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Round 17

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Seit sechszehn Jahren verliert Sam nicht eine Träne.

Seit sechszehn Jahren hat Sam nicht einmal um ihre Frau geweint.

Seit sechszehn Jahren hängt alles in Sams Umgebung am seidenen Faden.

Seit sechszehn Jahren hofft Sam sich erlösen zu dürfen.

Seit sechszehn Jahren wartet Neves geladene Waffe darauf, eingesetzt zu werden.

Seit sechszehn Jahren wartet Sam darauf, dass Jean volljährig ist, nur um ihrer Frau zu folgen.

Seit sechszehn Jahren geht Sam jährlich diesen Weg.

Seit sechszehn Jahren verdrängt sie jeglichen Gedanken an ihre Frau, nur um einmal im Jahr in das tiefste und schwärzeste Loch zu fallen, welches ihre Seele hergibt.

Sam hat Neve versprochen, dass sie sich um die Kinder kümmern wird, sollte sie diesen Weg nicht mehr mit ihr zusammen gehen können. Auch wenn es gegen Sams Natur war, hielt sie ihr Versprechen. Bis heute bereut sie jeden Tag, an dem sie morgens die Augen öffnet. Jeden Tag wünscht sie sich, dass sie am Abend zuvor einschläft und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufwacht. So wie Neve … .

Am Abend der Transplantation berichtete Sam Precious ganz stolz von der geglückten OP und versprach ihr, sie am nächsten Tag mit ins Krankenhaus zu nehmen. Die Maus durfte zu ihrer Mutter. Sie durfte Hoffnung haben, dass Neve die Augen öffnete und sie ansah.

Das klingelnde Telefon in der Nacht hatte aber einen anderen Plan. Nur schwer konnte Sam in ihrem verschlafenen Zustand etwas verstehen. Sie hörte Laura im Hintergrund heulen und brüllen. Alleine das zu hören zerfetzte Sams Herz. Als sie Jessicas weinende Stimme aber vernahm, wusste sie, dass ihre Freundin keine guten Nachrichten für sie hatte.

»Ihr Körper hat das Herz abgestoßen. Sie ist kollabiert. Ich habe sie gehen lassen.« Das war das Letzte was Sam von Jessica gehört hat. Lauras weinen und schreien war das Letzte was sie von ihrer besten Freundin gehört hat. Von Matt und Jill hat sie danach nie wieder etwas gehört.

In dieser Nacht verlor Sam nicht eine Träne.

In dieser Nacht packte Sam nur das Nötigste für die Kinder und sich ein, schnappte sich die Mädchen und fuhr weg. Sie fuhr, ohne ein Ziel zu haben. Sie fuhr und hielt nur alle paar hundert Meilen, um sich um die Kinder zu kümmern. Sie fuhr Tagelang, bis sie Precious nicht mehr anlügen konnte. Die kleine Maus fragte wovor sie wegfahren würden. Instinktiv wusste sie, dass Sam floh. Nur wovor wusste sie nicht.

Ohne auch nur eine Träne zu verlieren, erzählte Sam ihrer Tochter schweren Herzens was geschehen ist. Dass Precious‘ Mutter nicht mehr lebt. Dass die OP doch nicht so gut verlaufen ist, wie alle annahmen.

Precious sah Sam mit großen Augen geschockt an. Auch sie verlor keine Träne. Stattdessen ging sie auf Toilette. Sam wusste, dass die kleine Maus ihre Zeit brauchte. Dass sie Ruhe für sich brauchte. Sie hatte keine Ahnung, als sie Precious im Diner hinterher blickte, dass es das Letzte war, was Sam von ihr sah. Vor sechszehn Jahren stahl sich Precious heimlich von Sam weg und ließ sie mit Jean alleine. Sam suchte Tagelang und bat auch die Polizei um Hilfe. Als diese aber nach einigen Tagen mit einem Schuh von Precious zurückkehrte, der an einem Highway gefunden wurde, wusste Sam, dass sie nun auch dieses letzte Stück von Neve verloren hatte. Also fuhr sie weiter. Sie fuhr mit Jean so weit, bis das Land aufhörte. Sie fuhr so weit, bis sie die südlichste Stadt der Welt erreichte. Puerto Williams. Eine chilenische Stadt mit nicht einmal zweitausenddreihundert Einwohnern. Einer Stadt, die nur teilweise feste Straßen besaß. Eine Stadt, die einheimischer nicht sein konnte. Sam lernte spanisch und zog ihre Tochter mit dieser Sprache auf.

Bis heute weiß Jean nichts von Neve. Bis heute weiß Jean nichts von ihrem Vater. Bis heute weiß Jean nicht, dass es Precious gab und sie ihre Schwester war. Sie weiß nur, dass ihre Mutter einmal im Jahr nach San Francisco fliegt, dort für ein paar Minuten an einem Grab steht, auf dem der Name Eden Stewart-Sanchez geschrieben steht und dann wieder nach Hause zurückkehrt. Bis heute fragt sie immer wieder wer diese Stewart-Sanchez war. Sie musste ihrer Mutter viel bedeutet haben, wenn sie jedes Jahr diesen Weg auf sich nimmt. Sam schweigt aber. Sie schweigt und taucht nach dem Besuch am Grab wieder in ihre eigene Welt und in ihre neue Identität ab. Jean blieb Jean, aber Sam wurde zu Asella Molina. Asella das kleine Eselchen. Das kleine Eselchen das nie etwas richtig machte.

Als Bedienung in einem Restaurant in Puerto Williams sichert Sam ihrer Tochter und sich das Überleben. Auf ihrer Flucht hob sie nur ein einziges Mal eine beachtliche Summe von ihrem Konto ab. Es sollte ihr lediglich den Start in ein neues Leben vereinfachen. Sonst verlor sich ihre Spur und ihr altes Leben. Niemals nahm sie je Kontakt mit einem der anderen Hunde auf. Niemals! Niemand sollte wissen wo sie war, wer sie war und warum sie war … . Warum sie überhaupt noch lebte. Diese Frage stellt sie sich jeden Tag selbst, bis sie Jean sieht. Bis sie Jeans Augen und Lippen sieht. Bis sie Jeans Duft riecht. Alles Dinge die Neve so sehr … .

Nachdem die Flucht vor ihrem eigenen Leben ein Ende fand und sie ihrem Versprechen nachging, beruhigte sich alles etwas. Sam fand Zeit sich um sich selbst zu kümmern. Sie sah sich im Spiegel an und sah eine Frau, die nur einen Grund hatte noch zu existieren. Jean. Aber sobald ihre Tochter die Volljährigkeit erreicht hat, müsste Jean ohne ihre Mutter auskommen. Sam weiß, dass Jean stark genug dafür ist. Diese Stärke hat sie von ihr. Aber sie selbst verlor auf der Flucht ihre Stärke. Es war nichts mehr von Samantha Rodriguez übrig. Diese Frau ist gestorben … ist zusammen mit Neve gestorben. Samantha Rodriguez ist gestorben, es existiert nur noch Asella Molina. Und Asella Molina sah sich im Spiegel und ekelte sich vor sich selbst. Das was sie sah, widerte sie bis ins Mark an. Diese Frau im Spiegel sollte nicht mehr sein – nicht mehr so sein, wie sie hier ankam.

Sam wusste, dass es ein Klischee war, aber sie wusste auch, dass sie einen neuen Anfang benötigte. Denn das was sie im Spiegel sah, war ihr altes Leben. Ein Leben das nicht mehr existierte. Ein Leben das sie nicht mehr wollte und von sich streifte. Denn dieses Leben ohne Neve war in ihren Augen nicht mehr lebenswert. Also schnitt sie sich kurzerhand die Haare ab. Jean war damals noch zu klein, um ihre Meinung zu dem umstylen abzugeben und gab sich bei ihrer Mutter mit einem Frisch-aus-dem-Bett-gestürzt Lock voll und ganz zufrieden. Ihr war es gleichgültig.

Aber im Laufe der Jahre wuchs nicht nur Jeans Körper, sondern auch ihr Verstand. Zuerst fragte sie, weshalb ihre Mommy niemanden hätte, den sie liebhaben könnte. Dann wurden die Fragen deutlicher und Jean fragte nach einem Partner oder einer Partnerin für ihre Mutter. Und nach dieser Phase, faselte sie etwas davon, dass ihre Mutter einfach mal wieder flachgelegt werden müsste.

Bis zum heutigen Tag hat Sam nie jemanden an sich herangelassen. Weder mental noch körperlich. Sie ließ sich auf ein oder zwei nette Gespräche ein, aber sobald sie einen Annäherungsversuch witterte, zog sie sich zurück. Niemand sollte ihr zu nahekommen. Sam wollte keine Beziehung. Sie wollte niemanden … niemals und zu keiner Zeit in der sie atmete. Die Einzige die sie wollte war Neve … . Neve war der Mensch den sie wollte. Neve und sonst niemanden.

So wie sie ihre Frau auch heute noch will … heute an ihrem Todestag.

Jeans Hand auf ihrer Schulter zu spüren, gibt Sam auch heute wieder einmal die Stärke, um den Besuch am Grab zu überstehen.

Sams schimmernde Augen blicken auf den Grabstein. Wie jedes Jahr kann sie wegen den Tränen den Namen kaum entziffern. Sie weiß aber wessen Name dort steht. Einer der dort niemals stehen sollte. Ihr Name sollte dort stehen und nicht Neves. Nicht Neves.

Wie jedes Jahr hockt Sam vor dem Grab und ist froh darüber, dass dieses Grab mit Hingabe gepflegt wird. Man sieht es. Kein Unkraut wächst in der Nähe des Grabsteins. Kein Kalkfleck befindet sich auf dem teuren Marmor. Kein Dreck, kein Blatt, kein Ungeziefer. Das Grab sieht wie neu aus. Sam weiß wer das Grab pflegt. Jessica. Nur sie wird die nötige Kraft dafür haben, um Neve zu besuchen, ohne gleich den Verstand zu verlieren. Jessica, sonst niemand.

»Mama, como hemos observado alguien. ¿Quién es?« Jeans flüsternde Stimme reißt Sam aus ihren Gefühlen. Die Hand ihrer Tochter drückt sich vorsichtig in ihre Schulter. Langsam dreht sich Sam um. Benommen schaut sie hinter sich. Hitze steigt in ihr auf. Röte ziert ihr Gesicht. Das Herz beginnt wild zu schlagen.

Zaghaft nimmt Sam Jeans Hand und küsst sie flüchtig, während ihre Augen auf zwei farbigen Personen verweilen, die mehrere Meter entfernt von den beiden auf dem Friedhof stehen. Sie kann nicht glauben was sie sieht. Das ist unmöglich. Das ist absolut unmöglich … .

»Espérame aquí.« Sams Stimme ist kaum zu vernehmen. Sie ist Tränenuntersetzt.

Nur langsam wagt sich Sam auf den Weg zu den beiden Personen. Sie traut ihren Augen noch immer nicht.

Ein paar Meter vor den beiden Personen bleibt sie stehen. Mit Tränen in den Augen, blickt sie zwischen dem Mann und der jungen Frau hin und her, bis sie bei dieser bildhübschen Frau stehen bleibt.

»Precious«, haucht Sam wie hypnotisiert. Sie kann es nicht glauben. Ihre Augen tasten jeden Zentimeter von dem Gesicht dieser jungen Frau ab, die so schmerzlich große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hat. Die Gesichtszüge haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr in Neves verwandelt. Selbst Precious' Figur ähnelt ihrer Mutter. Das einzige was sie von ihrer Mutter unterscheidet ist die Haut- und Haarfarbe. Aber sonst könnte man glatt meinen, dass dort Neve steht. Neve in ihrer ganzen Präsenz. Selbst die, vor der Brust, verschränkten Arme geben ihr Bestes, um diesem Bild den richtigen Ausdruck zu geben.

Mit ausgestreckten Händen, um sie zu berühren, geht Sam zwei Schritte auf die junge Frau zu. Diese macht allerdings diese zwei Schritte zurück und weicht Sam somit aus. Den Blick den sie der Südländerin zuwirft, könnte von ihrer Mutter sein. Er ist mit so viel Wut und Hass gefüllt, dass sich Sam vor diesem Blick fast zu Tode erschrickt. Precious' ganzes Gesicht drückt pure Verachtung ihr gegenüber aus. Was ist passiert, dass Precious ihr plötzlich diese Gefühle entgegenbringt? Hat Sam sie etwa alleine gelassen? Hat sie nicht lange und intensiv genug nach ihr gesucht? Was hat Sam damals falsch gemacht, dass Precious nun lebendig, aber mit diesem blinden Hass ihr gegenübersteht? Was ist geschehen?

»Keine Sorge, Samantha. Du bist zur Abwechslung mal nicht verantwortlich. Ich bin aus freien Stücken vor dir geflüchtet und per Anhalter zurück nach San Francisco gekommen. Du glaubst gar nicht, wie viele freundliche LKW Fahrer ein kleines hilfloses Kind mitnehmen, das auf Knopfdruck ein paar Tränchen vergießen kann.« Geschockt starrt Sam ihre Tochter an. Precious ist was? Das kleine Kind ist … ?

Der Mann neben Precious lehnt sich zu ihr und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sams Augen fallen währenddessen auf dessen muskulösen Hals. An der Seite prangt eine Tätowierung. Zwei Waffen die sich überkreuzen. Sam schaut den Mann genauer an und kann nicht glauben was sie sieht.

»Damon?«, haucht sie entgeistert. Der Mann, der dort neben ihrer Tochter steht und das Abbild seines Vaters ist und der alleine durch seine kräftige Statur schon fast A.J.s Zwillingsbruder sein könnte, ist Damon? Der kleine Junge mit der Mathelernschwäche?

Damon blickt zu Sam zurück. Auch sein Blick drückt pure Verachtung aus. Was ist nur in die beiden Kinder gefahren, dass sie Sam diesen Missmut entgegenbringen?

Precious blickt an Sam vorbei nach hinten. Ein Geräusch holt die ältere Frau aus ihrer Fassungslosigkeit. Jean steht nur wenige Schritte hinter ihr. Verunsichert schaut sie zwischen allen Erwachsenen hin und her.

»Mama, todo está bien con usted?« Jean spürt, dass an dieser Konstellation etwas nicht stimmt.

Sam wendet sich ihr zu.

»Si. He dicho que debe esperar para mí«, ermahnt sie ihre Tochter und streckt den Arm aus. Sie schickt sie weg. Sie will ihre Tochter schützen. Aber vor was? Vor ihrer eigenen Schwester? Vor ihrem eigenen Bruder?

Misstrauisch dreht sich Jean langsam um und entfernt sich einige Schritte. Ihre Augen verweilen währenddessen auf ihrer Mutter. Sie macht sich Sorgen.

»Jean ist groß geworden. Und hübsch.« Precious' Stimme holt sich Sams Aufmerksamkeit, krabbelt aber gleichzeitig unangenehm deren Wirbelsäule entlang. Sam wendet sich ihr wieder zu.

Precious‘ Augen verweilen auf ihrer Schwester.

»Weiß sie, dass es mich gibt?« Bevor Sam auch nur die Lippen auseinandernehmen kann um zu antworten, kommt Precious ihr zuvor. Sie nimmt die verschränkten Arme von der Brust und stemmt die Hände in die Hüften. Schreckhaft strauchelt Sam einen Schritt zurück. Precious hat sogar Neves Brustform bekommen. Alles an dieser Frau ist Neve. Alles. Selbst diese Polizeimarke die an einer Kette über ihrer Brust hängt und bis jetzt versteckt war.

Sam weiß nicht wie sie mit dieser Erkenntnis umgehen soll. Sie spürt ihr Herz hämmern und den Kreislauf rasen. Alles steht Kopf. Ihre Augen starren auf die Polizeimarke und verraten ihr, dass Precious es schon bis zum Detective geschafft hat. So wie ihre Mutter … .

»Lass mich raten, Samantha«, reißt Precious Sam an sich.

»Natürlich weiß sie es nicht. Sie weiß nicht, dass ich ihre Schwester bin. Sie weiß nicht«, eine nickende Bewegung zu Damon folgt »dass Damon ihr Bruder ist, richtig? Das hast du wieder toll gemacht, Samantha.« Precious' Stimme bekommt einen merkwürdigen Unterton. Sie macht einen Schritt auf Sam zu. Ihre Augen liegen brennend auf der älteren Frau. Weshalb nennt sie ihre Mutter immer Samantha? Weshalb nicht Sam? Weshalb nicht Mum?

»Nein, alles was dich interessiert und was für dich von Belang ist, ist dein eigenes erbärmliches Leben.« Was? Wie redet Precious mit ihrer Mutter?

»Nach dem Tod meiner Mutter und deiner Flucht - deiner feigen Flucht, sind die Five Dogs zerbrochen. Sie haben sich zerschlagen und existieren nicht mehr. Du hast keine Ahnung wie sehr alle unter diesem Verlust gelitten haben. Wie sie sich alle verloren haben und nichts mehr von ihnen übriggeblieben ist. Laura und Jessica haben sich scheiden lassen. Unser Vater lebt mittlerweile auf der Straße und lässt sich nicht helfen. Jill ist ausgewandert. Jessica ist die Einzige die dieser ganzen Situation die Stirn bietet und für meine Mutter da ist. Sie opfert sich noch heute auf und kümmert sich um uns. Aber auch sie konnte Damon und mich nicht davon abhalten, das weiterzuführen, was ihr begonnen habt. Damon und ich werden San Francisco für uns einnehmen und kontrollieren. Wir werden größer und mächtiger sein, als ihr es je wart. Niemand wird uns aufhalten können. Und das alles haben wir nur dir zu verdanken. Dir und deiner feigen Flucht. Mum hatte mit ihren letzten Worten dir gegenüber Recht. Du bist ein verdammter Egoist. Denn für dich geht das Leben unbescholten weiter, während du uns mit unseren Schmerzen und unserer Trauer alleine gelassen hast. Du bist einfach abgehauen und hast nur an dich gedacht.« Precious macht einen großen Schritt auf Sam zu und blickt ihr direkt in die Augen. Scharf, brennend und voller Hass.

»Du hast Mum nicht beschützt, Samantha! Wolltest du diesen Fehler bei Jean und mir tatsächlich wiedergutmachen? Hast du allen Ernstes geglaubt, dass du mit deiner Flucht alles ungeschehen hättest machen können? Genau deshalb bin ich damals von dir abgehauen. Ich wollte nicht so feige sein wie du und alle alleine lassen. Ich wollte hier sein und meine Mutter auf ihrem letzten Weg begleiten. Etwas was deine Aufgabe gewesen wäre. Aber du hast wie immer nur an dich gedacht.«

Precious geht auf Sam zu und steht ihr dicht gegenüber.

»Und genau aus diesem Grund gebe ich dir einen gut gemeinten Rat. Verschwinde! Verschwinde und komme nie wieder hierher. Lass meiner Mutter ihren Frieden. Solltest du dich nicht daran halten, Samantha, werde ich dich töten und Jean zwingen sich das anzusehen.«

Jedes einzelne Wort von Precious ist für Sam wie ein Schwerthieb. Jedes einzelne Wort zerfetzt ihre Seele. Jedes einzelne Wort zerfrisst ihr ganzes Sein. Jedes einzelne Wort tötet Sam mehr und mehr.

Wie eine leblose Hülle steht Sam regungslos vor Precious und Damon, schaut sie an und erinnert sich an jeden einzelnen Tag mit ihnen. Wie die beiden ihr Leben bereichert haben. Wie sie von ihnen gelernt hat. Wie sie sie geliebt hat. Wie sie alles für diese beiden Kinder tat. Sie hätte ihr Leben für die Kinder gegeben. Aber das Leben hatte einen anderen Plan. Einen, der Sam hier nun stehen lässt. Einen, der Sam Precious dabei beobachten lässt, wie die bildhübsche Frau an ihr vorbei zu Jean geht. Sams trommelndes Herz lässt sie einfach nur agieren. Ihre Augen verfolgen Precious, die bei ihrer Schwester ankommt und sie von oben bis unten regelrecht mustert. Jean betrachtet sie skeptisch aus dem Augenwinkel. Sie kennt diese Person nicht und von daher ist ihr diese Situation sichtlich unangenehm.

Precious bleibt neben Jean stehen und neigt den Kopf.

»Weißt du wer ich bin?« Jean blickt zur Seite und schaut Precious fragend an.

»Sie versteht dich nicht. Sie spricht nur spanisch«, erklärt Sam ihrer Tochter. Oder dieser Frau, die sie einmal Tochter nennen durfte.

»Dann übersetze«, raunt Precious und behält Jean im Auge. Sam schweigt. Warum sollte sie auch übersetzen? Weil Precious sich das in den Kopf gesetzt hat? Nach den Worten, die den Mund dieser jungen Frau verlassen haben, soll Sam ihr tatsächlich einen Gefallen tun? Wie viel hat Precious von ihrer Mutter bloß mitbekommen?

Weil Sam kein Wort spricht, greift sich Precious an den Rücken. Langsam holt sie dort ihre Waffe aus dem Holster. Ganz die Mutter.

»Übersetze«, warnt sie Sam ein weiteres Mal und belässt die Waffe an der Seite des Oberschenkels. Gesichert, aber geladen. Sams Augen weiten sich auf Grund dessen. Was soll das? Will Precious Jean umbringen? Will sie ihre eigene Schwester umbringen? Ist diese Frau wahnsinnig?

Jean ist die Handlung der unbekannten Frau nicht entgangen. Etwas verängstigt blickt sie zwischen der Waffe und ihrer Mutter hin und her. Sie kann sehen, dass Sam mit ihrer eigenen Angst kämpft. Angst, weil sie nicht weiß, was Precious mit dieser verdammten Waffe vorhat.

»Jean, esto es Precious. Ella quiere hacerle unas cuantas preguntas y voy a traducir.« Auch wenn Jean nicht weiß, weshalb ihre Mutter irgendwelche Fragen dieser fremden Person übersetzen soll, stimmt sie ihrer Mutter nickend zu.

Sam braucht noch ein paar Sekunden, bis sie Precious' Frage übersetzt und diese Jean stellt. Ihre Tochter schaut Precious an und schüttelt den Kopf.

»No«, antwortet sie zurückhaltend.

»Deine Mutter hat dir nie von mir erzählt?« Zähneknirschend fixiert Sam Precious.

»Su madre nunca le ha hablado de mí?« Ein fragender Blick zu Sam wird getan, bis Jean erneut mit einem kurzen »No« antwortet.

»Du weißt also nicht, dass ich deine Schwester bin?« Verwirrt schaut Jean Precious an, kaum dass Sam die Frage übersetzt. Ihr Blick wandert blitzschnell an Precious rauf und runter, bis er zu Sam gleitet.

»Mamá, ¿qué quiere decir?«

»Was hat sie gesagt?«, bohrt Precious sofort nach, bevor die Frage im Nirwana landet. Sam schnaubt. Sie kann nicht glauben was hier im Augenblick passiert.

»Sie hat mich gefragt, was du damit meinst.«

»Du weißt nicht, dass Damon dein Bruder ist?« Precious zeigt zu dem Mann nach hinten, der sich bis jetzt in all das nicht einmischt. Er bleibt, ebenso wie sein Vater, im Hintergrund und beobachtet von dort aus die Situation, während Neves Tochter mit allen Mitteln der Gefahr entgegentritt.

Jeans Augen wandern fragend zu dem farbigen Mann.

»Mamá, ¿por qué dice eso?« Sam macht einen Schritt in Precious' Richtung, als die in ihre Hosentasche greift. Als sie allerdings ein Handy in der Hand ihrer Tochter sehen kann, beruhigt sich ihr nervös flatterndes Herz.

Precious hält Jean das Handy direkt vor die Augen.

»Das ist dein Vater, Matt. Er ist mein Vater und der Vater von Damon.« Precious zeigt flüchtig nach hinten. Verwirrt blickt Jean auf das Handy, während Sam bei jedem übersetzten Wort immer schlechter wird. Zögernd nimmt Jean das Handy in die Hand und blickt auf das Display. Regungslos betrachtet sie das Bild ihres Vaters und schaut danach Precious an. Sie sucht in dem Gesicht ihrer Schwester Ähnlichkeiten. Ähnlichkeiten mit dem Mann auf dem Foto. Auch Damon betrachtet sie eingehend. Ihr Blick gleitet zu ihrer Mutter. Sie zeigt ihr das Handy.

»Mamá, ella está diciendo la verdad? Es esta mi padre?« Sams Zähne beginnen zu knirschen. Sie will diese Frage nicht beantworten. Jean sollte nie erfahren wer ist Vater ist. Sie sollte einfach aus einer stürmischen Nacht entstanden sein, mehr nicht. Es gab keinen Vater in Jeans Leben. Es sollte ihn nie geben. Niemals!

»Mamá«, fordert Jean ihre Mutter auf, ihr endlich zu antworten. Mit brennendem Blick schaut Sam zu Precious hinüber. Sie nickt. Das sollte nicht passieren. Jean sollte einfach im Glauben leben, dass es keinen Vater gibt, basta. Das wäre für sie einfach am besten gewesen. Für sie und Sam.

Fassungslos schaut Jean ihre Mutter an. Nach fast achtzehn Jahren erfährt sie, dass sie einen Vater hat? Was zur Hölle soll das?

»Warum hast du mir nie von ihm erzählt?«, übersetzt Sam Jeans Frage, bevor sie diese in spanischen Worten beantwortet.

»Weil deine Mutter feige ist. Erbärmlich und feige«, grunzt Precious wütend. Ihr Blick ruht auf Sam, die diese Worte nur widerwillig übersetzt.

»Deine Mutter hat meine Mutter geliebt. Sie war ihr ganzes Leben. Sie war alles für sie.« Precious zeigt zu Neves Grab. Jean folgt ihrer Hand.

»Meine Mutter hat dich ebenso geliebt wie mich und dich fast zwei Jahre mit aufgezogen. Du kannst dich nicht an sie erinnern, du kennst sie nicht. Aber glaube mir, sie war der gütigste Mensch den ich je kennenlernen durfte.« Ein flüchtiger Blick zu Sam wird getan, die jedes einzelne Wort übersetzt. Sie wandelt die Worte einfach nur noch um, ohne über dessen Bedeutung nachzudenken. Sie wirft Jean Worte um die Ohren, die die junge Frau kaum glauben kann. Allerdings spürt sie selbst, dass sie mit jedem Wort mehr und mehr an ihre geliebte Frau erinnert wird. Ihre Gefühle erwachen allmählich wieder zu neuem Leben, weil sie diese mit jedem Wort über Neve ganz langsam aufweckt.

»Meine Mutter ist vor sechszehn Jahren gestorben und deine Mutter hatte nichts besseres zu tun, als abzuhauen. Sie hat mir erst nach Tagen erzählt, dass meine Mum tot ist, weil sie mit uns beiden vor dieser Situation floh. Sie entriss mich, ohne mich zu fragen, meiner eigenen Mutter.« Precious' bohrender Blick reißt ein schmerzhaftes Loch in Sams Herz, die noch immer jedes Wort übersetzt. Sie kann sehen, dass sie Jean in einen Schock versetzt, den sie niemals erfahren sollte. Bis heute ist Jean gut behütet aufgewachsen. Nie musste sie irgendwelches Leid erfahren. Sie wuchs in einer regelrechten Blase auf. Diese bekommt nun aber Risse. Risse für die Precious verantwortlich ist. Oder doch eher Sam?

Die Polizistin blickt zu Sam hinüber. Sie kann an ihrem Gesicht ablesen, dass es in der Südländerin arbeitet. Dass ihr bewusst wird, was sie damals getan hat. Aus dieser Sicht hat Sam die Situation noch nie betrachtet.

»Mit deiner scheiß Flucht hast du mir alles genommen, Samantha! Du hast mein Leben zerstört! Es ist nur fair, wenn ich nun dein Leben zerstöre«, wispert Precious scharf. Ehe Sam überhaupt reagieren kann, packt Precious Jean mit aller Gewalt in den Nacken, drückt sie herunter und richtet plötzlich ihre Waffe gegen den Kopf ihrer Schwester. Entsichert und mit dem Finger am Abzug.

»Jean!«, kreischt Sam ängstlich. Sie macht einen Schritt auf ihre Tochter zu, bis Precious sie voller Hass anschaut.

»Bewege dich auch nur noch einen Zentimeter und Jean ist tot«, versprüht Precious ihr Gift. Wer ist das? Wer zur Hölle ist diese Frau?

»Mamá«, wimmert Jean unter Precious Griff.

»Precious! Höre auf! Ich flehe dich an! Bitte höre auf!« Sam stehen die Tränen bis zum Hals. Sie kann nicht fassen was sie sieht. Niemals hätte sie geglaubt, dass Precious zu so etwas im Stande ist. Was ist nur aus diesem liebevollem Kind von damals geworden? Wo ist das zuckersüße Mädchen hin? Das Kind, das jubelnd und mit rudernden Armen voller Tatendrang durch das Haus rannte und dabei wie eine Sirene quietschte. Wo ist dieses Kind nur geblieben?

»Ist dir überhaupt bewusst was du damals angerichtet hast, Samantha?«, brüllt Precious wütend.

»Precious, bitte … .« Weinend sinkt Sam auf die Knie. Die Augen behält sie bei ihrer Tochter, die sich noch nicht einmal traut zu atmen. Precious' Waffe liegt noch immer auf ihrem Hinterkopf. Vor lauter Angst beginnt auch sie nun zu weinen.

Was ist nur aus dem Besuch am Grab geworden?

»Matt hat Neve verloren. Matt hat dich verloren. Er hat seine Tochter Jean verloren. Ebenso wie Laura und Jessica, hat unser Vater alles verloren. Mit dem Tod meiner Mutter und deiner scheiß verfickten Flucht hast du alles zerstört, was uns zusammengehalten hätte. Wir hätten es ohne meine Mutter geschafft. Aber du verdammtes egoistisches Arschloch hast nur an deinen Arsch gedacht und hast dich verpisst. Nur weil du mit dem Tod meiner Mutter nicht zurechtgekommen bist.«

»Precious, bitte … ich flehe dich wirklich an, lass Jean in Ruhe. Sie kann doch nichts dafür. Sie hat mit alldem nichts zu tun.« Precious fixiert Sam scharf. Sie wechselt den Blick zwischen ihrer Schwester und der Frau, die sie einmal Mutter nannte.

»Du hast Recht, Samantha. Jean kann nichts dafür. Sie verurteile ich auch nicht, sondern dich.« Blitzschnell nimmt Precious die Waffe von Jeans Kopf, richtet diese auf Sam und drückt ab … .

***

Schreiend schießt Sam im Bett hoch. Verängstigt schlägt sie sich eine Hand auf den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken, legt sich die andere Hand auf ihr rasendes Herz und blickt gleichzeitig zur angelehnten Zimmertür.

Precious wollte die Nacht in ihrem eigenen Bett schlafen. Sie wollte den Verlust eines Familienmitgliedes mit sich alleine ausmachen. Sam fand es nicht gut und förderlich, aber sie konnte ihre Tochter auch nicht davon abhalten.

Während sie mit Jessica zusammen an Neves Bett wachte, rief Laura irgendwann an und teilte ihr mit, dass Marley gestorben sei. Sie wäre zu Sam und Neve nach Hause gefahren um mit dem alten Mann Gassi zu gehen, als sie ihn auf seinem Platz liegend tot vorfand. Er wäre wohl schon vor einigen Stunden von ihnen gegangen.

Sam war in diesem Moment ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert. Sie fing zu weinen an, weil der doofe Kerl einfach so gegangen ist und sich noch nicht einmal verabschiedete. Dieser verdammte Mistkerl, der ihr immer die Kleidung versaute, wenn er wieder verstecken spielen wollte. Dieser blöde Köter, der seine Familie mit allen Mitteln verteidigte und sich nur zu gerne vor seine kleinen Frauchen stellte um sie zu beschützen. Diese Töle, die Neve so viele Jahre begleitet hat. Marley hat sie alle einfach alleine gelassen.

Auch wenn sie gerne bei ihrer Frau geblieben wäre, fuhr sie natürlich nach Hause und kümmerte sich um die Kinder. Sie schaffte es kaum Precious zu beruhigen. Sie weinte schon fast genauso herzzerreißend, wie als sie die Nachricht von der OP ihrer Mutter erhielt. Sie beruhigte sich erst etwas, als sie zusammen mit Sam im Garten ein Grab aushob. Sie schob sogar ihren Vater beiseite, weil er ihnen helfen wollte. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte das mit ihrer Mutter alleine machen, was Sam mit unfassbarem Stolz erfüllte. Der Abschied von dem Racker fiel allerdings niemandem leicht, bis Sam ihre Tochter in den Arm nahm und ihr zuflüsterte, dass Marleys Herz nun in Mummy schlagen würde. Erst als Precious sie verständnislos und überrascht anschaute, wurde ihr bewusst was sie gesagt hat. Und von dem Augenblick an, glaubte sie selbst an diese unbewusste Aussage. Wenn Marley nicht gestorben wäre, würde Neve wahrscheinlich noch immer auf ein Herz warten. Es war Irrsinn, das wusste sie, aber es half ihr. Ihr und ihrer Tochter.

Nun sitzt sie schwer atmend im Bett und versucht den Traum zu verdrängen. Sie spürt Schweiß ihren Rücken hinunterlaufen. Zittrig fährt sie sich durch die Haare. Selbst ihre Kopfhaut ist klitschnass. Das Laken unter ihr, hat sich der ausgetretenen Körperflüssigkeit angenommen und umgibt Sam wie ein klammes Handtuch, widerlich.

Die Bilder, welche der Traum mit sich trug, brennen schmerzhaft in ihrem Kopf. Sie kann keines davon glauben. Niemals, niemals würde Precious ihr den Rücken kehren, egal was passieren mag.

Zitternd und mit laufenden Tränen schiebt sich Sam schwerfällig aus dem Bett. Kaum steht sie aufrecht, glaubt sie zusammenzubrechen. Ihre Beine zitternd wie Espenlaub und weisen keinen Funken Kraft auf. Ihr ganzer Körper ist schwach und kraftlos. Der Traum muss alles von ihr abverlangt haben. Sie muss gekrampft haben, anders kann sie sich diesen Zustand nicht erklären.

Mit aller Kraft die sie aufbringen kann, schleppt sich Sam aus dem Schlafzimmer und schleicht zu Precious hinüber. Sie lächelt erleichtert, als sie den Zwerg schlafend im Bett liegen sieht. Es war alles nur ein Traum. Ein Traum den … .

Kopfschüttelnd verdrängt Sam jeden weiteren Gedanken. Stattdessen erwacht in ihr ein Wunsch; ein Bedürfnis.

Wackelig schleift sie sich die Treppe hinunter, geht an den Tresen und wählt Lauras und Jessicas Nummer. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ertönt Jessicas Stimme völlig verschlafen.

»Hast du mich erschreckt. Ich dachte, dass es das Krankenhaus ist«, murmelt sie schläfrig. Ein raschelndes Geräusch der Bettwäsche versichert Sam, dass sich Jessica von Laura abwendet, um voll und ganz bei ihr zu sein.

»Sam, was ist los?«

»Kannst du bitte herkommen und auf die Kinder aufpassen? Ich muss ins Krankenhaus.« Sam weiß, dass sie um diese Zeit etwas Unwürdiges von Jessica verlangt, aber sie kann nicht anders. Sie muss zu Neve. Sie muss einfach.

»Was? Wieso? Sie haben nicht angerufen. Sam, Neve wird es … .«

»Bitte Jessica, ich bitte dich.« Sam stehen die Tränen in den Augen. Es kostet sie unheimlich viel Kraft auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen. Sie hört Jessica schnaufen, ein weiteres rascheln folgt.

»Was ist los?«, murmelt Laura verschlafen im Hintergrund.

»Ich bin gleich da«, brummt Jessica und legt auf.

***

Wie versprochen, rollt Jessicas Wagen eine halbe Stunde später auf die Auffahrt. Sam wartet keine Begrüßung oder sonst irgendetwas ab und fährt sofort los. Jessica schaut ihr noch verwundert hinterher, betritt dann aber das Haus, damit sie sich um zwei schlafende Kinder kümmert. Mehr als ihren Schlaf im Gästezimmer weiterzuführen, wird sie eh nicht machen brauchen. Die beiden Mädchen sind pflegeleichter, als ein Rudel Faultiere.

***

Erschrocken blickt Sam durch das große Fenster in Neves Zimmer. Panisch hechtet sie zum Tresen der Intensivstation.

»Ist irgendetwas mit meiner Frau passiert?« Sam überschlägt sich fast. Ihre Stimme klingt hektisch und angsterfüllt.

Fragend blickt die Krankenschwester zu ihr hoch, kurz zu Neves Zimmer und dann wieder zu Sam zurück.

»Nein, bei Ihrer Frau gibt es keine Probleme. Sie ist stabil. Es gab keine nennenswerten Veränderungen in den letzten Stunden. Warum fragen Sie?«

»Weil … ihr Gesicht … ihr Kopf, er liegt auf der Seite.« Erstaunt zieht die Schwester eine Augenbraue hoch. Sparsam schaut sie Sam an.

»Misses Stewart-Sanchez«, lächelt die gute Frau »Ihre Frau schläft. Sie befindet sich nicht mehr in diesem tiefen Koma wie sie es von den letzten Wochen her kennen. Bewegungen sind da ganz normal. Sie bekommt zwar noch immer Beruhigungsmittel, aber dass der Körper sich von alleine bewegt, ist das beste Indiz dafür, dass er die Medikamente gut verarbeitet. Es ist also nur von Vorteil wenn sich Ihre Frau eigenständig bewegt.« Das Grinsen auf dem Gesicht der Krankenschwester ist so beschämend für Sam, dass sie es ihr am liebsten aus dem Gesicht schlagen würde. Aber sie beherrscht sich und kehrt zum Zimmer zurück.

Leise betritt sie dieses, geht an das Bett und kniet sich neben Neves Kopf auf den Boden. Mit Tränen der Erleichterung schaut sie ihr beim schlafen zu. Die Atemmaske verdeckt die Hälfte von Neves wunderschönem Gesicht, aber das stört nicht. Im Gegenteil, denn dadurch, dass die Maske beim ausatmen beschlägt, weiß Sam, dass die Atmung ganz alleine von Neve getätigt wird. Dass sie keinen Schlauch mehr im Hals stecken haben muss, der das Atmen für sie übernimmt. Ein besseres Zeichen dafür, dass das Herz seine Arbeit gut aufgenommen und die Aufgabe gewissenhaft ausübt, gibt es gar nicht.

Blind greift Sam nach Neves Hand und streicht ihr sanft über den Kopf. Alleine hier sein zu können und das alles machen zu dürfen, mit dem Wissen, dass Neve irgendwann wieder nach Hause kommen wird, bereitet Sam eine freudige Gänsehaut. Neve wird wieder heimkommen. Irgendwann wird sie wieder zuhause sein.

Sam schreckt etwas auf, als sie sehen kann, wie sich Neves Augäpfel bewegen. Wild wandern sie hinter den geschlossenen Lidern hin und her. Hektisch blickt Sam zur Maske zurück. Die Atmung ist gleichbleibend. Nichts deutet darauf hin, dass ihre Frau körperliche Probleme hat. Die Augen fliegen aber noch immer von einer Seite zur anderen, bis sie schlagartig stehen bleiben. Etwas entspannter sinkt Sam wieder in sich zusammen, betrachtet ihre Frau und streicht ihr erneut über den Kopf.

Nach wenigen Minuten werden ihre Augen ganz groß, als sich Neves Lider bewegen. Zittrig versuchen sie sich zu öffnen, bleiben aber verschlossen. Solange bis Neve den nächsten Versuch startet. Nur flackernd kann sie die Lider hochschieben, bis Sam die ersten Millimeter von Neves Augen sehen kann. Vor Freude könnte sie zu weinen anfangen, befiehlt sich aber stark zu sein.

Neves Augen schnellen zittrig hin und her, bis sie nach und nach einen Fokus aufnehmen. Die Lider sind halb geöffnet, dennoch scheint sie das Objekt vor sich wahrnehmen zu können.

Sams Herz überschlägt sich vor Freude und Aufregung. Die kleinen Freudetränen in ihren Augen kann sie nicht halten. Es geht beim besten Willen nicht.

»Hallo, schöne Frau«, flüstert sie und streicht Neve weiterhin über den Kopf. Neves Augen wandern ziellos umher, bis sie Sam erneut fokussiert.

Durch die kleine Bewegung am Kiefer kann Sam sehen, dass Neve etwas sagen will. Aber bis auf Atem der die Maske beschlägt, entweicht nichts ihrer Kehle.

»Nicht«, hält Sam ihre Frau von dieser eigentlich normalen aber schweren Handlung ab. Neves Kiefer bewegt sich wieder zurück. Sie schluckt und schließt die Augen. Ihr Gesicht verzieht sich kurzzeitig zu einer schmerzverzerrten Maske. Neves Hals muss sich wie scharfkantiges Gebilde anfühlen. Ihre Augen fallen kurz zu, dann nimmt sie wieder mit aller Kraft den Fokus auf. Für Sam sieht es allerdings aus, als wenn Neve zwei Flaschen Scotch intus hat und nichts mehr kontrollieren kann. Alles schwankt wild hin und her.

Mit einem Mal kann sich Sam nicht mehr halten. Sie erhebt sich und vergräbt ihr Gesicht vorsichtig in Neves Halsbeuge. Haltlos beginnt sie zu weinen.

»Ich versuche es, Schatz. Ich versuche es wirklich, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich kann ohne dich nicht sein. Es klappt einfach nicht. Ich weiß nicht wie ich ohne dich sein soll … wie ich ohne dich funktionieren soll. Für mich ist das absolut unmöglich.« Sam weint ihre Hilflosigkeit heraus, bis sie sich von ihrer Frau löst und sich wieder hinkniet. Erschrocken blickt sie auf die kleine Träne die aus Neves Auge tritt und langsam über die Nase rollt. Auch wenn Neve dem besten Alkoholiker mit ihrem schwankenden Blick Konkurrenz macht, kann Sam diese maßlose und unendliche Liebe ins Neves Augen erkennen, die sie in diesem Augenblick für die junge Frau empfindet.

»Nicht weinen, Schatz. Oh Gott, es tut mir leid ….« Verzweifelt, hilflos und überfordert wischt Sam vorsichtig die Träne weg. Sie verflucht ihren Gefühlsausbruch. Neve hat eben erst die Augen geöffnet und Sam überfällt sie schon wieder mit ihrer Gefühlsduselei, nur weil sie zu doof ist, ohne Neve zu leben.

Mit einem Anflug eines kleinen Lächelns in den Augen, schaut Neve ihre Frau an und schließt die Augen bewusst für einen längeren Augenblick. Dann schaut sie Sam so fest wie möglich an. Sam braucht ein paar Schreckmomente bis sie diese kleine Geste versteht.

»Du kommst nach Hause, nicht wahr?«, lächelt sie vorsichtig. Wieder schließt Neve die Augen. Sam lacht erfreut, greift nach Neves Hand und küsst diese gefühlte tausend Mal.

»Und ich werde da sein und dich gebührend empfangen«, lächelt Sam verliebt. Glücklich schaut sie dabei zu, wie sich Neves Augen ein weiteres Mal schließen, sich danach aber nicht mehr öffnen. Neve geht neuen Träumen nach und tankt Kraft für die nächste Gefühlsattacke ihrer Frau.

***

Mit leuchtend großen Augen steht Precious am Nachmittag neben Neves Bett. Auch wenn Sam ihr sagte, dass es nicht sicher sei, ob Mummy wach wäre, wollte die kleine Maus zu ihrer Mutter. Sie wollte sie einfach sehen, mehr nicht.

»Mummy hat den Schlauch gar nicht mehr im Mund«, stellt sie erstaunt fest. Sam tritt hinter sie und streicht ihr zaghaft über den Kopf. Ihre Augen verweilen auf Neve, die noch immer mit dem Kopf zur Seite gedreht, schläft und nichts von dem kleinen Besuch mitbekommt.

»Nein, den braucht sie jetzt auch nicht mehr. Sie kann wieder alleine atmen. Sie wird aber noch sehr lange diese Maske tragen müssen, die ihr beim atmen hilft.« Neugierig blickt Precious zu ihr hoch.

»Warum?« Wie mittlerweile gewohnt, setzt sich Sam auf den Stuhl und zieht Precious auf ihren Schoß.

»Manchmal fühlt man sich morgens beim aufstehen doch immer total schlapp und ohne Kraft, oder?« Precious nickt interessiert.

»Das ist, wenn sich die Muskeln im Körper während des Schlafs entspannt haben. Dann fehlt ihnen die nötige Kraft, um richtig zu arbeiten. Und weil Mummys Atemmuskulatur die letzten Wochen nicht alleine arbeiten konnten, sondern das die Maschine für sie übernahm, sind Mummys Muskeln jetzt natürlich kleiner und schwächer geworden. Mummy muss die Muskeln erst wieder trainieren und ihnen zeigen, wie man atmet. Das kann einige Wochen dauern.«

»Wow«, haucht Precious fasziniert und blickt zu ihrer Mutter zurück, die sich von ihrem Schönheitsschlaf nicht ablenken lässt.

»Precious?«

»Ja?« Mit dem Blick auf ihre Mutter gerichtet, lässt sich die Maus nicht davon abhalten Neve zu beobachten.

»Du weißt doch was Mummy gearbeitet hat, bevor sie krank geworden ist, nicht wahr?« Precious nickt.

»Und du weißt auch, was ich arbeite, richtig?« Wieder nickt Precious.

»Was möchtest du denn später mal arbeiten, wenn du groß bist?« Precious rutscht auf Sams Schoß hin und her und zerquetscht ihr dabei fast die Oberschenkelmuskeln.

»Ich möchte Polizistin werden. So wie Mummy.« Plötzlich schmerzen die Oberschenkel gar nicht mehr. Im Gegenteil, alles in Sams Körper fühlt sich mit einem Mal taub und regelrecht tot an. Sam weiß nicht wie sie mit dieser Antwort umgehen soll. Ein Teil ihres Traums von letzter Nacht soll tatsächlich wahr werden? Precious will wirklich Polizistin werden? Ist das ihr Ernst?

Sam kann sich irgendwie nicht so recht für die berufliche Zukunft ihrer Tochter freuen, auch wenn sie weiß, dass es eigentlich das Richtige ist. Aber nach diesem Traum fühlt sich für Sam so einiges nicht mehr richtig an.

Selbst der Gefühlsausbruch den sie die Nacht bei Neve hatte, fühlte sich nicht richtig an. Zurückhalten konnte sie ihn dennoch nicht. Sie weiß, dass sie einfach nicht ohne Neve sein kann. Sie dann aber mit offenen Augen zu sehen und zu wissen, dass Neve weiterleben wird, ließ alles in ihr zusammenbrechen. Sie war in diesem Augenblick genau das was Neve ihr sagte - was Precious ihr im Traum mitteilte: Sie war egoistisch. Auch die Affäre mit Jessica zeigt das was Neve mit ihren letzten Worten sagte: Sam ist ein verdammter Egoist. Immer denkt sie nur an sich, ohne an ihre Mitmenschen, oder an die Folgen ihrer Entscheidungen zu denken. Für sie gilt immer nur das, was sie denkt und glaubt. Alles andere kommt erst später.

Ihr ist bewusst, dass sie ihrer Frau vergangene Nacht eine gewaltige Last an Verantwortung überlassen hat. Wenn Neve nicht wieder auf die Beine kommt, würde Sam ihr Versprechen nicht halten können und ihrer Frau in den Tod folgen. Es wäre wieder einmal eine egoistische Handlung, mit der sie die Kinder alleine lassen würde. Es ist jetzt aber ausgesprochen und rückgängig kann sie den Gefühlsausbruch nicht mehr machen. Sie kann jetzt nur hoffen, dass Neves Gehirn zu benebelt war, als dass sie wusste was um sie herum geschah und welche Worte Sam aussprach.

»Mummys Finger bewegt sich«, quiekt Precious ganz leise. Hektisch springt sie von Sams Schoß und tritt an das Bett. Auch wenn Sam diese kleine Bewegung nicht gesehen hat, glaubt sie ihrer Tochter. Precious wird sich das nicht eingebildet haben.

Erfreut beobachtet sie die Maus dabei, wie sie Neves Hand umgreift.

»Mummy«, flüstert sie leise und blickt zu ihrer Mutter hoch. Sechs Wochen musste Precious mit ansehen, wie ihre Mutter regungslos im Bett lag und sich nicht bewegte. Die paar Zuckungen ihrer Muskeln wurden für Precious zur Gewohnheit. Sie verlor irgendwann die Hoffnung ihre Mutter würde aufwachen, weil sie verstand, dass das ohne einem neuen Herzen nicht passieren würde. Jetzt aber schlägt dieses neue Herz in Neves Brust und arbeitet daran, zum Alltag zurückzukehren.

Mit einem brummenden Laut dreht Neve den Kopf gerade. Sie beginnt schwerer zu atmen. Sam tritt ebenfalls an das Bett und beobachtet ihre Frau kritisch. Sie muss wohl träumen. Die Gesichtszüge der älteren Frau verhärten sich.

»Mummy drückt meine Hand«, flüstert Precious und blickt zu den beiden Händen hinunter. Sam schaut dort ebenfalls hin. Sie behält Neves Hand im Auge. Sie will nicht, dass Neve ihrer Tochter unbewusst wehtut und deren Hand eventuell zu stark drückt.

Die brummenden Laute gehen weiter. Die Atmung steigt. Die Maske beschlägt mit jedem ausatmen.

»Was hat Mummy?«, haucht Precious vorsichtig, nur um Neve nicht zu erschrecken.

»Ich denke, dass sie träumt«, antwortet Sam ebenso leise. Ihre Augen verweilen auf den Monitoren die Neves Vitalfunktionen überprüfen. Bis auf einen leicht erhöhten Herzschlag kann sie nichts Außergewöhnliches erkennen.

»Ich sage den Schwestern Bescheid.« Ohne darüber nachzudenken, dass sie Precious alleine bei ihrer Mutter lässt die ihre Handlungen noch keineswegs unter Kontrolle hat, verlässt Sam das Zimmer und eilt an den Tresen der Intensivstation. Nicht mal eine Minute später kehrt sie mit einer Schwester zurück, die mit Sicherheit froh sein wird, wenn Neve diese Station verlässt. Nicht wegen ihr als Patientin, sondern wegen ihrer viel zu besorgten und nervenden Frau.

Die Schwester kontrolliert sämtliche Geräte und Maschinen und würde am liebsten die Schultern zucken, beherrscht sich aber. Anstatt mit Sam zu reden, spricht sie bewusst Precious an.

»Deiner Mummy geht es gut. Sie träumt bloß. Es kann sein, dass sie stark zu schwitzen anfängt, aber das gehört zum aufwachen dazu. Mummys Körper muss sich langsam wieder an alles gewöhnen und das ist nach so langer Zeit nicht immer einfach. Verstehst du das?« Wissbegierig lauscht Precious der Schwester mit großen Augen und schaut neugierig zu ihrer Mutter zurück.

»Ja. Wie lange dauert es dann aber noch, bis Mummy wach ist?«

»Das kann niemand so genau sagen. Wenn sie aufwacht, wird sie nur für ein paar Minuten die Augen öffnen können, weil ihr Körper noch zu schwach ist. Sie wird noch sehr viel schlafen. Aber von Tag zu Tag wird das besser, bis sie irgendwann wieder ganz lange wach bleiben wird. Einige Patienten schaffen das schon nach drei Tagen und andere brauchen bis zu zwei Wochen dafür. Es kommt also ganz auf den Menschen alleine an.«

»Ok.« Verständnisvoll nickt Precious und schaut weiterhin zu ihrer Mutter, während die Schwester der Südländerin einen genervten Blick zuwirft und danach das Zimmer verlässt. Sam weiß selbst, dass sie nervt. Aber muss man das gleich so deutlich zum Ausdruck bringen?

»Alles gut, Mummy.« Precious' Stimme ertönt so ruhig, dass Sam überrascht zu ihr zurückblickt. Ihre kleine Hand liegt vorsichtig um Neves Wange, während die andere noch immer die Hand ihrer Mutter hält. Precious' Hand streichelt sanft Neves Wange. Schon nach einigen Sekunden wird Neves Atmung ruhiger und gleichmäßiger. Sam glaubt sich das einzubilden und blickt zu einem der Monitore zurück. Aber auch die Technik zeigt ihr an, dass sich Neves Herzschlag normalisiert. Und weil Precious das natürlich auch nicht entgeht, lächelt sie stolz zu Sam hoch, schaut dann aber wieder zu Neve zurück, die mit jedem Atemzug ruhiger wird, bis ihr Kopf auf die Seite rollt. Sie atmet wieder geregelter und lockert auch den Griff um Precious' Hand. Dennoch verbleiben die kleinen Finger in der großen Hand der älteren Frau, die irgendwie versucht ins Leben zurückzukehren.

»Sieh«, flüstert Sam freudig. Ihr Herz beginnt aufgeregt zu schlagen, als sie Neves bebende Augenlider sehen kann. Mit Neves Hand in ihrer eigenen, rutscht Precious zu Neves Kopf hoch und schaut ihr direkt in das Gesicht.

»Mummy?« Ihre Stimme ertönt ganz leise. Sie will ihre Mutter nicht erschrecken.

Als wenn sie auf Precious gehört hätte, öffnet Neve ganz langsam die Augen. Genau wie letzte Nacht huschen ihre Augen wild hin und her, bis sie bei Precious stehen bleiben. Auch wenn Sam sich gerne hinter Precious stellen und Neve zeigen möchte, dass sie ebenfalls da ist, verdrängt sie diese egoistische Handlung und tritt stattdessen einen Schritt zurück. Dieser Augenblick soll nur den beiden gehören. Schließlich ist sie lernfähig.

»Hallo Mummy«, haucht Precious. Ihr ganzes Gesicht strahlt, als Neve sie schwach aber mit relativ offenen Augen anschaut. Neve schluckt schwer. Ihr Blick ruht auf ihrer Tochter. Ihre Augen beginnen ganz langsam zu leuchten, Sam kann es sehen. Etwas was ihr Herz höherschlagen lässt.

»Precious.« Neves Stimme ertönt leise und kraftlos hinter der Maske. Erschrocken und schon fast geschockt, schlägt sich Sam eine Hand vor den Mund, nur um nicht vor Freude zu quieken. Neve hat es tatsächlich geschafft zu reden. Sie hat Kräfte mobilisiert, die eigentlich noch gar nicht da sind, nur um ihre Tochter zu begrüßen.

Tränen steigen in Sam auf. Das ist alles zu schön um wahr zu sein. Das muss alles ein Traum sein. Wahrscheinlich wacht sie gleich auf und stellt fest, dass sie wieder mal alles nur geträumt hat.

»Hallo Mummy«, freut sich Precious überschwänglich und drückt ihrer Mutter zahllose Küsse auf die Stirn. Dann zeigt sie zur Seite.

»Mommy ist auch hier«, bindet sie Sam mit in diese Begrüßung. Auch wenn Sam das eigentlich nicht wollte, tritt sie dennoch in Neves Blickfeld. Dieses kleine Aufeinandertreffen sollte wirklich nur Precious und Neve gehören. Die kleine Maus scheint aber ihren eigenen Plan zu haben.

Schwach hebt Neve den Blick und schaut zu Sam hoch. Die Südländerin könnte vor Glück und Freude heulen, weil sie ihrer Frau in die Augen blicken kann, verbietet sich diesen Gefühlsausbruch aber.

Neve schaut mit zittrigen Augen zu ihr hoch. Ihr Blick wird matt, er bekommt einen zerstreuten Ausdruck. Nach und nach legt sich ihre Stirn ganz langsam in mickrige Falten. Nachdenklich schaut sie Sam an, bis sie schwer ausatmet. Die Maske beschlägt, ihre Augen fallen zu. Sie bleiben geschlossen.

***

Die nächsten Tage ändert sich nichts an diesem Zustand. Neve kann nur für wenige Momente ihre Augen offenhalten. Etwas was selbst der behandelnde Arzt ungewöhnlich findet. Aber alle neu gemachten Tests erbringen gute Ergebnisse. Medizinisch betrachtet ist Neve auf dem besten Weg einer unkomplizierten Genesung, nur scheint ihre körperliche Kraft noch nicht zurückgekehrt zu sein. Der Arzt beruhigt Sams Sorge damit, dass die Wochen vor Neves Zusammenbruch offensichtlich zu anstrengend für ihren Körper waren und dieser sich nun ganz langsam von diesen Strapazen erholt. Etwas was Sam ganz und gar nachvollziehen kann.

Laura und die anderen rennen ihr auch schon seit Tagen hinterher, weil sie Neve endlich sehen wollen, aber die Südländerin schafft es irgendwie immer wieder die Hunde zurückzuhalten. Mit aller größten Mühe, aber sie schafft es. Sie konnte ja nicht wissen, dass sie am heutigen Tag etwas Rückendeckung gebrauchen könnte. Sie strauchelt nämlich einen Schritt zurück, als sie den behandelnden Arzt an Neves Bett stehen sieht. Ihre Frau ist wach und hört dem Arzt angestrengt zu. Es muss sie enorm viel Kraft kosten. Sam kann die Anstrengung in Neves Gesicht sehen.

Leise betritt Sam das Zimmer, begrüßt den Arzt mit einem kurzen Nicken, der das Gespräch in diesem Moment beendet. Er wirft Sam noch einen kurzen Blick zu, schaut ein letztes Mal zu den Monitoren und verlässt danach das Zimmer.

Wie angewurzelt bleibt Sam vorerst stehen, geht dann aber näher an das Bett heran und umgreift Neves Hand. Ohne bisher Notiz von ihr genommen zu haben, blickt Neve mit kleinen aber offenen Augen zu der Zimmertür zurück. Dann entzieht sie sich der Hand ihrer Frau, indem sie ihre eigene langsam zurückzieht. Verwundert schaut Sam zu den Händen zurück, die mit einer unfassbaren Entfernung zueinander auf der Matratze liegen.

Ist es eingetreten? Ist das passiert was ihr der Arzt nach der OP erklärt hat? Erkennt Neve sie im Augenblick noch nicht wieder? Wird sie noch ein paar Tage brauchen, bis sie weiß wer diese Frau an ihrem Bett ist? Weiß Neve überhaupt was gerade passiert?

»Sechs Wochen.« Neves Stimme klingt ebenso leise und kraftlos wie vor ein paar Tagen, als sie ihre Tochter begrüßte. Sie legt den Kopf zur Seite und schaut Sam direkt an. Sie schaut ihr ganz genau in die Augen.

»Sechs Wochen, Sam.« Sams Herz beginnt vor Freude aufgeregt zu hüpfen. Neve erkennt sie. Neve weiß wer sie ist.

»Ich wollte das nicht, Sam.« Angestrengt holt Neve tief Luft. Die Beatmungsmaschine hilft ihr dabei rettenden Sauerstoff in ihre Lungen zu füllen.

»Sechs Wochen habt ihr um mich gebangt und …«, wieder holt Neve tief Luft »und seid durch die Hölle gegangen.« Wo nimmt diese Frau nur die Kraft her, um so deutlich reden zu können?

»Das war mein freier Wille, Sam.« Die Maschine geht ihrer Arbeit nach und transportiert Sauerstoff in Neves Körper.

Sam kann nicht glauben, dass Neve redet. Dass sie tatsächlich so viele Sätze hintereinander aussprechen kann. Dennoch wandern ihre Augen verunsichert durch das Zimmer. Sie spürt, wie Neve ihr in diesem Augenblick den Arsch bis zum Pluto aufreißt. Sie braucht nur ein paar Worte zu nutzen und dennoch blutet Sam aus dem Arsch, wie das Wasser die Niagarafälle hinunterfließt.

Sie sieht ein kleines Röhrchen auf dem Tisch neben Neves Bett stehen. Dort befinden sich die Überreste des Stents, der ihrer Frau eingepflanzt wurde. Das Ding was sie töten sollte. Das Ding das nur entfernt werden konnte, weil Neves Herz … . Neve weiß also was passiert ist. Dass sie ein fremdes Herz in ihrem Brustkorb trägt. Dass genau das passiert ist, was sie nicht wollte.

»Sam, wenn das Schicksal … .«

»Nein!« Auch wenn es das Schlimmste ist was Sam im Augenblick machen kann und tatsächlich eine Diskussion mit ihrer Frau beginnt, wagt sie diesen Schritt. Sie tritt ganz an das Bett heran, beugt sich über ihre Frau, schaut ihr direkt in die Augen und umgreift ihr Gesicht.

»Ja, ich war egoistisch! Und ja, ich habe auch ebenso verdammt egoistisch gehandelt. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe - dass ich deinen Wunsch ignoriert habe. Aber ich konnte und wollte dich nicht gehen lassen, unter keinen Umständen. Glaube mir, dein Tod wäre für uns alle qualvoller gewesen, als die letzten Wochen.« Mit Tränenuntersetzten Augen blickt Neve zu ihr hoch.

»Sam«, sie holt tief Luft »ich liebe dich so sehr … so sehr.« Die Maschine geht gewissenhaft ihrer Arbeit nach. Das Geräusch macht Sam nervös.

»Aber … .«

»Nein Neve. Ich erwarte und verlange von dir, dass du mir noch mindestens die nächsten dreißig Jahre auf die Nerven gehst. Dass du als alter, schrumpeliger, ergrauter und tattriger Greis eines natürlichen Todes stirbst. Du wirst weder durch eine Kugel, noch durch Gift, noch durch irgendetwas anderes sterben. Dafür werde ich sorgen.« Neve versucht sich unter der Maske an einem schwachen Lächeln.

»Wann hörst du endlich auf«, sie atmet tief ein »so unmöglich zu sein?«

»Dann, wenn du aufhörst mich zu lieben.«

»Das wird niemals passieren.« Mit einem süßen Lächeln zwinkert Sam ihrer Frau zuversichtlich zu.

»Dann ist das Thema hiermit beendet«, flüstert sie und haucht Neve einen Kuss auf die Stirn.

»Ich bin so müde«, murmelt Neve leise.

»Schlaf, ich werde bei dir bleiben.« Das letzte Wort ist noch nicht ganz ausgesprochen, da fallen Neve auch schon die Augen zu.

Vorsichtig setzt sich Sam auf die Bettkante, streicht ihrer Frau mit einem Finger über die Stirn und beobachtet sie beim schlafen. Dass ihr Körper und ihr Verstand das Maß der Erträglichkeit erreicht haben, dass sie nichts Neues mehr aufnehmen und verarbeiten kann, merkt Sam, als sie auf dem Bett zusammensackt und in einen Weinkrampf verfällt. Ihr Kopf sinkt auf Neves Brust. Weinend vergräbt sie sich in ihrer Frau. Neve lebt. Sie ist da. Sie wird bei ihr bleiben. Sie wird sie bis zum letzten Tag begleiten … .

Final Game

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