Читать книгу Die Unausstehlichen & ich - Die Welt ist voller Wunder - Vanessa Walder - Страница 10

ALTE GEHEIMNISSE

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Ich hab erst so richtig kapiert, was ein Gefängnis is, als wir dich zum ersten Mal besucht haben. Ja, klar hab ich gewusst, dass man da reinkommt, wenn man ein Verbrechen begangen hat und dabei erwischt worden is. So ’ne richtige Vorstellung hab ich trotzdem nicht gehabt. Halb hab ich erwartet, dass sie dir die Haare kurz geschoren haben und du in einem orangen Overall mit Handschellen vor mir sitzt.

Hat mich nich gestört, dass jemand vom Jugendamt dabei war. Ich war so nervös! Die Justizvollzugsanstalt hat mich ans Krankenhaus erinnert, in dem Opa gestorben is. Beides Orte, die man nicht braucht, wenn alles gut is. Krankenhäuser gibt’s nur, weil Leute verletzt oder krank werden. Und Gefängnisse, weil Leute andere verletzen. Aber das sag ich dir nicht, nicht an dem Tag.

Du siehst auch so schon zerknittert und zerschlagen aus. Ich bin erleichtert, dass du Jeans anhast und ein normales Hemd. Keine Handschellen, soweit ich sehen kann. Und keine Eisenkugel am Fuß. Wir sind nicht allein im Besucherraum. Da sitzen auch andere Knastis mit ihren Familien. Am Nebentisch knutscht ein Pärchen, bis einer der JVA-Mitarbeiter mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopft.

„Hey, hier sind Kinder“, sagt er nicht unfreundlich. „Die wollen nich sehen, wie ihr euch die Zungen verknotet.“

Hat er recht, woll’n wir nich.

Und dann sitz ich vor dir und seh, wie du versuchst, die Tränen zu schlucken.

„Hallo, meine Maus“, sagst du heiser, als hättest du deine Stimme lang nicht benutzt, und legst deine Hand auf meine. Sie fühlt sich anders an als früher. Weicher, glatter, feuchter. Gefällt mir nicht. Aber mir gefällt nichts an alldem hier.

„Hallo, Papa.“

Die Frau vom Jugendamt gibt dir die Hand, routiniert, freundlich, schaut dir auch in die Augen dabei. Das ist nicht ihr erster Besuch in einer JVA. Auch Papas bauen . Is so. Und wenn, dann is sie da.

„Geht’s dir gut?“, fragst du.

Ich starre dich an. Was soll ich darauf sagen, hm? Geht mir voll geil, danke! Ich bin Elenie Alser, acht Jahre alt. Meine Eltern hassen sich, ich darf nicht mehr zu Hause wohnen, mein Vater is im Knast, meine Mama in der Klapse und ich bin in ’nem Heim … alles nice!

Du siehst, dass der Ball ins Aus geht, und machst die Frage kleiner.

„Kriegst du genug zu essen?“

Ich nicke. Dass es mir nicht schmeckt, lass ich aus. An dem Tag gab’s Pizza im Heim. Hat sich angefühlt, als würd ich auf nassen Buchdeckeln rumkauen. Trotzdem: Ja, ich krieg zu essen. Den Nachtisch haben mir so ’n paar weggefressen, aber da hab ich ’n Plan.

„Und hast du neue Freunde gefunden?“, fragst du.

„Tasha“, sage ich. „Tasha is meine Freundin.“

In echt is sie mehr so ’n Bodyguard, aber auch das sag ich nicht.

„Wie is es hier drin?“, frage ich dich.

Du atmest tief ein.

„Okay.“

„Kriegst du genug zu essen?“

Dein Gesicht explodiert in einem gigantischen Lachen wie eine Scheibe, die zerspringt. Ich lache auch. Die Frau vom Jugendamt lacht mit uns. Etwas Magisches passiert: Das Lachen trägt uns weg, raus, irgendwohin, wo’s schön is. Vielleicht auf eine Picknickdecke unter einem Baum im Frühling. Klar sind wir immer noch im Knast. Aber für den Moment spüren wir die Mauern nich.

In Saaks gibt’s keine Mauern, nur Berge. Trotzdem gibt’s Besuchstage für die Familien – jeden Sonntag. Nur wohnen die meisten Eltern so weit weg, dass immer nur ein paar kommen. Dantes Mutter is jeden zweiten Sonntag hier und meistens bringt sie seine Halbschwester Marie mit. Marie is fünf und sieht aus wie eine Porzellanpuppe. Sie hat dieselben goldenen Haare wie Dante und ihre Mutter, aber ihre Augen sind braun, nicht grau wie Dantes. Auch die Farbe ihrer Haut ist eher Milch, nicht Honig.

Eine meiner Pflegemütter hat Porzellanpuppen gehabt. Die saßen auf einer Bank gegenüber von der Klotür. Mein kleiner Pflegebruder damals hat mega gehabt vor den Puppen. Deshalb hat er sich nicht getraut, in der Nacht aufs Klo zu gehen, und immer aus dem Fenster gepullert. Unsere Pflegeeltern haben sich extremst gewundert, dass der komische Busch darunter immer verwelkt war. Die haben gedacht, die Wühlmäuse wär’n schuld. Ich hab nix gesagt. Klar. Pflegis und Heimis verpfeifen sich nicht. Und, ganz ehrlich: Wenn ich nicht älter gewesen wär und ’ne größere Blase gehabt hätte als der Kleine – ich hätt auch aus’m Fenster ge .

Jedenfalls: wenn sich Dantes Schwester zwischen die Puppen gesetzt hätte – perfekte Tarnung, Mann! Sogar das Kleid mit den Punkten, das sie heute anhat, hätte einem der Püppchen gehören können. Ein echtes Sonntagskleid.

Normalerweise fahr ich an den Besuchstagen mit der Gondel ins Tal und geh zu Mattis zocken. Weil: Mattis wohnt nicht im Heim, sondern bei seiner Familie im Tal. In seinem Haus is es immer laut – aber auf die gute Art. Wo alle durcheinanderreden und brüllen und lachen und das Radio läuft und jemand übt Klavier und einer schneidet Gemüse … Es riecht immer nach irgendwas Essbarem oder nach Bastelzeug. Manchmal überschneidet sich das, wenn Mattis’ kleine Schwester Magdalena mit Essen bastelt. Mir hat sie eine Schachtel geschenkt, die sie mit Makkaroni verziert hat. Hat ihr keiner gesagt, dass die Nudeln vorher nicht gekocht sein sollten. Und die Tomatensoße wär auch nicht nötig gewesen. Ich hab mich trotzdem gefreut. Weil mit den gekochten Nudeln hat sie Enni auf den Deckel geschrieben. Ich hab sie erst weggeworfen, als der Schimmel dran dunkelviolett war. Is einfach nich meine Farbe. Bei einer von meinen Pflegefamilien is immer mal wieder ein großer, getigerter Kater aufgetaucht, is einfach durchs Fenster oder die Terrassentür gekommen und hat sich aufs Sofa gelegt. Hat nie wen gestört, wir haben uns alle an ihn gewöhnt und uns gefreut, wenn er da war. Für Mattis’ Familie bin ich der getigerte Kater.

Heute fahr ich nicht runter ins Tal. Stattdessen sitze ich verlegen und verkrampft mit Dantes Mutter und Schwester in der Bibliothek.

„Schon irgendwie komisch, dass es hier oben ein paar Grad kälter ist als unten im Tal, oder?“, sagt Viola Dahlem.

Das Wetter. Sie redet über’s Wetter!

Ihre Stimme klingt so sanft und angenehm, wie ihre Augen aussehen. Es sind nicht Dantes Augen. Violas Augen sind sanft und braun. Nicht felsig und grau. Dantes Augen nehmen alles auf, Violas geben alles her. Ich verstehe jetzt, was Dante gemeint hat: Natürlich kann sie nicht lügen. Wenn die Augen die Fenster zur Seele sind, dann hat Viola Dahlem keine Vorhänge. Plötzlich tut sie mir leid und ich merke, dass ich sie gern beschützen will. Komischer Moment, als mir einfällt, vor wem ich sie beschützen will … vor mir, jetzt gerade. Immerhin bin ich’s, die ihr ihre Geheimnisse entlocken möchte. Und die will sie sicher nicht freiwillig hergeben.

„Haben Sie schon immer in Saaks gewohnt?“, frage ich höflich, weil’s irgendwie zum Wetterthema passt.

Sie nickt und richtet die Augen auf mich. „Früher, ja. Dann haben wir das Haus in Heuersfeld gekauft. Da war Dante noch ein Baby.“ Sie lächelt ihn zärtlich an. Dabei sehe ich die kleine Zahnlücke zwischen ihren Vorderzähnen. Sie sieht schön aus, aber das sind nicht Dantes Perlenzähne. „Das ist nur neunzehn Kilometer von hier, hinter Chriesfelden. Wenn’s ein klarer Tag ist, sehen wir die Saakser Spitze vom Wohnzimmer aus.“


Sie legt Dante eine Hand auf den Unterarm. Er lächelt zurück. Ein bisschen so, wie alte Leute manchmal kleine Kinder anlächeln. Marie achtet nicht auf uns. Sie darf mit dem Handy ihrer Mutter spielen und murmelt leise (und lahme) Flüche beim Zocken.

„Haben Sie das Internat noch als Hotel gekannt?“, frage ich.

Viola Dahlem lacht und sieht dabei aus wie ein junges Mädchen. „Gekannt? Ich hab hier gearbeitet. Die halbe Familie war hier angestellt, bevor die zugemacht haben … Ich war im Service. Mein Vater war Concierge. Das hat noch was geheißen damals. Und meine Mutter war Souschefin. Die Küche hier war legendär! … Aber eure Luisa steht dem ja in nichts nach. Nur damals gab es hier noch richtige Feste, Bälle, für Hunderte Gäste! Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen …“

Ich sehe mich um. Doch, kann ich. Es is gar nich schwer, sich das Saakser Internat so vorzustellen, wie Viola es beschreibt. Die Bibliothek sieht aus wie in einem Film. Die Decke über uns ist gewölbt und wird von grauen Säulen gestützt. Jede hat eine andere Gestalt: Götter, Drachen, Pferde, Schlangen … Die Holzregale sind uralt und geschnitzt und tragen 50 000 Bücher. Ich hab unseren Deutschlehrer Herrn Laurenz mal gefragt, wozu wir die überhaupt brauchen. Alle Schüler haben nämlich Zugang zu Hörbüchern und E-Books, ohne Limit.

„Aber Enni – die riechen nach nichts!“, hat er gerufen. „Alte Bücher duften … nach Vanille.“

„Und neue?“

Er hat gelächelt. „Nach Versprechen.“

Is wahrscheinlich Shakespeare oder so ’n . Er hat recht übrigens: Ich hab an ein paar alten Wälzern geschnüffelt. Die riechen wie die Vanillekipferl von Oma.

„Ich find’s immer noch sehr prächtig“, sage ich. „Ich hab noch nie irgendwo gewohnt, wo’s so schön war.“

„Nein“, sagt Dante. „Ich auch nicht.“

Und Dantes Mutter nickt. „Ich bin froh, dass ihr hier wohnen könnt …“ Ihre Stimme wird dünner. „Auch wenn du uns furchtbar fehlst, Schatz!“

Marie schaut von Dantes Handy auf. „Kommst du bald nach Hause und wohnst wieder bei uns?“

Dantes Mutter wird verlegen, aber Dante sieht seine Halbschwester direkt an. Er ist zwölf. Er hat noch nicht vergessen, dass keiner gern angelogen wird. Auch nicht kleine Kinder. Gerade nicht kleine Kinder.

Kennst du diese 3-D-Bilder, wo du auf den ersten Blick nur kleine Punkte siehst? Du musst schielen, damit du raffst, was da in 3-D zu sehen ist. Aber wenn du’s mal gesehen hast, siehst du’s immer. Mit Lügen ist es genauso. Wenn du jemanden mal bei ’ner Lüge erwischt hast, wird er nie wieder ganz flach.

„Nein, Marie“, sagt Dante sofort, aber total lieb. Ich könnte ihn umarmen dafür. „Ich wohne hier, bis ich mein Abi hab, und dann geh ich an die Uni.“ Er grinst. „Hoffentlich.“

Marie nickt und spielt weiter, komplett unbeeindruckt. Man muss schon ein bisschen Röntgenblick haben, um es zu sehen: dass die Kleine gerade nicht wirklich zockt. Sie guckt nur aufs Display und tut als ob. Schindet Zeit, bis sie sich gefangen hat und ihr keiner anmerkt, wie sehr sie die Information trifft. Die Puppe ist hardcore! Ich stupse sie unterm Tisch.

„Meine Mutter wohnt in Berlin, mein Vater in Köln und mein Bruder ist in der Schweiz“, sage ich leise.

Sie schaut kurz auf. „Du hast einen Bruder?“

„Noah“, sage ich. Und wie immer is da dieser Stich, wenn ich an ihn denke. „Er fehlt mir total. Aber wenn wir zusammenwohnen würden, würd er mir wahrscheinlich total auf’n gehen. Wie Dante dir.“

Marie lacht auf. „Total“, sagt sie und grinst mich an.

Dante und seine Mutter reden inzwischen über die Uni und ich klinke mich wieder ein.

„Mit deinen Noten – natürlich!“, ruft seine Mutter gerade überzeugt.

„Mal gucken“, meint Dante. „Bis dahin sind’s noch Jahre!“

„Du kriegst sicher so ’n Begabtenstipendium“, sage ich harmlos.

Na klar seh ich, dass Viola sofort steif wird. Sie sieht mich an, als würd sie erst jetzt merken, dass ich am Tisch sitze. Vielleicht ist es so. Zumindest merkt sie erst jetzt, wer da am Tisch sitzt. Dante hält kurz die Luft an. Jetzt bin ich dran.

„Das wollte ich schon längst fragen“, sage ich harmlos und es tut mir leid, ehrlich! „Von wem kriegt Dante eigentlich sein Stipendium hier in Saaks?“

„Was?“ Viola haucht das Wort nur. In ihrem Hirn rattert es. Dante und ich sehen sie erwartungsvoll an. Schließlich muss sie was sagen. „Also, das ist … Reden wir heute doch nicht über so bürokratisches Zeug. Das interessiert euch garantiert nicht. Wir wollten doch Boot fahren gehen.“

Dantes Mutter will aufstehen, aber Dante, Marie und ich rühren uns nicht. Marie tippt weiter auf dem Handy rum und hält es ihrer Mutter kurz vors Gesicht, um es zu entsperren.

„Gleich“, sagt Dante geduldig. „Enni hat dich was gefragt, Mama. Ich hab’s ihr nicht sagen können. Wer zahlt denn mein Stipendium hier?“

Marie guckt von einem zum anderen und weiß nicht, was los ist. Wie denn auch? Viola zuckt mit den Schultern und versucht zu klingen, als wär die Antwort nicht wichtig.

„Puh, muss ich nachsehen. Irgendeine Stiftung in München.“

„Haben Sie das Stipendium beantragt?“, frage ich wie aus der Pistole.

„Ich … glaub schon, ja. Ja, klar, vor Jahren.“

Dante und ich warten. Sie sagt nichts mehr.

„Und warum kriegt er es?“, frage ich schließlich. „Ich meine, wofür? Ist es ein Begabtenstipendium? Oder eins für Rollstuhlfahrer?“

Seine Mutter sieht mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt. Empört. Ich höre ein Rauschen in den Ohren und sehe ein bisschen rot. Ich versteh sie ja. Sie will das nicht erzählen. Aber zumindest Dante hat ein Recht, es zu wissen.

„Das ist eine gemeinnützige Stiftung, Enni“, sagt Dantes Mutter kalt. „Die Satzung kenn ich nicht auswendig, aber ich kann dir bestimmt einen Ausdruck besorgen. Und ja – Dante bekommt das Stipendium, weil er im Rollstuhl sitzt.“

Das Rauschen wird lauter. Ich hab nix dagegen, dass sie lügt. Manchmal is Lügen auch nur Karate: mehr Verteidigung als Angriff. Es is auch nicht schlimm, dass sie schlecht lügt. Sie würd’s besser machen, wenn sie könnte. Was mich echt ärgert ist, dass Dante die Situation so unangenehm ist. Dass er am liebsten abhauen würde. Er bleibt trotzdem. Und er sieht nicht mich an, sondern seine Mutter. Zeigt damit, dass er wusste, was ich sagen würde und dass er einverstanden ist. Seine Mutter registriert es und wird nervös.

„Komisch“, sage ich zu ihr. „Ich sitze nicht im Rollstuhl. Und krieg dasselbe Stipendium. Eine Anwaltskanzlei überweist das Geld.“

Sie starrt mich an.

„Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien die Stiftung Stipendien vergibt“, sagt Dantes Mutter, jetzt offen genervt. „Und wer für die Stiftung die Buchhaltung macht. Da fragst du besser Frau Halbach. Schatz, Marie und ich gehen zum See … kommst du mit?“

Dante und ich sind wie die Spatzen auf der Stromleitung. Wir spüren’s nich direkt, aber da läuft was Elektrisches unter unseren Füßen durch. Dante sieht mich kurz an. Ist es okay? Ich nicke und er fährt hinter seiner Mutter her. Ich folge ihnen ein Stück, aber es ist klar, dass ich nicht eingeladen bin, mit ihnen Boot zu fahren. An einer der Säulen bleib ich stehen und starre das Bild an, das da an der Wand hängt. Es ist alt, vielleicht fünfzehn Jahre. Und es wurde hier oben in Saaks aufgenommen, als es noch ein Hotel war. Auf dem Foto sitzen zwei Männer an einem runden Tisch am Ufer von unserem See. Sie sind beide jung, haben Anzüge an und sehen reich und schön aus. Eine schöne, junge Frau bringt ihnen Champagner auf einem Tablett. Sie trägt eine Hoteluniform. Das ist ganz klar Dantes Mutter, als sie hier im Hotel gearbeitet hat. Unabsichtlich reißen sich meine Augen von dem Foto los und folgen Dantes Mutter. Sie steht am Ausgang der Bibliothek, wartet auf Dante – und beobachtet mich, die Augen geweitet. Ich sehe, dass sie Angst hat. Was ich nicht begreife ist: warum?

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