Читать книгу Die Unausstehlichen & ich - Freunde halten das Universum zusammen - Vanessa Walder - Страница 9
GRAND THEFT RASENMÄHER
ОглавлениеIs dir schon mal aufgefallen, dass Horrorgeschichten und Psychothriller immer total nett anfangen? Alles is voll Zucker, Gute-Laune-Musik und Sonnenschein. Wahrscheinlich, damit sich alle sicher fühlen und keiner auf der Hut is, keiner auf den Gedanken kommt, Wache zu halten. Ich hab immer Wache gehalten, seit damals. Seit die meinen Marienkäferkoffer ins Auto von den Jugendamtsfrauen gepackt haben und meine Mama mich zu lang umarmt hat. Um dann doch loszulassen. Sie hat losgelassen …
Aber als ich an dem Freitag in meinem Zimmer im Saakser Internat aufwache, merke ich, dass ich allen Ernstes tief und fest geschlafen hab. Ich brauch erst mal, um das zu verkraften. Als ich eingeschlafen bin, hab ich mir noch mega große Sorgen um dich gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt schlafen kann. Dann ist mir aber was eingefallen … Nicht böse sein, Noah! Nur – ich war fast sicher, dass sie dich ziemlich schnell finden würden. Ich mein, weißt du noch, als wir zusammen abgehauen sind? Nachdem deine Eltern uns gesagt haben, dass sie uns trennen wollen? Wir haben gerade mal zwölf Stunden durchgehalten, bevor ich verhaftet worden bin. Deshalb sind meine Sorgen geschrumpft wie Luftballons ohne Knoten.
Außerdem bist du stark. Du hast diesen aus der Achten damals voll destroyed, als er diesen blöden Spruch über mich abgelassen hat! Weißt du noch? War mein erster Tag an deiner Schule und der Typ hat gefragt, ob ihr mich entlaust habt. Wenn du nicht so irre schnell gewesen wärst, hätt ich ihm eine verpasst. Ich hab schon rotgesehen und das Rauschen in meinen Ohren war laut wie der Atlantik. Der Kerl war echt nicht klein und trotzdem – zack! – liegt er nach ein paar Sekunden auf dem Rücken wie ein kranker Mistkäfer.
Das fällt mir ein und deshalb ist aus meinen Sorgen irgendwie die Luft raus, okay? Ich bin fast sicher, dass mir die Halbach heute sagt, dass du wieder zu Hause bist … Tja, die Wette hab ich verloren, was?
Ich lieg in meinem uralten Himmelbett auf zweitausend Metern überm Meer – und du irgendwo auf einer Parkbank. Nur weiß ich das da noch nicht.
Es ist irre hell in meinem Zimmer, dabei ist es erst sechs. Die dicken Samtvorhänge vor meinen Fenstern sind offen. Die an den Pfosten von meinem riesigen, alten Holzbett will ich nicht mal anfassen. Ich glaube, die würden zu Staub zerfallen. Als Erstes seh ich die Tapeten an den Wänden. Sie sind so hässlich, dass ich sie ins Herz geschlossen hab. Geht mir immer so: Wenn ich was sehe, was alle anderen auf dem Planeten hässlich finden, dann muss ich es einfach mögen. Schon aus Prinzip.
Über die Wand mit der Tür schlängeln sich exotische Blumen und Lianen. Rund ums Fenster gibt’s Löwen, Tiger und Affen, die alle auf riesigen Elefanten hocken. Hinter meinem Bett gehen komische Geometrie-Zeichnungen ineinander über. Und dann gibt’s noch eine Wand, auf der graue und weiße Tauben fliegen. Wenn an allen Wänden dieselbe grausige Tapete wär, könnte es keiner länger als zehn Minuten in dem Zimmer aushalten. Aber dadurch, dass es vier verschiedene sind, fühlst du dich wie in einem Sammelalbum von einem freundlichen Bekloppten.
Ich glaube, ich wär eigentlich total chaotisch, aber ich hab gar nicht genug Sachen, um überall im Zimmer was rumliegen zu lassen. Die Klamotten, die deine Eltern mir gekauft haben, hat Louisa in den Schrank gepackt. Ich hab noch dein weißes Hemd und das zieh ich zum Schlafen an. Klar ist es mir viel zu groß, aber es ist das Einzige, was ich von dir hab. Sogar wenn ich das alles im Zimmer verteilen würde, plus meine alten Riesenstiefel, wär’s trotzdem kein Saustall.
Ich mein – is echt groß und ich hab’s ganz für mich allein. Ich bin die Einzige, die im zweiten Stock wohnt, und überhaupt nur deshalb hier oben unterm Dach gelandet, damit ich Lilith nicht killen kann. Die hatten mich zuerst bei der kleinen im ersten Stock einquartiert, wo alle anderen ihre Zimmer haben. Und die hat mich so richtig ver . Hat mich dazu gebracht, ihr zu vertrauen, und mich dann verraten. Ja, so was kann mir auch passieren. Ich hab nicht immer den Röntgenblick, wie du behauptest. Ich kann nicht in jedem Menschen lesen wie in einem Buch. Manche sind einfach auf Russisch oder Arabisch oder so geschrieben und da kann ich gar nix lesen. Das Buch Lilith is in Brailleschrift. Wir sind alle irgendwie angeknackst hier oben im Saakser Internat. Lilith ist als Einzige blind, also hat sie praktisch ihre eigene Geheimschrift. Und ein Pokerface, mit dem sie jede Weltmeisterschaft gewinnen würde.
Ich bin heilfroh, dass ich nicht mit ihr das Zimmer teilen muss. Auch wenn der zweite Stock noch nicht fertig renoviert ist. Sie haben extra für mich schon eins der Badezimmer fertig gemacht. Sieht aus wie in einem teuren Hotel. Das Wasser kommt aus einem Riesen-Duschkopf über mir und fühlt sich an wie warmer Regen. Sobald ich mich abgetrocknet hab, zieh ich den BlueChip wieder über den Kopf. Beim Zähneputzen baumelt er an seinem Band um meinen Hals. Seit Neuestem kann die Halbach sogar sehen, welcher Chip zu wem gehört. Das war früher nicht so. Der Chip macht hier oben alle Türen auf, sogar die zur Gondelbahn ins Tal. Ich hab ihn in den ersten Wochen ein paarmal im Zimmer liegen lassen. Einmal hab ich deshalb drei Stunden in der Bibliothek warten müssen, bis mich jemand rausgelassen hat. Seitdem nehme ich den Chip nicht mehr ab. Auch beim Schlafen nicht. Im Internat ist alles hochsupermegatechnisch ausgefeilt. Nur nicht der zweite Stock.
Wenn du mit der Gondel von Saaks aus hochfährst zum Internat, dann sieht es aus wie der schönste Ort der Welt. Ich mein – es ist gigantisch. Schon der mittlere Teil allein ist so groß wie ein Schloss. Und dann kommen noch die Flügel dazu. Als wenn das Gebäude jederzeit abheben könnte, wenn es keinen Bock mehr hat, auf ’ner Bergspitze zu hocken. Als könnte es jederzeit mit den Störchen nach Afrika fliegen.
Von der anderen Seite ist es genauso schön. Da, wo die Berge sind und der See mit den Weiden am Ufer. Nur steht auf der Innenseite noch ein Gerüst an der Fassade. Die ganzen geschnitzten Holzbalkone und Balken müssen neu gestrichen werden. Die Halbach sagt, dafür muss das Wetter stimmen. Im zweiten Stock renovieren sie auch innen. Hier hängen überall Plastikfolien von der Decke. Die Steckdosen sind bloße Löcher im Putz und die Handwerker haben alles stehen lassen, als wenn sie ein wilder Stier vertrieben hätte. Kabelboxen, Werkzeugkoffer, Leitern, Styroporplatten … Kann sein, dass sie Angst vor dem Geist hier oben gehabt haben. Is mir am Anfang nicht anders gegangen. Ich mein – alle im Internat haben gesagt, dass es unterm Dach spukt. Und dann mach ich in der ersten Nacht das Licht aus und es fängt an zu rascheln und zu knattern. Nicht funny, Mann!
Inzwischen haben wir uns kennengelernt, der Geist und ich. Ich weiß sogar, welche Art Geist es ist. Ich hab graue Nagetiere gegoogelt, die aussehen wie Eulen mit Mäuseohren und Eichhörnchenschwänzen … Geist ist ein Siebenschläfer. Und zwar ein Weibchen. Sie frisst am liebsten süße Krümel. Schokolade mögen wir beide nicht so gern. Alles, wo Nüsse drin sind, gehört ganz ihr, weil ich ’ne Nussallergie hab. Die Kabel darf sie auch alleine anknabbern. Damit wenigstens meine Nachttischlampe und mein Handykabel heil bleiben, hab ich ihr einfach zwei Kabeltrommeln besorgt. Natürlich kommt sie nicht, wenn ich sie rufe, sondern nur dann, wenn es ihr gerade passt. Ich hätt auch keinen Respekt vor ihr, wenn’s anders wär. Manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie mich beobachtet. Find ich okay. Sie is auch so eine, die immer Wache hält.
Ich glaube, sie findet den Unterricht in Saaks gut. Zumindest gefällt ihr die Zeit, wo sie das Zimmer für sich hat. Ich finde am Nachmittag immer ihre Köttel-Bohnen. Weil ich nicht will, dass die einen Kammerjäger holen, der Geist abmurkst, mach ich die Bohnen selbst weg. Keine Sorge – mit Gummihandschuhen aus der Küche. Köchin Louisa hat zwar komisch geguckt, als ich die haben wollte, aber ihr Sohn Lucky trägt in letzter Zeit öfter mal Vampirzähne aus Plastik ohne erkennbaren Grund. Louisa weiß, dass man mit Fragen nicht immer weiterkommt.
Lucky sitzt bei jeder Mahlzeit im großen Saal neben mir. Das ist schon seit dem ersten Tag so. Wahrscheinlich, weil er beschlossen hat, dass wir mal heiraten werden. Er steht auf ältere Mädchen – Lucky ist nämlich erst sechs.
Auch bei diesem Frühstück hat er wieder seine Vampirzähne drin, was ich ehrlich eklig finde. Ich mein – die ganze Zeit Plastik im Maul ist ja nicht grad appetitlich. Zum Frühstück gibt’s ein Büffet, das garantiert nicht viel anders ausgesehen hat, als das Internat noch ein Hotel war. Hier gibt’s Früchte, von denen ich noch nie gehört hab. So viele Brot- und Brötchensorten, dass du gar keine Zeit hast, dir alle anzugucken, ohne dass du den Unterricht verpasst. Wurst, Käse, Schinken, Lachs, tausend Müsliarten … Da liegt sogar jeden Morgen eine Honigwabe. Fehlt nur, dass die Bienchen sie dir höchstpersönlich in den Mund fliegen. Und was isst Lucky? Haferflocken mit Milch und Rosinen! Weil er mit den Vampirzähnen nicht kauen kann!
„Wie scheck’n dasch Kroschang?“, nuschelt er und beäugt dabei neidisch mein Croissant mit Marmelade aus den Augenwinkeln.
„L-l-lucky, d-d-du !“, ruft Omar, der uns gegenübersitzt. Und Yeganeh neben Omar fängt an, wie wild mit den Händen zu fuchteln.
„Weisch du, wasch schie schagt?“, fragt Lucky, der sie überrascht ansieht.
„Keine Ahnung“, geb ich zu. „Ich kann auch keine Gebärdensprache. Aber sie hat Flocken von deinem Müsli in den Augenbrauen …“
„N-n-nimm diese zähne e-e-endlich raus!“, faucht Omar Lucky an. „Oder hör a-a-auf zu reden. W-w-wir haben kein’ B-b-bock, d-d-dauernd d-d-dein Essen ins G-g-gesicht zu kriegen!“
„Hey!“, rufe ich und stehe halb auf. „Er hat’s nicht mit Absicht gemacht.“
„Nisch mit Abschisch“, stimmt Lucky zu – und spuckt Omar dabei eine Rosine ins Auge.
Der springt auf – eine hundertstel Sekunde vor Lucky – und jagt ihm hinterher. Ich setz mich wieder hin und mach mir keine übertriebenen Sorgen. Lucky ist schnell. Und er kennt das Internat besser als jeder andere. Wenn der sich versteckt, findet ihn in hundert Jahren keiner.
Rund um den Tisch brandet Lachen auf. Ich ertappe mich dabei, wie ich schnell zu Dante rübergucke. Dante lachen zu sehen, ist einfach ein Anblick. Wie ein Sonnenauf- oder -untergang. Sorry, aber da guckst du auch hin, jedes Mal. Und wenn’s der tausendste ist. Seine Zähne sind so weiß und so perfekt geformt, als hätte sich einer hingesetzt und ein paar Wochen dran rumgeschliffen und gefeilt. Er merkt, dass ich ihn ansehe, und zuckt mit den Schultern. Sofort spüre ich, wie meine Ohren meine Gesichtshaut zu sich ziehen. Ein bisschen, als wär mein Lachen das Echo von Dantes. Deshalb übersehe ich fast, dass Ahmet Armut in den großen Saal kommt. Er wirkt nicht sauer und trotzdem weiß ich, dass er’s ist. Jeder Muskel unter seinen ganzen Tätowierungen ist angespannt. Er ist auch ein bisschen wie so ’ne Klotür. Ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wenn’s drum geht, auf wem sich mehr Leute verewigt haben. Nur die Narben dazwischen hat er sich wohl nicht ausgesucht. Es sind fast so viele wie Tätowierungen. Darüber baumelt eine Krawatte auf nackter Haut. Ahmet Armut hat seinem Vater mal versprochen, dass er einen Beruf ausüben würde, bei dem er eine Krawatte trägt.
Unser Hausmeister beugt sich zur Halbach, die am Kopfende sitzt. Sie wirkt noch ein bisschen verschlafen. Unsere Direktorin ist kein Morgenmensch. Sie runzelt die Stirn, als Ahmet Armut ihr etwas ins Ohr sagt, fragt ihn was. Er zieht eine Augenbraue hoch. Eigentlich braucht die Halbach sich danach nicht mehr zu räuspern, alle Internatsschüler schauen sie neugierig an. Wir wollen wissen, was er ihr gesagt hat, .
„Ich höre gerade, dass unser Rasenmäher verschwunden ist“, sagt sie säuerlich. „Wenn einer von euch ihn genommen hat und euch irgendwo das Benzin ausgegangen ist, dann sagt uns bitte jetzt, wo, damit Herr Armut ihn zurückholen kann …“
Schweigen und fragende Blicke in die Runde. Dr. Mergen kommt wie immer zu spät zum Frühstück, was ihm wie immer ein Kopfschütteln von der Geschichtslehrerin einbringt. Zeit ist Frau Pistaras Ding. Sie hat mal gesagt, das ist die große Tragödie von allen Historikern: dass sie immer für alles Wichtige zu spät dran sind.
„Also, das ist doch lächerlich!“ Die Halbach ist jetzt ganz wach und ganz furchtbar . „Wir wissen, dass es einer von euch war. Der Rasenmäher ist zwischen neunzehn Uhr abends und sieben Uhr morgens verschwunden. Ihr wisst, da ist hier oben keiner außer uns … Also: Wer war es?“
Keine Antwort. Dante und ich wechseln einen besorgten Blick. Was sie nicht kapiert: Erstens würde keiner von uns Internatsschülern einen der anderen verraten. Zweitens ist diese Nachricht für uns schlimmer als für sie. Das ist nicht einfach irgendein Rasenmäher, der da verschwunden ist. Das ist Mo. Mo ist ein Aufsitzrasenmäher, der aussieht wie ein zu klein geratener Traktor und sich anhört wie ein Helikopter, der gerade landet. Alle lieben Mo. Mo hat aufgeklebte Flammenzungen auf der Motorhaube …
Wenn man in Saaks flucht und es einer von den Lehrern hört, dann muss man 50 Cent Strafe zahlen. Oder eine halbe Stunde Haushaltsdienst machen. Ich hab keine Kohle, nie. Woher auch? Also ist es bei mir immer Haushaltsdienst. Bei Louisa in der Küche Kartoffeln schälen, Geschirrspüler ausräumen, Stühle stapeln, Turnmatten auslegen … so halt. Wenn ich großes Glück hab, komm ich mit Rasenmähen davon. Und das ist einfach das Geilste. Ahmet Armut hat Mo nämlich frisiert. Das is jetzt wie Quadfahren. Am Seeufer entlang, durch die Bergwiesen mit den meterhohen Blumen und Kräutern bis rauf ins Gelände, wo der Fels anfängt. Einfach genial! Ich will nicht, dass Mo weg ist. Keiner will, dass Mo weg ist.
„Wer ist denn zuletzt gefahren?“, fragt die Halbach Ahmet Armut.
Er runzelt die Stirn. „Muss ich nachsehen“, knurrt er.
Muss er nicht. Ich bin zuletzt gefahren und das weiß er auch. Von vier bis sechs Uhr nachmittags. Weil ich in Englisch dreimal und einmal gesagt hab. Ich mache den Mund auf, um es der Halbach zu sagen. Ich mein – ich hab schließlich nichts zu verbergen. Da kriege ich wieder einen Blick von Dante ab. Diesmal sieht mich auch der schweigende Riese neben ihm an: Karan. Beide schütteln den Kopf. Ich mach den Mund wieder zu. Dabei hab ich keine Ahnung, warum.
Es läutet und die Halbach seufzt. „Na gut. Dann setzen wir das heute beim Abendessen fort.“
Gleichzeitig mit dem Läuten sehe ich schon durch das Panoramafenster die voll besetzte Gondel hochfahren. In fünf Minuten wird sie die Schüler aus dem Tal ausspucken und in weiteren zehn geht der Unterricht los.
Als alle aufstehen, räuspert sich Dr. Mergen, der gerade erst damit fertig geworden ist, sein Vollkornbrot kunstvoll zu belegen. Unser Schul-Psycho-Onkel muss nicht laut werden wie die Halbach, damit ihm wer zuhört. Er sagt nie viel, aber was er sagt, willst du hören. Macht einen Unterschied, immer.
„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?“ Er sieht nicht mal auf, so sicher ist er, dass wir zuhören. „Möglicherweise taucht Mo ja vor dem Abendessen wieder auf. Der Benzinkanister steht im Schuppen …?“
Ahmet Armut nickt. „Der rote, links im Regal.“
„In dem Fall müssten wir uns mit der Sache gar nicht mehr beschäftigen, oder?“
Die Halbach sieht ihn ungläubig an. „Jemand hat den Rasenmäher unerlaubt entwendet! In der Schulordnung steht ganz klar, dass ein Schüler, der Schuleigentum entwendet oder mutwillig zerstört, der Schule verwiesen wird. Das ist kein dummer Streich, das ist ernst.“
Jetzt blickt Dr. Mergen auf und die Halbach an. „Schon möglich. Nur – wenn der Rasenmäher wieder da ist, ist er nicht mehr entwendet – und damit gibt es auch keinen Grund, irgendjemanden der Schule zu verweisen, oder?“
„Trotzdem muss so ein Vergehen bestraft werden!“
Dr. Mergen seufzt. „Natürlich. Auch das Kennedy-Attentat müsste bestraft werden. Da bedauerlicherweise unsere Chancen herauszufinden, wer Mo über Nacht falsch geparkt hat, ähnlich hoch stehen, wie die, den Präsidenten-Mörder zu fassen, schlage ich vor, wir belassen es dabei, dass wir uns freuen, wenn Mo wieder auftauchen sollte. Einverstanden?“
Ich sehe meine Mathelehrerin Frau Edmund-Horbarth, den Sportlehrer und die Geschichtslehrerin Frau Pistara grinsen. Die Halbach grinst nicht. Aber Dr. Mergen hat irgendwas Psychologisches gemacht, so viel steht fest. Weil sie widerspricht nicht mehr.
Ich esse den letzten Bissen von meinem Croissant und folge den anderen aus dem Saal. Doch bevor ich aus der Tür gehen kann, tritt Ahmet Armut neben mich. Er bewegt nicht mal die Lippen, als er sagt:
„Vor sieben, kapiert?“
Damit geht er davon. Mit diesem Gang, als hätte er immer noch eine Uniform an wie auf dem Foto in Dantes Schülerakte.
„So ernst hab ich ihn bisher nur einmal gesehen“, sagt Dante in dem Moment. Er rollt neben mich und starrt genau wie ich Ahmet hinterher. „Als du ihm diesen Zettel gegeben hast, damit er uns vom Gelände lässt.“ Dante sieht mich durchdringend an. Seine Augen sind gewitterwolkengrau, so kurz vor Blitzeinschlag.
Hinter Dantes Rollstuhl steht Karan und nickt genauso ernst.
Ich hab ihnen nie erzählt, was auf dem Zettel stand. Ich erzähl’s ihnen auch jetzt nicht. Weil ich noch nicht so wirklich weiß, was es zu bedeuten hatte. Und ich geb einfach nicht so gern was her, bevor ich weiß, was es tut. Ob es vielleicht gefährlich ist und Schaden anrichtet.
„Er hat gesagt: Vor sieben!“, berichte ich Dante und Karan. „Was soll das heißen?“
Dante runzelt die Stirn. „Vor dem Abendessen. Was das heißt? Na, dass er es danach nicht mehr in der Hand hat.“
„Was denn in der Hand?“
Die Halbach bemerkt, dass wir noch nicht auf dem Weg zum Unterricht sind. „Dante Dahlem, Enni Alser, Karan Abbas! Das Läuten gilt auch für euch! Ab zur ersten Stunde!“
„Dich zu decken, glaub ich“, sagt Dante nachdenklich.
„Warum denn decken?“, fahre ich auf. „Er braucht mich nicht zu decken! Ich hab Mo nicht! Ich hab ihn gestern Abend zurückgebracht und im Schuppen geparkt.“ Und da hör ich es. Ich hab mich schon gefragt, ob es kommt. Ein leises Rauschen, als würde von ganz weit weg ganz viel Wasser in meine Ohren brausen. Ich weiß, was als Nächstes kommt … Ich sehe rot. Und dann mach ich was, was mir nachher leidtut. Fenster einwerfen, gegen Wände treten, um mich schlagen …
„Ja. Du allein“, sagt Dante sanft. „Du bist allein mit dem Rasenmäher gefahren und du hast ihn allein zurückgebracht.“
Ich sehe in die grauen Augen, die fast ein bisschen mitleidig wirken. Mitleidig, weil ich’s noch immer nicht gerafft hab. Wenn du was gemacht hast, was keiner gesehen hat, dann hast du’s nicht gemacht. Das hat mir bei unseren Streichen zwar nicht geholfen, aber gegen mich scheint’s grandios zu funktionieren. Meine Stimme klingt kratzig.
„Du meinst, die wollen mir das anhängen?“
Jetzt sieht mich auch Karan mitleidig an.
! ! !
Grand Theft Rasenmäher!
„Egal“, sagt Dante und lächelt. „Sobald der Unterricht aus is, suchen wir Mo. Lucky und Mattis helfen sicher mit. Irgendwo muss er ja sein. Los, wir haben Geschichte. Die Pistara verteilt sofort Strafarbeiten, wenn man zu spät kommt.“
Er bewegt lässig eine Hand und sein Rollstuhl zieht vor Karan und mir den Flur entlang. Ich könnte kotzen: Das ist die zweite Strafandrohung für mich heute. Dabei ist es gerade mal fünf vor acht, !