Читать книгу Die Unausstehlichen & ich - Freunde halten das Universum zusammen - Vanessa Walder - Страница 11
ZEITKAPSEL
ОглавлениеWir schaffen es noch rechtzeitig vor Frau Pistara in den Mediensaal. Sie steht vor der großen Leinwand wie ein Kinoproduzent, der auf Premierengäste wartet. Der Saal liegt mitten im Erdgeschoss und hat als einziger Raum im ganzen Internat keine Fenster. Die Wände sind schalldicht, damit der Chor und das Schulorchester hier ungestört üben können. Jeden Samstag gibt’s hier außerdem für alle Internatsschüler einen Kinofilm. Ja, einen Kinofilm. Und keinen uralten. Irgendwas, was auch in Berlin gerade läuft.
Ich hab mich inzwischen halbwegs beruhigt. Der Gedanke, dass Dante, Karan, Mattis und Lucky mir bei der Suche nach Mo helfen, hat das Rauschen in meinen Ohren leiser werden lassen.
„Wir sind immer noch in der Antike“, ertönt Frau Pistaras tiefe Stimme, als alle sitzen. Sie klingt, als hätte jeder Zuhörer ein Vermögen bezahlt, um sie zu hören. Und ein bisschen, als würde sie im Stillen alle bedauern, die sie nicht hören können. Und sehen! Es stimmt, dass Francesca Pistara komplett verrückt nach früheren Zeiten ist. Selber ist sie total zeitlos. Das ist echt schon creepy! Sie könnte dreißig sein oder sechzig. Ich glaub, ihr Gesicht hat einfach nie lang genug denselben Ausdruck, damit Falten es sich in irgendeiner Region gemütlich machen können. Mit ihrer schwarzen Mähne und den grünen Augen sieht sie aus wie eine Amazonen-Kriegerin, die keinen Bock gehabt hat, Wonderwoman zu spielen. Wie immer trägt sie einen teuren Hosenanzug, heute einen weißen. Und ihre Schuhe müssten eigentlich im Museum stehen. Im Waffenmuseum. Ich mein – bei den Absätzen? Alter!
Geschichte hab ich immer gehasst. Echt jetzt – wen interessiert’s, was vor tausend Jahren irgendwer mit irgendwem gemacht oder ausgemacht hat? Okay, ein paar Sachen muss man vielleicht wissen. Du willst ja nicht jeden Morgen aufwachen und erst mal mit den Österreichern darum kämpfen, wo die Grenzen von Deutschland anfangen. Oder klarstellen müssen, dass es keinen Sklavenhandel in Bayern gibt. Aber wer hier vor zweitausend Jahren gewohnt hat und mit wem die alle verwandt waren, das juckt mich relativ wenig. Auftritt Dr. Francesca Pistara.
„Wir besuchen heute einen Tatort “, sagt sie trocken. Ich kann trotzdem spüren, dass sie aufgeregt ist und sich freut, unsere Reaktion zu erleben. Sie weiß, sie hat einen Leckerbissen für uns.
„G-g-geil“, sagt Omar auch sofort. „W-w-wie v-v-viele Leichen?“
Ein paar von uns kichern. Frau Pistara nicht.
„Tausende.“
Das Kichern hört auf.
„Al-Qaida“, vermutet ein Mädchen.
„Im antiken Italien“, erinnert uns Frau Pistara. Sie verdreht nicht die Augen, aber sie klingt, als würde sie es tun. „Genauer gesagt, in der Nähe des heutigen Neapel … in Kampanien. 79 nach Christus gibt es hier blühende Städte: Pompeji, Herculaneum, Stabiae und Oplontis … Städte mit riesigen Tempeln, mit Straßen aus Stein, Badehäusern und Theatern, mit Wahlwerbung und Haustieren. Pompeji existiert damals bereits seit eintausend Jahren! Hier finden Pferderennen und Gladiatorenkämpfe statt. Es gibt Politiker und Prostituierte –“
„Geil“, flüstert ein Junge aus dem Tal.
Alle sehen ihn an. Er wird rot. „Gladiatoren!“
„Städte, in denen Steuern bezahlt, Kinder geboren, Geschichte gelehrt, Musik gemacht wird …“, fährt Frau Pistara fort. „Im Herbst des Jahres 79 fängt hier der Boden an zu beben. Erst leicht, dann stärker. Risse entstehen und Gase wabern aus dem Erdreich. Es riecht nach faulen Eiern … Manchen Bewohnern von Pompeji und Herculaneum genügen diese Warnsignale und sie verlassen die Städte. Viele bleiben. Sie wüssten gar nicht, wohin.“
Sie tippt auf ihr Tablet und an der weißen Wand hinter ihr erscheinen Bilder von Tempeln, Theatern, Vasen, Tellern und Statuen. Ich schlucke.
„Es ist Mittag, als es anfängt, Asche zu regnen. Über einem nahen Hügel steigt eine große, dunkle Wolke in den Himmel. Mit der Asche hagelt es Bimsstein. Immer mehr und mehr. Er legt sich als tödliche Schicht über alles und jeden. Die Asche wird dichter, die Luft weniger, die grauschwarze Schicht dicker und dicker und schwerer und schwerer. Menschen fliehen oder versuchen es zumindest, andere verbarrikadieren sich in ihren Häusern. Sie werden sie nicht mehr verlassen.“
Wir sitzen nicht mehr auf unseren Stühlen im Klassenzimmer. Frau Pistara hat recht: Wir sind im Italien der Antike. Wir riechen die Asche. Wir spüren, wie der Boden bebt.
„Die Dächer der Häuser sind aus Holz. Sie halten den Steinschichten und der Hitze nicht länger Stand. Die Luft ist heiß, unerträglich, durchdrungen von toxischen Gasen. Die Menschen binden sich Kissen vors Gesicht. Es ist zu spät, um zu fliehen. Felsbrocken blockieren Türen und Fenster. Einige Menschen haben es ans Meer geschafft und warten am Strand auf rettende Boote. Über dem Hügel in der Ferne ist aus der Wolke eine schwarze Säule geworden, die dreißig Kilometer in den Himmel steigt wie ein verdrehter Tunnel.“
Dreißig Kilometer! So lang ist Berlin.
„F-f-“, sagt Omar.
Frau Pistara nickt. „Sehr fein bemerkt. Macht trotzdem fünfzig Cent. Dreißig Kilometer Gase, Asche und Stein über einem Hügel. Einem Hügel, von dem vermutlich kaum einer der zigtausend Bewohner dieser Region wusste, dass es sich um einen Vulkan handelt: den Vesuv. Doch so bedrohlich diese Säule ausgesehen haben mag: Das Ende kommt erst, als sie zerbricht. Ein Feuersturm kommt aus dem Vulkan. Mehrere Hundert Grad heiße Luft fegt mit Hunderten Stundenkilometern über die Landschaft und löscht alles Leben aus. Die wenigen Bewohner, die in den letzten grausamen Stunden überlebt haben, werden binnen Augenblicken getötet. Wie eine Decke legen sich Glutlawinen, Schlamm, Asche und Stein über die gesamte Region und verhüllen den Schauplatz der größten Tragödie der Antike.“ Ich starre Frau Pistara an und frage mich, ob ich Halluzinationen hab. Nein, ich seh richtig: Sie lächelt selig und das ist gruseliger als alles, was sie erzählt hat. Ich bekomme eine Gänsehaut, als sie sagt: „Die größte Tragödie der Antike … und der größte Glücksfall für Historiker!“
Wir sehen sie alle ganz ähnlich an. So, als hätte sie sich einen Wurm aus der Nase gezogen. Seelenruhig tippt sie auf ihrem Tablet herum. Neue Bilder erscheinen. Von Mosaikböden, auf denen Hunde, Pferde und schöne Menschen in weiten Gewändern zu sehen sind, von Kopfsteinpflasterstraßen zwischen hohen Säulen, riesigen Gewölben mit bemalten Decken und Frauenstatuen, die Dächer stützen, bunten Wandgemälden, Krügen und Tellern auf Tischen, von riesigen Steintribünen wie für die Fußballweltmeisterschaft … Das letzte Bild zeigt eine große Stadt von oben.
„Pompeji, exakt 79 Jahre nach Christus“, sagt Frau Pistara. „Die Grundmauern, Straßen, Tempel und Theateranlagen, Säulen, Museen, Villen und Häuser …“, fährt sie fort. „Eintausendsiebenhundert Jahre lang lag all das begraben. Unter einer drei Meter hohen Schicht aus Bimsstein. Und einer drei Meter hohen Schicht aus Asche. Der Vesuv hat all das für uns verpackt. Wie in einer Zeitkapsel.“
Wir betrachten das Bild, sprachlos. Es sieht aus, als wären die Bewohner gerade gegangen. So, wie bei mir im zweiten Stock. Als hätte sie ein wilder Stier vertrieben. Nur sind sie nicht vertrieben worden. Nicht alle.
„Jahrhundertelang ahnte niemand, dass unter dem Boden zu Füßen des Vulkans eine ganze Welt begraben lag … und das, obwohl einer der größten Dichter der Antike diese Apokalypse beschrieben hat: Plinius der Jüngere wurde Augenzeuge der Katastrophe, die seinen Onkel das Leben kostete.“
„Aber … ich mein, … warum haben die denn unter einem Vulkan gewohnt?“, fragt ein Junge.
Viele nicken.
„Fünfzig Cent. Vermutlich wussten sie nicht, dass dieser flache Hügel ein Vulkan war“, sagt Frau Pistara. „Der Vesuv sieht erst seit dem Ausbruch damals so aus, wie ihr ihn auf den Fotos seht. 79 nach Christus war er ein Hügel wie all die anderen in Kampanien. Die meisten Menschen wussten nicht mal, was ein Vulkan ist. Der Vesuv bricht ungefähr alle zweitausend Jahre aus. Die Menschen dachten, es wäre das Ende der Welt. Und für viele … war es das auch.“
Sie tippt wieder aufs Tablet und das Bild von einem jungen Mann ist zu sehen. „Plinius der Jüngere, Neffe von Plinius dem Älteren, damals achtzehn Jahre alt. Er hatte keine Zeit, seinen Onkel zu begleiten, als der mit seiner Flotte nach Pompeji segelte, um dort Menschen vor dem vermeintlichen Erdbeben zu retten. Plinius der Jüngere erlebt den Vulkanausbruch vom nahe gelegenen Misenum aus. Auch hier, zig Kilometer entfernt, sind die Einwohner in Lebensgefahr und Plinius muss mit seiner Mutter fliehen. Er schreibt später darüber, wie die Gase und Aschewolken den Tag zur Nacht machten: ‚Man hörte das Weinen der Frauen, das Wimmern der Kinder, das Brüllen der Männer … Aus Angst vor dem Tod riefen manche nach dem Tod. Viele beteten zu den Göttern; noch mehr aber waren überzeugt, dass es keine Götter mehr gäbe und die Welt nun in ewiger Nacht versinken würde.‘“
Es ist so leise im Klassenzimmer, als wäre nicht der Raum schalldicht, sondern jeder Einzelne von uns. Ich mein, du willst dir ja auch nicht vor der ganzen Klasse anmerken lassen, dass dir eine Geschichte so an die Nieren geht, die vor zweitausend Jahren passiert ist. peinlich. Frau Pistara lässt uns einen Augenblick in Ruhe, bevor sie weiterredet und die Bilder weiterlaufen lässt.
„Einige Statuen und andere Kunstwerke werden geborgen. Doch in den Jahrhunderten danach kommen Grabräuber und Plünderer nach Pompeji, Oplontis, Stabiae und Herculaneum. Wir werden wohl nie erfahren, welche Schätze in dieser Zeit fortgeschafft wurden. Nach sechzehnhundert Jahren gräbt jemand einen Kanal in der Gegend und stößt auf Hinweise, dass dort mal eine Siedlung war. Nur interessiert das keinen. Echte Ausgrabungen starten erst im April 1748. Damals noch unverzeihlich schlampig und sorglos.“ Abschätzig klickt sie durch einige Bilder. „Kunstschätze werden einfach aus den Ruinen gerissen, verkauft oder verschenkt … Erst später laufen die Ausgrabungen halbwegs professionell ab. Schicht um Schicht werden fünfundzwanzig Meter Erde, Asche und Bimsstein abgetragen und die Stadt darunter freigelegt … Immer wieder stoßen die Archäologen dabei auf merkwürdige Hohlräume in der Gesteinsmasse. Löcher, in denen sich Gestein und Asche nicht ausgebreitet haben. Etwas muss dieser zähen Masse Widerstand geleistet haben. Etwas, was damals noch robust genug war, um den glühenden Schichten Einhalt zu gebieten. Und über die Jahrhunderte doch vollkommen verschwunden ist … Ja, Dante?“
Wir drehen alle den Kopf. Dante ist ungewöhnlich blass. Seine Augen leuchten. Er starrt die Bilder auf der Leinwand hinter Frau Pistara an. Er flüstert: „Menschen.“
Frau Pistara nickt anerkennend. „Menschen“, sagt sie. „Und Tiere. Aber auch Möbel aus Holz, Wurzeln, Lebensmittel. Organisches Material. Auch diese Hohlräume, die Abwesenheit von Lebendigem, sind kostbar. Erhaltenswert. Nur, wie? Ja, Enni?“
Ich hab nicht gemerkt, dass ich was gesagt hab. Ich hab an Mathe gedacht. In der Welt der Zahlen geht nichts verloren, nie. Eine Zahl hat immer einen Wert, manchmal einen negativen, wenn ein Minus davorsteht. Aber sie hört nie auf zu existieren. Die Hohlräume sind Menschen mit einem Minus davor. „Schablonen“, sage ich. „Die Löcher sind wie Schablonen. Man muss sie mit irgendwas auffüllen, was hart wird, und dann die Schicht drum rum abschlagen.“
Frau Pistara sieht mich an, als hätte ich gerade einen Marathon gewonnen. Und wäre außerdem ihr einziges Kind. „Exzellent!“, sagt sie. Sie wird nicht laut, aber ihre Stimme trägt auch so. Vielleicht nicht durch das Internat, aber durch die Zeit. Ich weiß jetzt schon, dass ich garantiert nie vergessen werde, wie sie dieses Wort zu mir sagt. Als würde sie mich auf den Schultern tragen.
„Der herausragende Guiseppe Fiorelli hatte dieselbe Idee wie Enni: Er lässt die Hohlräume mit Gips ausgießen und erst danach mit äußerster Vorsicht Stein und Asche rundherum abschlagen. Seid ihr so weit?“
Sie wartet einen Augenblick, in dem wir die Luft anhalten, ehe sie die Bilder weiterlaufen lässt. Als das erste Bild erscheint, denke ich eine Sekunde lang, es hätte ein lautes Geräusch gegeben. Aber es ist vollkommen still. Schweigen hat sich über das Klassenzimmer gelegt wie eine Schicht aus Asche. Drückender, je länger es dauert.
Auf dem Bild ist eine Mutter zu sehen, die ihr kleines Kind mit beiden Armen an sich drückt. Ihr Kopf ist über den Kopf des Kindes gebeugt. Heute. Vor zweitausend Jahren. Für den Bruchteil einer Sekunde. Für immer. Das nächste Bild zeigt einen Mann, der auf dem Boden liegt und die Arme schützend hebt. Eingefroren in Todesangst vor dem Flammensturm.
„Ich war dort“, sagt Frau Pistara. „In Pompeji. Ich hab selbst einige der Hohlräume ausgegossen. Ein Kollege nannte die Abdrücke aus Gips damals ‚Schnappschüsse des Grauensʻ. Ein sehr junger Kollege. Für mich hatten nur die wenigsten Abbildungen etwas Grausames. Die meisten … sprechen von etwas anderem.“
Ein Bild von zwei Menschen, die sich liebevoll umarmen.
„Die Liebenden von Pompeji“, sagt Frau Pistara. „Wir kennen die Namen dieser beiden Männer nicht. Wir wissen nicht, was sie beruflich gemacht oder wo sie gewohnt haben … Aber dieses Bild erzählt uns, dass sie sich in den letzten Momenten ihres Lebens innig geliebt haben.“
Ich starre die beiden Männer an und versuche, nicht zu viel zu fühlen. Is das Letzte, was ich will, in einem Klassenzimmer Rotz und Wasser zu flennen wie ein Baby. Zwei Reihen vor mir schluchzt Karan. Frau Pistara reicht ihm ein Taschentuch und er schnäuzt sich lautstark. Für Karan ist das okay. Er ist der größte Vierzehnjährige der Welt. Da kann er auch mal heulen.
Die Bilder laufen weiter. Ein Kind, das aussieht, als würde es schlafen. Ein Junge, der auf dem Boden sitzt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, als würde er auf seine Mama warten, die bloß kurz bei Edeka is. Und dann: brüllendes Gelächter. Es zerreißt die Stille, als wäre auch hier im Medienraum ein Vulkan explodiert.
Vor uns auf der Leinwand ist ein Mann zu sehen, der auf dem Rücken liegt – und ganz klar eine Hand zwischen den Beinen hat. In einer ziemlich eindeutigen Haltung. Ich mein, echt jetzt – das is nix, wobei du erwischt werden willst. Und ganz sicher nichts, was du nach zweitausend Jahren der Nachwelt präsentieren willst. Der von Pompeji! Oh Mann. Aber wir würden nicht so laut lachen, wenn es uns vorher nicht so mitgenommen hätte. Die ganzen anderen Momente, die der Vulkan für alle Ewigkeit festgehalten hat. Diese Leute sind alle nicht gefragt worden, ob das der Augenblick ist, der für immer bleiben soll. Sie haben ihn sich nicht aussuchen dürfen, ihren Vulkanmoment …