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Professor Cesare Lombroso.
Verbrechen und Wahnsinn im XXI. Jahrhundert
ОглавлениеEs ist heutzutage nicht so leicht wie früher, als Prophet aufzutreten, noch schwerer aber ist es, wenn man prophezeiht, die Leser oder Zuhörer zum Glauben zu zwingen. Trotz alledem gibt es Voraussagungen, die nicht auf die mehr oder weniger glaubwürdigen und unglaubwürdigen Eingebungen gestützt sind oder gar aus Geistermunde verkündet werden, sondern die nichts weiter sind, als die logischen Folgerungen, die man aus den bestehenden Prämissen zieht und die daher zweifellos Anspruch auf Beachtung und Glaubwürdigkeit haben.
Wenn wir zum Beispiel die Behauptung aufstellen wollten, daß es im nächsten Jahrhundert im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer fünfmal mehr Wahnsinnige geben wird, als jetzt, so ist das nichts als eine statistische Deduktion aus den Zahlen, die uns die zivilisierten Völker aller Länder heutzutage bieten.
Jacobi weist nach, daß die Zahl der Irrsinnigen in Frankreich in 33 Jahren um 53 Proz. stieg, während im gleichen Zeitraum die Bevölkerungsziffer nur um 11 Proz. gestiegen ist.
In Italien gab es im Jahre 1880 17471 Irrsinnige und 27 Jahre später zählte man in dem italienischen Königreiche nicht weniger als 45000.
In England kamen im Jahre 1889 auf je 10000 Einwohner 18 Irre. Im Jahre 1893 war diese Zahl schon auf 29 gestiegen, und bis zum heutigen Tage hat diese Steigerung noch immer bedeutend zugenommen.
In den Vereinigten Staaten wuchs die Bevölkerungsziffer in 30 Jahren um das Doppelte an, die Zahl der Irrsinnigen aber um mehr als das sechsfache; denn sie stieg von 15610 auf 95998.
Diese erschreckenden Zahlen sind leider nur allzu verständlich; denn die Gründe, die den Irrsinn zur Folge haben, werden immer stärker und häufiger und mannigfacher.
Der Orient überschwemmt uns mit seinem Opium und seinem Haschisch; der Norden Europas gibt dem Süden ungeheure Mengen seines Mutterkornes ab, und der Süden schickt als Revanche dem Norden seinen verdorbenen Mais, die alle in sich das tödliche Gift für unsern Geist und unser Hirn tragen.
So wie seit Jahrhunderten der Wein unsere Psyche vergiftet hat und wie es in noch ärgerem Maße das Bier, der Schnaps, der Absinth und der Wermut tun und getan haben, so wirkt jetzt auch noch zum Ueberfluß der Aether, das Morphium und Codein tödlich auf unsern Geist ein, und man hat gut gegen diese Gifte, insbesondere aber gegen den Alkoholgenuß zu predigen und zu reden, es wird doch immer weiter getrunken werden, teils um sich zu betäuben, teils um dem immer trüber dahinfließenden Strome des Lebens doch wenigstens eine Stunde des Glücks und des Vergessens zu entreißen. Und man wird weiter trinken, um lustig zu sein und immer lustiger, bis eine weisere, aufgeklärtere, gescheiter gewordene Menschheit dem immer genußdurstigen, menschlichen Hirn andere harmlose, aber ebenso mächtige, ebenso energische Genüsse verschafft haben wird, wie sie ihm heute das Trinken tatsächlich schafft.
Vom Tee und Kaffee spreche ich hier gar nicht, die zwar auch Erregungsmittel des Geistes sind, aber doch nicht kräftig genug, um auf die Phantasie und die Sinne derart zu wirken, daß sie als Ersatzmittel derselben gelten könnten. So lange die Welt so bleibt, wie sie ist, wird man mit den Verheerungen rechnen müssen, die der Alkohol anrichtet. Nun füge man noch den höllischen Wirbel hinzu, in den der Mensch jetzt durch das Hasten des Lebens gerissen wird, und der ihn arbeiten und arbeiten und immer arbeiten läßt, bis auch die stärkste Energie aufgebraucht und die widerstandsfähigsten Kräfte gebrochen werden; und man nehme das Ruhelose dieses Lebens hinzu, das die Ruhe nur findet, wenn sie längst schon zu spät kommt, und denke an all’ die horrenden Arbeitsmengen, die jeder schaffen muß und die, wie Beard sagt, jeden Amerikaner schon in einen Neurastheniker verwandelt haben und auch jeden gebildeten Europäer dazu machen, von welch letzterem schon Kräpelin sagt, daß er viel zu viel Nerven und viel zu wenig Nerv hat! Vielleicht ist auf diese Erschöpfung, die sich in der Degenerationsvererbung zeigt, zurückzuführen, daß wir in den letzten Jahren das Kolorit des Wahnsinns sich merkwürdig verändern sehen, und daß wir diese Veränderung im nächsten Jahrhundert zweifellos noch prononzierter sehen werden. Es verschwinden nämlich allmählich jene eigentümlichen Fälle von Paranoia, Melancholie und Halluzinationen, die früher so häufig waren und unsere Irrenanstalten mit so viel Fürsten, so viel Genies, so viel Erfindern und so viel eingebildeten Opfern von Jesuiten- und Freimaurer-Verfolgungen übervölkern. Jetzt treten dafür immer mehr jene verschwommenen Formen auf, die wir geistige Zerstreutheiten und Störungen nennen, oder jene frühen Wahnsinnsformen, die im Jugendalter auftreten und eine Mischform der eben genannten Zerstreutheitsstörungen mit den alten Formen der Monomanie und Melancholie bilden, durch welche die Grenzlinien dieser vollständig verwischt werden. Die Entdeckung dieser Form verdanken wir dem großen Deutschen Kräpelin, obwohl sie schon vor ihrer Entdeckung, d. h. vor ihrer Erkennung Opfer über Opfer gefordert hat.
Dieser frühzeitige Irrsinn, die alkoholischen Wahnsinnsformen und die allgemeinen progressiven Paralysen, sowie die anormalen Formen der Epilepsie werden dann die Insassen für unsere Irrenanstalten abgeben, dagegen wird die Zahl der Idioten, vor allem aber die der Kretins ganz außerordentlich abnehmen. Ebenso wird die vornehmlich bei uns in Italien herrschende, durch den Maisgenuß hervorgerufene Pellagra kein Opfer mehr fordern. Das Verschwinden dieser Formen wird nur eine Folge unserer zunehmenden Kultur und unseres nicht zu leugnenden, zunehmenden Wohlstandes sein.