Ohr.

»Danke. Danke, dass du diese Entscheidung treffen würdest. Ich liebe dich.« Sams hauchende Stimme lässt Jessica eine Gänsehaut über den Rücken preschen. Die gesprochenen Worte benebeln ihr Gehirn. Das kann nicht Sams Ernst sein. Was ist nur in diese Frau gefahren?

Jessica will gerade antworten, obwohl sie glaubt ihr Verstand würde in diesem Augenblick Urlaub auf Maui machen, als sie Sams Lippen auf ihren spüren kann. Benommen nimmt sie das Gefühl auf, welches Sam ihr übermittelt, bis die junge Frau sie vertraut anlächelt.

»Ich hole uns etwas von der Brühe die sich Kaffee schimpft.« Perplex starrt Jessica Sam nach, als sie das Zimmer verlässt und am Tresen der Intensivstation vorbeischlendert. Benommen schaut sie zu Neve zurück. Zögernd steht sie auf und tritt an das Bett.

»Wenn …«, sie schluckt schwer »wenn du nicht so hilf- und wehrlos daliegen würdest, hätte ich dir jetzt eine Ohrfeige verpasst die sich gewaschen hat«, krächzt sie mit Tränenuntersetzter Stimme.

»Wie kannst du nur glauben, dass ich dich gehen lassen könnte? Ich könnte dich dafür echt umbringen«, lacht sie und setzt sich auf die Bettkante.

»Du blöde Kuh hast mir einen unfassbar schweren Sack an Verantwortung überlassen. Verrätst du mir wie ich das packen soll?« Als wenn Neve ihr antworten will, zuckt eine Sekunde später einer ihrer Finger. Jessicas Herz macht im ersten Augenblick einen kleinen Freudensprung. Allerdings weiß sie, dass Neve nicht geantwortet oder reagiert hat. Lediglich ihre Nerven und Muskeln lassen ihren Körper hin und wieder aufleben. Eine Tatsache die unheimlich kompliziert war Precious zu erklären. Wie kann sich ihre Mutter bewegen, wenn sie doch eigentlich tief und fest schläft?

***

Schritte erreichen Sams Gehör. Sie ignoriert es. Mit ihren Gedanken alleine gelassen, blickt sie durch die Scheibe zu Neve in das Zimmer. Die ganzen Geräte um das Bett ihrer Frau, lassen sie zum wiederholten Male schaudern.

»Misses Stewart-Sanchez?« Sam braucht ein paar Sekunden, bis sie registriert, dass sie angesprochen wurde. Auch ihr fällt der falsche Nachname manchmal noch etwas schwer. Sanchez, sie heißt Rodriguez …, eigentlich.

Erschöpft aber bei klarem Verstand, dreht sich Sam um. Ihre Augen erfassen eine Frau ihres Alters. Lange, wellige, schwarze Haare. Neben ihr steht eine super Blondine, die fast Jills Zwillingsschwester sein könnte. Lediglich ihrem Vorbau wurde nicht ganz so künstlich nachgeholfen. Der scheint auf natürliche Weise so ausgebaut zu sein.

»Ja?« Fragend schaut Sam die schwarzhaarige Frau an, die ihr gleich darauf die Hand reicht.

»Ich bin Special Agent Havering.« Mit einer kurzen Geste lenkt sie Sams Aufmerksamkeit auf die Blondine.

»Das ist meine Partnerin Miss McCarthy. Wir würden gerne mit Ihnen über den Fall Ihrer Frau sprechen.« Die Schwarzhaarige blickt flüchtig in das Zimmer, dann zu Sam zurück. Die schaut sie skeptisch an. Sie erfasste den Moment, wo die Blondine als die Partnerin der Schwarzhaarigen vorgestellt wurde, sie ihre Kollegin daraufhin allerdings mit hochgezogener Augenbraue flüchtig anschaute.

»Dürfte ich bitte Ihre Ausweise sehen?«, giftet Sam gereizt. Sie hat keine Nerven dafür, sich von irgendwelchen dahergelaufenen Weibern die Zeit stehlen zu lassen.

»Natürlich«, lächelt die schwarzhaarige Frau, greift in die Innentasche ihrer Jacke und reicht Sam ihren Ausweis. Dasselbe macht die Blondine. Mit Adleraugen betrachtet Sam beide Ausweise, bis sie zu den Frauen hochblickt.

»Sie«, sie deutet auf die Schwarzhaarige »sind Special Agent beim BAU. Aber ihre Partnerin ist lediglich Detective. Verraten Sie mir, wie Sie es sich vorgestellt haben, mich verarschen zu können?« Bei dem Wort lediglich, kann Sam sehen, wie die blonde Frau leicht angesäuert die Augen verengt. Das ist aber nicht ihr Problem. Dann hätte sie den einen oder anderen Fall schneller aufklären müssen, um die Karriereleiter effektiver hinaufzukommen.

Die schwarzhaarige Frau setzt ein verständnisvolles Lächeln auf.

»Ich kann Ihre Skepsis gut verstehen. Es ist im Augenblick wirklich etwas verwirrend. Aber mit Ihrer Erlaubnis, würde ich dieses Missverständnis gerne aufklären.« Sam holt Luft und will die beiden Damen mit den ersten Worten von der Intensivstation schmeißen, als die schwarzhaarige Frau ungebeten diese etwas ungewöhnliche Konstellation zu erklären beginnt.

»Miss McCarthy ist derzeit noch beim Morddezernat angestellt, das ist richtig. Allerdings sieht ihre berufliche Planung vor, dass sie zum BAU wechselt. Da ich sie und ihre Arbeitsweise schon einige Jahre kenne, habe ich sie zu diesem Fall mitgenommen, damit sie schon den ersten Eindruck unserer Arbeit gewinnen kann. Ebenso aber auch, weil ich ihrer schnellen Auffassungsgabe vertraue.«

Sam blickt zwischen der Schwarzhaarigen und der Blondine hin und her. Sie klappt beide Ausweise zu und reicht diese den Frauen zurück.

»Würden Sie mir beide bitte einen Gefallen tun?«, säuselt sie plötzlich ungewöhnlich freundlich.

»Natürlich«, lächelt diese Havering. Sam streckt einen Arm aus und zeigt in Neves Zimmer.

»Sehen Sie doch einmal ganz genau in dieses Zimmer. Meine Frau liegt dort im Bett. Sie ist so gut wie tot! Tot, verstehen sie?! Nur diese verdammten Maschinen halten sie noch am Leben, mehr nicht. Und Sie glauben allen Ernstes, dass ich keine anderen Sorgen habe, als mich damit auseinanderzusetzen, ob Sie hier einen Ausbildungskurs veranstalten? Wollen Sie mich eigentlich völlig verarschen?«

»Misses Stewart-Sanchez, ich kann … .« Weiter kommt die schwarzhaarige Frau nicht. Mit verschränkten Armen dreht sich Sam von den Frauen weg und blickt zu ihrer Frau in das Zimmer. Sie wird sich nicht weiter auf dieses Theater einlassen. Sie hat ganz andere Sorgen. Sollte das Gesetz ihr und Neve tatsächlich helfen wollen, müssen sie schon bessere Geschütze auffahren, als diese lächerliche Lehrstunde. Und woher wissen die eigentlich über Neves Zustand Bescheid? Wieso gibt es einen Fall gut Neve? Was hat San verpasst?

»Misses Stewart-Sanchez. Da Ihre Frau indirekt eine Kollegin von mir war, werde ich nicht eher Ruhe geben, bis ich die verantwortliche Person gefunden und gestellt habe. Aber vorerst werden meine Partnerin und ich im Hintergrund weiterarbeiten. Sollte Ihnen also etwas einfallen was uns behilflich sein könnte, würde es mich freuen, wenn Sie mich kontaktieren.« Bestätigend zu ihren Worten, hält die Frau Sam eine Visitenkarte hin. Gekonnt ignoriert Sam diese. Sie schaut noch immer in das Zimmer und fragt sich, wann endlich ein passendes Spenderherz eintrifft.

Weil Sam diese lächerliche Visitenkarte nicht annimmt, steckt die schwarzhaarige Frau diese in den schmalen Rahmen des Fensters. Genau auf Augenhöhe. Sam bräuchte also nur ihre Augen zu bewegen und sie würde das gute Stück sofort sehen.

»Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag und viel Kraft«, verabschieden sich die beiden ungebetenen Damen. Das Geräusch der auftretenden Schuhe bestätigt ihren Rückzug. Missmutig und noch immer skeptisch blickt Sam den beiden hinterher.

Kaum dass sie die Tür erreichen, geht diese auch schon auf. Beide Frauen treten zur Seite, als Precious mit aller Kraft die Tür aufdrückt. Sofort wird ihr diese aus der Hand genommen, weil sie von dieser Havering offengehalten wird.

»Danke«, lächelt Precious zu ihr hoch, die ihr lediglich freundlich zunickt. Dann nehmen deren Augen auf, wie Matt einen Kinderbuggy in die Intensivstation schiebt. Er gönnt den beiden fremden Frauen einen flüchtigen Blick, geht seinen Weg danach aber weiter.

»Hey«, begrüßt Sam Precious freudig und drückt sie an sich. Kaum dass Matt bei ihr auftaucht, beugt sie sich zu dem Kinderbuggy, fummelt dort etwas herum und hebt Jean heraus.

»Gibt es was Neues?«, fragt Matt, als Sam ihre Tochter auf den Arm nimmt und ins Zimmer zurückblickt.

»Nein, nichts«, antwortet sie mürrisch, während ihre andere Hand über Precious' Kopf streicht.

»Und wer waren diese beiden Frauen?«, bohrt Matt weiter. Sam blickt zu der verschlossenen Tür zurück. Durch die kleine Glasscheibe kann sie sehen, dass die beiden Damen stehengeblieben sind und sich unterhalten. Nach einigem hin und her, küsst die blonde Frau der Schwarzhaarigen mit einem Mal auf die Stirn. Sam beobachtet diesen Augenblick ganz genau. Sie nimmt jede Bewegung regelrecht fokussiert auf. Der Anblick bringt sie für einen kurzen Moment etwas durcheinander. Es war kein Kuss auf die Stirn der jemanden Zuversicht und Kraft gibt. Nein, es war ein Kuss der Zärtlichkeit und Liebe in sich trug.

»Aha«, platzt es ihr mit einem Mal heraus.

»Hä?« Verwirrt schaut Matt sie an. Er folgt Sams Blick, kann aber leider nichts mehr von dem Moment erhaschen, der seinen treuen Hund so komisch stimmte.

»Was ist los?« Sam blickt zu ihm zurück und macht lediglich eine weisende Kopfbewegung zu der Visitenkarte ans Fenster. Neugierig zupft Matt das kleine Stück Pappe ab und liest es sich durch.

»Was wollten die von dir?« Sam haucht ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und blickt zu Neve in das Zimmer.

»Sie sind wegen ihr hier. Sie wollen aufklären wer ihr das angetan hat.«

»Und weshalb wirkst du dann so angepisst?« Matt hat den Gemütszustand seines treusten Hundes nicht verpasst.

»Weil diese tolle Blondine lediglich ein Detective ist, die Schwarzhaarige sie aber als ihre Partnerin vorgestellt hat. Sie hätte sie zu diesem Fall mitgenommen, weil das Blondchen bald zum BAU wechselt. Allerdings glaube ich, dass das Wort Partnerin eher darauf bezogen war, dass sich die beiden ihre Lust gegenseitig vom Körper lecken. Sowas brauche ich im Augenblick keineswegs. Wenn sie etwas tun wollen, dann sollten sie damit anfangen, sich vernünftig vorzustellen und nicht solche halbherzigen Sachen.«

***

Ein merkwürdiges piepen reißt Sam aus dem Tiefschlaf. Sie braucht ein paar Sekunden bis ihr Gehirn einigermaßen arbeitet und sie ihren Körper zu einer Bewegung befehlen kann. Zuerst öffnet sie die Augen und sieht Precious schlafend neben sich. Ihr Herz beruhigt sich bei diesem Anblick, dennoch piept es weiter durch das Schlafzimmer. Es piept? Wieso piept es? Etwa der Rauchmelder? Benommen blickt Sam zur Zimmerdecke hinauf. Nein, das Ding ist es nicht. Aber was piept hier dann?

Vom Schlaf irgendwie erschöpft dreht sich Sam zur anderen Seite. Kaum kommt sie zum erliegen, reißt sie die Augen auf. Es piept? Geschockt sitzt sie sofort aufrecht. Hektisch greift sie nach dem Pager vom Krankenhaus. Mit der anderen Hand schaltet sie das kleine Nachtlicht ein. Blinzelnd und mit schmerzenden Augen blickt sie auf das kleine Display. Nichts. Das Teil ist stumm und zeigt ihr keine Neuigkeiten an. Sams Herz klopft allerdings noch immer bis zum Hals. Auch das piepen geht weiter.

Verwirrt legt sie den Pager auf das Nachschränkchen zurück, bis ihr Blick auf ihr Handy fällt. Es blinkt, vibriert und piept. Seit wann piept das Ding? Wann hat sie einen neuen Klingelton eingestellt?

Perplex greift Sam nach dem Handy und muss ihren Augen befehlen Jessicas Namen auf dem Display richtig zu lesen.

»Ja?«, meldet sie sich flüsternd. Ein kurzer Blick zu Precious folgt.

»Ich bin es.« Jessica klingt so verschlafen wie Sam sich fühlt.

»Das Krankenhaus rief eben an.« Im Bruchteil einer Sekunde ist Sam schlagartig hellwach. Ihr Herz beginnt zu rasen, ihr wird unerträglich heiß. Blitzschnell blickt sie zu Precious zurück. Angst erfüllt sie. Mit wackeligen Beinen steht sie auf und schleicht aus dem Schlafzimmer. Das eingeschaltete Licht brennt in ihren Augen.

»Jessica, was … ?«

»Neve hatte einen Krampfanfall. Durch den Beatmungsschlauch zog sie sich eine Lungenentzündung zu.« Eine ohrenbetäubende Pause kehrt in das Gespräch ein. Sam ist nicht fähig richtig zu atmen oder zu denken. Alles dreht sich … .

»Sam, du weißt was das bei Neves Zustand bedeuten könnte … .« Kraftlos lehnt sich Sam gegen die Wand. Ihr fällt das Atmen unfassbar schwer. Es fühlt sich an, als wenn jemand auf ihrem Brustkorb sitzen würde. Alles ist so beengt und erdrückend.

Sam glaubt sich zu verhören, aber sie ist sich nach ein paar Sekunden sicher. Laura weint im Hintergrund. Bis zum heutigen Tag hat sie ihre beste Freundin wegen Neve nicht weinen gesehen. Immer war sie unfassbar stark und hat Sam gehalten. Diese Nachricht scheint sie jetzt aber völlig mitgenommen zu haben.

»Jessica, bitte … .« Sam kann nicht glauben, dass sie diese Worte wirklich aussprechen kann wenn es sein muss. Es scheint jetzt aber eine Situation eingetreten zu sein, bei der sie einen klaren Kopf bewahren muss.

»Ich werde sie nicht leiden lassen, Sam. Das verspreche ich dir.« Jessica muss sich das weinen schwer verbieten, kann es aber nicht verhindern, dass sie kurz schnieft. Lauras Weinen im Hintergrund wird lauter und stärker.

»Kümmere dich um Laura«, flüstert Sam und legt gleich darauf auf. Sie kann sich nicht vorstellen was es Jessica an Kraft kosten muss all diese Last zu tragen. Eventuell eine Entscheidung treffen zu müssen, die sie zerstören könnte. Gleichzeitig muss sie sich aber auch noch um ihre eigene Familie kümmern und nebenbei ihre Freunde stützen. Was hat Neve ihr da nur angetan? Nein, was hat Sam ihrer Freundin nur angetan?

Wankend tritt Sam an die Treppe. Kraftlos hält sie sich am Geländer fest. Schritt für Schritt geht sie die Stufen hinunter. Tausend Bilder jagen durch ihren Kopf. Bilder die zeigen wie Neve im Bett liegt. Bilder die zeigen wie Neves Körper wegen dem Anfall unkontrolliert zuckt. Bilder die zeigen wie Neve von unzähligen Ärzten umzingelt ist, die ihr Leben retten wollen. Bilder auf denen Dinge zu sehen sind, die geschahen während Sam schlief. Alle haben geschlafen. Alle Hunde haben friedlich in ihren Betten geschlafen, während Neve den Tod ein weiteres Mal herausforderte.

Bei dem Gedanken daran, verlassen Sam ihre Kräfte. Weinend sinkt sie auf der Treppe zusammen. Zitternd kauert sie auf den Stufen. Mit einem Mal wird ihr etwas bewusst. Seit fast drei Wochen sitzt sie täglich an Neves Bett und ging irgendwann, weil sie sich um die Kinder kümmern musste. Jeden Tag verabschiedete sie sich von ihrer Frau, empfindet dies nun allerdings als völlig wirkungslos. Sam ging jeden Tag mit dem Wissen nach Hause, dass Neve die kommende Nacht überleben würde und Sam sie am nächsten Tag wie gewohnt besuchen kann. Ihr ist es nie in den Sinn gekommen, dass das nicht passieren könnte. Dass Neves Körper dieser Prozedur nicht standhalten würde und einfach aufgab. Diese Tatsache kam für Sam nie in Frage. Neve ist stark. Sie ist unheimlich stark, etwas anderes gibt es für Sam einfach nicht.

Dieser Vorfall zeigt ihr aber, dass jede bisherige Verabschiedung nur ein minimaler Hauch ihrer Gefühle war. Nie verabschiedete sie sich richtig von ihrer Frau. Immer war es auf ein morgiges Wiedersehen bezogen. Was ist aber, wenn es kein Morgen mehr gibt?

Bei diesem Gedanken zittert Sam noch stärker. Sie war schon wieder egoistisch. Schon wieder hat sie nur an sich gedacht und nicht daran, was das alles für Neve bedeutet. Welche Kraft Neves Körper aufbringen muss. Hat er das die letzten Monate aber nicht schon ausgiebig genug getan? Hat er nicht genug gekämpft? War er etwa nicht stark?

Auch wenn Sam versucht weinend und schniefend die Fassung wieder zu erlangen und sich sogar von den Stufen erhebt, kann sie nichts gegen die Tränen machen. Sie kommen unaufhörlich. Ihr Herz schmerzt bei jedem Gedanken an ihre Frau. Daran, wie sie Meilenweit entfernt im Krankenhaus liegt und um ihr Leben kämpft. Sam weiß, dass sie sich um die Kinder kümmern muss. Wenn es nach ihr gehen würde, säße sie schon längst in ihrem Wagen und würde ins Krankenhaus fahren, nur um Neve nahe zu sein, auch wenn sie nichts tun könnte. Sie weiß aber auch, dass sie zuhause zwei kleine Kinder hat, die ihre Mutter sehen wollen wenn sie aufwachen. Sam weiß, dass sie hier bleiben und für ihre Töchter da sein muss. Sie muss sich um sie kümmern und ihnen Sicherheit und Halt geben, auch wenn sie davon selbst nichts mehr aufweisen kann. Sie fühlt sich leer und ausgebrannt. Jegliche Kraft und Hoffnung hat sie verlassen. Die Nachricht, dass Neve erneut um ihr Leben kämpft und die Tatsache, dass sie diese Nachricht nicht verarbeiten kann, zeigt ihr, dass sie ganz und gar ausgelaugt ist. Dass keine Kraft mehr vorhanden ist, von der sie schöpfen könnte. Dennoch muss sie an Precious und Jean denken.

Mit einem Blick zurück nach oben, wankt Sam in die Küche. Zitternd bereitet sie sich einen Kaffee zu, mit dem sie sich einige Zeit später auf die Couch setzt. Fast in Trance schaltet sie den Fernseher ein und sucht einen Radio-Sender. Ton reicht ihr, Bild wäre im Augenblick tatsächlich zu viel für sie. Sie würde reizüberflutet werden und damit kann sie jetzt grade nicht umgehen.

Sam weiß, dass sie zu Neve will. Dass sie einfach nur zu ihrer Frau will. Sie weiß auch, dass es ihrem natürlichen Instinkt widerstrebt hier zuhause zu sitzen, anstatt bei ihrer Frau zu sein. Sie führt einen inneren Kampf mit sich aus, dem sie kaum etwas entgegenzusetzen hat. Ihr fehlt die nötige Kraft um sich auf eines der Gefühle zu konzentrieren. Ihr ist bewusst, dass ihr zuhause ihr in diesem Moment wie ein Gefängnis vorkommt. Dass sie hier raus will – dass sie tatsächlich nicht hier sein will. Aber sie hat zwei Kinder. Sie hat Neve versprochen, dass sie sich um sie kümmern wird. Neve hat in vielerlei Hinsicht an so vieles gedacht und vorausgeplant. Sie tat das alles im Sinne ihrer Familie. Sam hingegen kann nur an sich denken. Sie muss sich dazu zwingen, zuhause bei ihren Kindern zu bleiben. Jessica wird sich melden. Sobald sie eine Information aus dem Krankenhaus bekommen wird, ist Sam die Erste der sie davon erzählen wird. Nur wann das sein wird, weiß niemand.

Alleine dieser Gedanke lässt Sam schwindelig werden. Um ihren Kreislauf aber einigermaßen aufrecht zu halten, trinkt sie einen großen Schluck Kaffee. Es fühlt sich für sie im Augenblick an, als wenn sie in einer Seifenblase sitzen würde, die mit einer kurzen Nachricht – mit wenigen Worten zerstört werden könnte. Nur ein Anruf, ein paar Worte und Sams Leben wäre für immer vernichtet.

Kopfschüttelnd blickt sie zu dem Fernseher. Nein, Neve wird sie nicht alleine lassen, niemals. Sie wird kämpfen, auch wenn sie eigentlich gar keine Kraft mehr dazu hat. Sie kämpft, um zu ihren Kids und ihrer Frau zurückkehren zu können. Sam weiß das. Es gibt eigentlich gar keine andere Möglichkeit als diese. Neve wird kämpfen!

***

Wie ein Tornado wirbelt Sam am Morgen um ihre eigene Achse. Die Schüssel mit Birnenstücken für Jean fällt ihr aus der Hand und zerschlägt auf den Küchenfließen.

Mit einem einzigen Satz ist sie beim Tresen, reißt das Telefon aus der Halterung und schleudert diese mit einer einzigen Bewegung fast vom Tresen.

»Ja?«

»Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie ist stabil.« Kaum spricht Jessica diese Worte aus, laufen Sam Freudentränen über die Wangen.

»Die Lungenentzündung war nicht so schlimm wie zuerst angenommen. Neves Körper hat die Entzündung früh genug angezeigt, so dass nichts Gravierenderes passieren konnte. Allerdings bekommt sie weitere Medikamente, um die Entzündung zu behandeln.« Sams Schweigen zeigt Jessica, dass ihr eine Tonnenschwere Last vom Herzen gefallen ist. Sam wüsste eh nicht, was sie im Augenblick sagen sollte. Ihr fehlen einfach die Worte.

»Sam?«, fragt Jessica vorsichtshalber dennoch nach.

»Wie geht es Laura?«, flüstert Sam kaum hörbar. Sie hört Jessica schlucken.

»Sie ist fertig mit den Nerven. So habe ich sie in all den Jahren noch nie erlebt. Selbst du würdest sie nicht wiedererkennen.«

»Wie geht es dir?« Sam hört ihre Freundin schmunzeln.

»Danke, dass du fragst«, flüstert Jessica erfreut.

»Mir«, sie räuspert sich »mir geht es soweit ganz gut. Das Denken fällt mir schwer und die Konzentration für die Kids fehlt mir, aber ich schaffe das schon. Wenn das alles vorbei ist, brauche ich definitiv Urlaub«, lacht Jessica schwerfällig.

»Den spendiere ich dir dann«, lacht Sam ebenfalls.

»Zu großzügig von dir.« Sam kann sich Jessicas grinsendes aber erschöpftes Gesicht richtig gut vorstellen. Was die Frau im Augenblick ertragen muss, ist der Wahnsinn. Sie muss in so viele Richtungen denken und gleichzeitig funktionieren. Sam ist mit sich selbst und den Kids ja schon überfordert. Wenn sie sich aber auch noch um Neve und ihre Freunde kümmern müsste, würde sie sich aus Selbstschutz irgendwo verkriechen.

»Kann ich später kurz vorbeikommen bevor ich ins Krankenhaus fahre?«

»Natürlich, das würde uns freuen. Sam, ich weiß, dass dir das nicht schmecken wird, aber fahre heute bitte nicht ins Krankenhaus.« Das erste Gefühl das in Sam aufsteigt, ist Wut. Sie spürt schon dieses Brodeln.

»Neve hat eine wahnsinnig anstrengende Nacht hinter sich. Gib ihr bitte einen Tag Ruhe, Sam. Nur einen. Gib ihr und dir selbst etwas Ruhe. Morgen kannst du wieder hin. Bring die Kids später einfach mit und ich koche uns etwas, ja?« Jessica spricht so ruhig und einfühlsam, dass sich Sam fragt, wie sehr sie sich eigentlich unter Kontrolle haben muss, um nicht in Tränen auszubrechen und stattdessen an ihre Freunde zu denken. Wo nimmt Jessica nur die Kraft und Geduld her? Wie kann sie überhaupt noch klar denken? Ist es das was Neve in ihr sah, als sie die Patientenverfügung ausfüllte? Ist es das was Neve aus ihrer Freundin herauskitzeln wollte? Diese ruhige und besonnene Art? Dieses kontrollierte Denken und Handeln?

»Du bist unglaublich«, flüstert Sam so leise, dass Jessica nach wenigen Sekunden »Was hast du gesagt?« nachfragt.

»Ich komme später mit den Kids rum. Vielleicht kann ich dir beim kochen helfen. Braucht ihr noch etwas? Soll ich etwas mitbringen?«, lenkt Sam gekonnt ab.

»Nein, danke. Ich wollte eh gleich einkaufen fahren.«

»Wirklich? Und was ist mit Laura? Du kannst doch nicht … .«

»Mach dir um sie keine Sorgen. Ich weiß schon wie ich meine geliebte Frau wieder auf die Beine bekomme.« In Jessicas Aussage schwingt solch ein Schalk mit, dass Sam nicht nachfragen braucht was Jessica mit Laura anstellen wird. Sie wird wissen was sie macht.

***

Mit offenen Armen empfängt Jessica Sam am frühen Abend. Sie hält sie fest und hofft ihr somit etwas Kraft geben zu können.

»Alles ok?«, flüstert sie in Sam hinein, die als Antwort darauf nur nickt.

»Ich bin ziemlich im Arsch, aber es geht schon … irgendwie.«

»Dann kannst du dich ja mit Laura zusammentun«, grinst Jessica hinterlistig, nimmt Sam von sich weg und schaut sie zuversichtlich an. Eine Kopfbewegung ins Haus folgt.

»Dann geh mal das Wrack suchen und heitere sie etwas auf.« Gerade als Jessica an Sam vorbei will um die Kids zu begrüßen, hält Sam sie fest. Hinterlistig grinst sie.

»Sag bloß, dir ist es nicht gelungen deine Frau wieder auf die richtige Bahn zu lenken?« Jessica blickt zu ihr zurück. Geheimnisvoll zieht sie die Augenbrauen hoch.

»Doch, meine Methoden haben schon fast utopische Ausmaße angenommen, aber es fehlt noch der letzte Feinschliff der besten Freundin«, zwinkert Jessica und holt Jean aus ihrem Kindersitz, während Precious auf der anderen Seite aus dem Wagen steigt.

Mit einem letzten Blick zurück zu ihren Kids und Jessica, betritt Sam das Haus und schaut sich suchend um. Draußen auf der Veranda kann sie ihre Freundin dann ausmachen. Sie bleibt kurz stehen, als sie durch den Qualm erkennen kann, dass Laura scheinbar wieder mit dem rauchen angefangen hat. Enttäuscht schüttelt sie den Kopf und tritt hinaus.

»Müsst ihr eigentlich immer alle mit dem rauchen anfangen, wenn etwas Schreckliches passiert ist?«, murmelt sie bockig vor sich hin. Gerade als sie an Lauras Seite treten will, dreht sich ihre Freundin zu ihr um.

»Hey«, lächelt sie mit gespielter Stärke. Sam schaut zu ihr hinüber und erschrickt. Entgeistert – schon fast geschockt starrt Sam ihre beste Freundin an, die im Gesicht aussieht, als wenn sie tausend Bienen gestochen hätten und ihr Gesicht daraufhin so dermaßen aufgequollen ist, dass der nächste Stich dieses zum platzen bringen würde. Laura grinst und zieht die Schultern hoch.

»So sehe ich nun mal aus, wenn ich Stunden nichts anderes getan habe, als zu heulen. Was meinst du wie ich damals ausgesehen habe, als du und Neve gestorben seid? Mich hat man gar nicht wiedererkannt.« Sam starrt ihre Freundin noch immer an und wird sich einer Sache bewusst. Die beiden kennen sich seit über dreißig Jahren und Sam hat Laura noch nie so richtig heulen gesehen. Bisher waren es immer nur kleine Tränchen, oder ein Anflug von weinen, aber noch nie hat Laura so voller Gefühl geweint wie Sam das selbst schon oft genug an den Tag gelegt hat.

»Wie geht’s dir?«, flüstert sie verwirrt. Laura zieht an der Zigarette und schiebt danach die Schultern hoch.

»Neve liegt im Krankenhaus und kämpft um ihr Leben und wir leben hier unser eigenes Leben weiter. Wie soll es mir da schon gehen?« Sie schmeißt die Zigarette zu Boden und tritt sie aus.

»Allmählich kapiere ich endlich weshalb Neve nach Hunters Point abgehauen ist. Das alles hier«, angestrengt holt Laura tief Luft »wollte sie nicht. Mich macht das kaputt. Ich kann langsam nicht mehr.« Nervös und mit zitternden Händen zündet sich Laura eine neue Zigarette an. Sam denkt im ersten Moment daran, ihr diese aus der Hand zu nehmen, spürt aber, dass sie tatsächlich selbst eine Zigarette vertragen könnte.

»Jessica fährt alles auf was sie bieten kann, um mich bei Verstand zu halten, aber dieser driftet Tag für Tag mehr und mehr ab. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie sie das alles aushält - wo sie die Kraft für all das hernimmt. Sie muss eine enorme Energie haben, wofür ich sie vergöttre.« Irgendwie benommen schaut Laura in das Haus zurück.

»Wenn ich schon so abdrehe wenn Neve mit dem Tod ringt, wie flippe ich dann aus, wenn mich meine Frau alleine lässt?« Mit Tränen in den Augen und dieser Frage ausgestattet, schaut Laura ihre langjährige Freundin an.

»Im Augenblick gehen mir so unfassbar viele und auch teilweise kranke Fragen und Gedanken durch den Kopf.« Verzweifelt schüttelt Laura den Kopf und blickt in den Garten hinaus.

»Welche?«, flüstert Sam vorsichtig. Laura lacht schnippisch.

»Ob es schlau war, eine Frau zu lieben die so viel älter ist als ich und die definitiv vor mir gehen wird. Ob es richtig war, eine Familie zu gründen. Ob ich nicht einfach meinen alten Lebensstil beibehalten hätte können. Warum ich überhaupt diese Gefühle Jessica gegenüber zugelassen habe. Weshalb ich mich für sie entschieden habe. Weshalb ich nicht einfach diese Rotzgöre von damals hätte bleiben können, die jede Frau genommen hat, die ihr über den Weg lief und sie danach über den Jordan geschickt hat. Manchmal glaube ich, dass es der größte Fehler meines Lebens war, Gefühle zu zulassen und Jessica zu lieben. Wenn ich alleine geblieben wäre, dann würde ich mir all diese Fragen gar nicht stellen und ich würde noch heute durch die Straßen streifen. Alleine, ja, aber zu mindestens nicht mit diesem Schmerz im Herzen.« Sam spürt den Kloß der sich in Lauras Hals bildet, weil sich dessen heimtückischer Zwilling im selben Moment in ihrem eigenen Hals ausbreitet. Tapfer schluckt sie.

»All diese Fragen und Gedanken kenne ich nur zu gut«, krächzt sie angestrengt.

»Mir geht es nicht anders, Laura. Manchmal gibt es Momente, wo ich mich für meine Gefühle Neve gegenüber selbst töten könnte … .«

»Das Thema hatten wir schon«, unterbricht Laura sie lachend. Sam stockt.

»Du weißt wie ich das meine«, nuschelt sie. Laura nickt schwach.

»Man zweifelt an sich selbst und seinem Verstand. Alles steht Kopf und nichts scheint logisch zu sein. Und dann …«, Sam blickt kurz nach hinten »passiert das.« Vorsichtig tritt Jessica von hinten an Laura heran. Richtig zaghaft schlingt sie ihre Arme um Lauras Hüfte und hält sie fest. Schüchtern vergräbt sie ihr Gesicht in den blonden Haaren ihrer Frau, riecht und gibt ihr einen Kuss. Sam kann sehen, wie sich Lauras Augen von alleine schließen. Ein Lächeln bildet sich auf ihren Lippen. Sie beginnt loszulassen und sich fallen zu lassen.

»Es ist wie es ist, Laura. Keine von uns kann sich dagegen wehren. Unsere Liebe Neve und Jessica gegenüber ist alles was uns aufrecht erhält. Was uns Kraft und Zuversicht gibt. Was uns stark macht und für uns den Sinn des Lebens ergibt. Wir wären nichts ohne Neve und Jessica – zwei verlorene Seelen, mehr nicht.« Laura seufzt. Sie weiß, dass Sam Recht hat. Das hat sie immer … meistens … manchmal.

»Neve wird das packen, oder?«, fragt sie zurückhaltend. Sam nickt zuversichtlich, obwohl sie sich nach vergangener Nacht gar nicht mal mehr so sicher ist.

»Natürlich wird sie es schaffen, sie ist ein zäher Brocken.« Auch wenn sie die Worte selbst nicht glaubt, muss sie wenigstens so tun als ob, um Laura wieder auf die Beine zu bekommen. Die blickt kurz zu ihrer Frau nach hinten, dann wieder zu Sam. Schnell schaut sie zwischen den beiden Frauen hin und her.

»Lust auf einen Dreier?«, grinst sie frech. Jessica beginnt zu lachen, drückt ihrer Frau noch einen Kuss auf den Kopf und schaut zu Sam hinüber.

»Ich sagte doch, dass nur noch der letzte Schliff der besten Freundin fehlt«, zwinkert sie und lässt die beiden Freundinnen alleine stehen.

***

Beim Abendessen muss Sam schwer schlucken. Sie sieht, wie Precious ganz langsam an den Esstisch herantritt. Ihre Augen verweilen unsicher auf dem Stuhl der an diesem Abend leer bleiben wird. Der Stuhl, auf dem sonst ihre Mutter sitzt.

Sam kann leichte Panik in Precious' Augen erkennen. Sie schweifen wild hin und her.

»Schatz«, flüstert Sam vorsichtig, nur um Precious nicht zu erschrecken. Verunsichert schaut die Maus zu Sam hinüber, die eine Hand zu ihr ausstreckt.

»Komm her und setz dich zu mir«, lächelt sie zuversichtlich. Sie weiß, dass sie Precious im Augenblick nicht alleine lassen kann. Das wäre zu schmerzhaft für sie.

»Von wegen«, jauchzt Damon plötzlich dazwischen und schnappt sich seine Schwester. Erschrocken quiekt die kurz auf, als ihr großer Bruder sie einmal durch die Luft wirbelt. Wie selbstverständlich setzt er sich auf Neves Stuhl und platziert seine Schwester direkt neben sich. Er rückt ihren Stuhl noch etwas zurecht und schaut an ihr vorbei zu Jean hinüber, die schon voll und ganz mit ihrem Besteck beschäftigt ist. Er kann Sams Blick spüren, der über Jeans Haare hinweg auf ihn gerichtet ist. Sam hätte Jean eigentlich einen Platz weiter gesetzt und Matt gebeten, sie zu füttern, damit sie sich um Precious kümmern kann. Weil Damon aber Neves Platz eingenommen hat und seine Schwester von dieser ungewöhnlichen Sitzordnung ablenkt, lächelt sie ihn dankbar an und nickt ihm ebenso zu. Er nimmt ihren Blick auf und wuschelt Precious absichtlich kräftig durch die Haare.

»Damon!«, kreischt der Zwerg laut auf. Gespielt wütend schaut sie ihn an.

»Lass das.«

»Sonst was? Haust du mich?«, grinst der Jugendliche seine kleine Schwester an. Anstatt zu antworten, holt Precious gleich aus und boxt ihrem Bruder gegen den Oberarm.

»Aua aua, ich sterbe«, jault Damon gespielt theatralisch und hält sich den Arm. Grinsend blickt er in die Runde. Jessica und Laura haben Dylan in seinem Kinderstuhl auf der gegenüberliegenden Seite soweit zu sich in die Mitte geschoben, dass es nicht auffällt, dass neben dem kleinen Hosenscheißer eigentlich sein großer Bruder sitzt, die Ordnung aber wegen einer fehlenden Person umdisponiert wurde. Matt und Jill haben sich im Laufe des Abends dazugesellt und nehmen die Plätze am Tischende und Anfang ein.

»So, jetzt geht’s aber mal langsam los hier.« Als wenn er eine Schafherde zusammentreiben würde, klatscht Damon aufscheuchend in die Hände und blickt hungrig über den gedeckten Tisch.

»Lasst uns anfangen, ich habe später noch eine Verabredung.« Bevor aber auch nur eine Hand beginnt in den Schüsseln zu wühlen, hebt Damon sein Glas.

»Auf Neve, die wegen ihrer Faulheit ein wundervolles Abendessen verpasst«, prostet er in die Runde. Die ersten Sekunden bleibt es still. Damon weiß aber, dass er keinen Fehler gemacht hat.

»Auf Neve, deren Cellulitis-Arsch ich gründlich versohlen werde.« Niemand hätte gedacht, dass Sam die Erste ist, die ihrem Patensohn mit dem Prost folgt. Es scheint ihr aber gut zu tun, denn das freche Grinsen auf ihren Lippen wirkt aufrichtig und ehrlich.

»Auf Neve«, folgen die anderen ihrem Beispiel.

Während Sam ihren ersten Schluck Wein zu sich nimmt, blickt sie aus dem Augenwinkel zu Damon hinüber. Der Junge ist so unglaublich groß und erwachsen geworden. In einigen Monaten wird er achtzehn, wirkt aber wie ein fünfundzwanzigjähriger. Er hat sehr viel mitmachen und erleben müssen, trotz dessen, dass alle noch immer versuchen ihn und die anderen Kids aus dem Leben der Hunde rauszuhalten. Zwar weiß Damon was seine Eltern sind und welchen Nebenjob sie haben, dennoch interessiert es ihn keineswegs. Niemals fragt er irgendetwas oder unterstellt ihnen etwas. Er nimmt es einfach hin, ohne es zu verurteilen.

»Damon.« Fragend blickt der Junge zu Sam hinüber. Die streicht sich mit einer Hand über das Kinn und zeigt dann auf das ihres Patenjungen.

»Du hast da was. Ich glaube ein Fussel, oder so.« Kaum verengen sich Damons Augen zu einem giftigen Blick, beginnt Sam schallend zu lachen. Sie weiß, dass der Junge es keineswegs ausstehen kann, wenn man ihn auf seinen Bart anspricht, den er sich voller Stolz und mit großer Mühe wachsen lässt. Das was ihm da aber aus dem Gesicht sprießt hat noch keineswegs Ähnlichkeit mit einem Bart. Es sieht eher aus, wie eine Horde schwarzgefärbter Spinnweben.

Dafür kann er aber mit einem kräftigen Körper punkten. Der dauerhafte Besuch eines Fitneßstudios trug schon früh Früchte. Und als Damon in der Schule dann auch noch feststellte, dass die Mädchen darauf abfahren, war es schwer ihn von den Gewichten loszureißen. Er mutiert mehr und mehr zu einem Mann, der sich tatsächlich sehen lassen kann. Er kommt seinem Vater unfassbar gleich.

Sams Gelächter wandert über den ganzen Tisch und nimmt ihre Freunde fast gefangen. Nach und nach beginnen alle zu lachen, auch wenn es auf Damons Kosten ist. Sie sind froh, dass das Abendessen und das kleine Zusammentreffen nicht so steif ablaufen, wie es eigentlich jeder erwartet hat.

Final Game

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