Читать книгу Stärker als der Sturm - V.C. Andrews - Страница 5

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Prolog

Vor langer Zeit war mein Leben wie ein Märchen. Alles um mich herum war verzaubert: die Sterne, das Meer und der Sand. Wir waren zwar erst zehn Jahre alt, Cary und ich, aber nachts liefen wir zum Anlegesteg, an dem Daddys Hummerboot festgebunden war, und dort legten wir uns auf unsere Decken und blickten zum Himmel auf. Wir stellten uns vor, wir flögen in den Weltraum hinein, passierten große und kleine Planeten, umkreisten Monde und streckten die Hände nach den Sternen aus, um sie zu berühren. Wir ließen unsere Gedanken schweifen und die Phantasie blühen. Wir sagten einander alles, und niemals schämten wir uns oder waren zu verlegen, um unsere geheimsten Gedanken zu enthüllen, unsere Träume, unsere intimsten Fragen.

Wir waren Zwillinge, aber Cary bezeichnete sich gern als meinen älteren Bruder, weil er, wie Papa sagte, zwei Minuten und neunundzwanzig Sekunden vor mir geboren war. Er benahm sich auch wie ein älterer Bruder, schon von dem Augenblick an, in dem er krabbeln lernte und mich beschützen konnte. Er weinte, wenn ich unglücklich war, und er lachte, wenn er mich lachen hörte, selbst dann, wenn er keine Ahnung hatte, worüber ich lachte. Als ich ihn einmal daraufhin ansprach, sagte er, der Klang meines Lachens sei Musik in seinen Ohren, und er hätte soviel Freude daran, daß er unwillkürlich lächeln und dann selbst auch lachen müsse. Es war, als seien wir verzauberte Kinder, die ihre eigenen Lieder hörten, Melodien, die uns von dem Meer vorgesungen wurden, das wir so sehr liebten.

Soweit ich zurückdenken kann, ist vom Wasser für mich immer ein Zauber ausgegangen. Cary watete oft hinein und kam mit den wunderlichsten Gebilden aus Seetang wieder heraus, auch mit Seesternen, Muscheln und Dingen, von denen er behauptete, das Meer hätte sie von anderen Ländern zu uns gespült. Wenn es um das Meer ging, glaubte ich ihm alles, was er sagte. Manchmal glaubte ich, Cary müßte mit Meerwasser in den Adern geboren sein. Kein anderer Mensch liebte den Ozean so sehr wie er, selbst dann, wenn er sich ungestüm gebärdete.

Wir durften nicht all unsere Entdeckungen behalten, aber diejenigen, die wir mit Daddys Erlaubnis ins Haus brachten, bewahrten wir entweder in Carys Zimmer oder in meinem auf. Wir glaubten fest daran, daß jeder dieser Gegenstände eine gewisse Macht besaß, sei es nun die Kraft, uns einen Wunsch zu erfüllen, oder die Kraft, uns durch die bloße Berührung gesünder oder glücklicher zu machen. Allem, was wir fanden, sprachen wir einen eigenen Zauber zu.

Als ich zwölf Jahre alt war und eine Kette aus den winzigen Muschelschalen trug, die wir gefunden hatten, überraschte es meine Freundinnen in der Schule, mit welcher Sicherheit ich die Muscheln auseinanderhalten konnte und was ich jeder einzelnen von ihnen zuschrieb. Ich erklärte ihnen, wie diese hier die Traurigkeit vertreiben oder eine andere die dunklen Wolken zum Weiterziehen bewegen konnte. Sie lachten, schüttelten die Köpfe und sagten, Cary und ich seien einfach albern und noch dazu unreif. Es sei an der Zeit, daß wir erwachsen würden und unsere kindlichen Vorstellungen ablegten. Für sie besaßen diese Dinge keinen Zauber.

Aber für mich war sogar ein Sandkorn verzaubert. Cary und ich saßen einmal nebeneinander, ließen den Sand durch unsere Finger rieseln und stellten uns vor, jedes einzelne Korn sei eine winzige Welt für sich. In ihr lebten Menschen wie wir, zu winzig, um jemals gesehen zu werden. Man hätte sie sogar mit einem starken Vergrößerungsglas nicht erkennen können.

»Paßt auf, wohin ihr tretet«, sagten wir zu unseren Freunden, wenn sie mit uns am Strand waren. »Ein ganzes Land könnte zerquetscht werden.«

Sie schnitten verwirrte Grimassen, schüttelten die Köpfe und liefen weiter. Wir blieben hinter ihnen zurück, in unsere eigenen Phantasien eingesponnen, Bilder, die niemand sonst sehen wollte. Wir waren so unzertrennlich, daß die Leute vermutlich glaubten, wir wären bei unserer Geburt miteinander verbunden gewesen. Ein paar neidische Freundinnen von mir dachten sich einmal eine Geschichte über mich aus. Sie behaupteten, ich hätte eine lange Narbe, die sich seitlich an meinem Körper vom Unterarm zur Taille zog, und Carys Körper wiese die gleiche Narbe auf. Dort waren wir angeblich bei unserer Geburt zusammengewachsen.

Manchmal dachte ich mir, vielleicht ist es wahr, daß unsere Loslösung voneinander in dem Moment begonnen hat, in dem wir auf die Welt gekommen sind, ein langsamer und schmerzhafter Prozeß. Gegen diese Trennung wehrte sich Cary viel heftiger als ich, später, als wir älter wurden.

Als kleines Mädchen und sogar dann noch, als ich in die höhere Schule kam, war ich dankbar für Carys aufopferungsvolle Hingabe. Es machte mich glücklich und tat mir gut. Andere Geschwister, die ich kannte, stritten miteinander und beleidigten sich gegenseitig, oft sogar in der Öffentlichkeit! Cary war nie wirklich böse auf mich, und wenn er so mit mir redete, daß seine Ungeduld oder seine Gereiztheit sich bemerkbar machten, dann bereute er es hinterher augenblicklich.

Ich wußte, daß andere Mädchen Cary kokett ansahen, mit ihm flirteten und um seine Aufmerksamkeit buhlten. Es entspringt nicht nur der Voreingenommenheit einer Schwester, wenn ich sage, daß Cary gut aussah. Von dem Tag an, an dem er eine Leine auswerfen und einen Eimer tragen konnte, begleitete er Daddy beim Hummerfang und half im Moosbeersumpf. Er war immer braungebrannt, was die Smaragde in seinen grünen Augen hervorhob, und er trug sein prachtvolles dunkles Haar gern lang, so daß die Strähnen weich in die rechte Hälfte seiner Stirn fielen, bis dicht über die Augenbraue. Sein Haar sah derart seidig aus, daß die Mädchen neidisch darauf waren, und sie verzehrten sich alle danach, ihre Finger durch diese Mähne gleiten zu lassen.

Mein Bruder hielt sich aufrecht und hatte das Auftreten eines selbstbewußten kleinen Mannes, schon in der Grundschule. Andere Jungen machten sich immer wieder über seine Kopfhaltung und die zurückgezogenen Schultern lustig, wenn er neben mir herlief, zielstrebig ausschritt und mit verkniffenen Lippen starr in die Richtung sah, die wir eingeschlagen hatten. Sie begannen jedoch schon bald, ihn zu beneiden, und unsere Mitschülerinnen sahen ihn ganz selbstverständlich als älter und reifer an.

Es mißlang ihnen jedoch, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse auf sich zu ziehen. Daher waren sie so frustriert, daß sie schließlich Trost darin suchten, sich über uns lustig zu machen. In der höheren Schule fingen sie schnell an, Cary »Opa« zu nennen. Ihm schien das nichts auszumachen, falls er es überhaupt wahrnahm. Ich war sicher, daß es mich mehr störte als ihn. Man mußte Cary schon Beleidigungen ins Gesicht sagen oder mich in seiner Gegenwart verletzen, um ihm eine Reaktion zu entlocken, aber dann reagierte er nahezu gewalttätig. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob der andere Junge größer war als er oder ob es mehrere waren. Cary war von Natur aus aufbrausend, und wenn seine Wut einmal entfacht war, dann wirkte sie sich so verheerend aus wie ein Orkan. Seine Augen wurden glasig, und seine Lippen spannten sich, bis die Mundwinkel weiß wurden. Jeder, der ihn vorsätzlich provozierte, wußte, daß es auf eine Prügelei hinauslaufen würde.

Natürlich brachte sich Cary immer wieder in Schwierigkeiten, auch wenn seine Reaktion noch so gerechtfertigt sein mochte. Immer wieder war er derjenige, der die Selbstbeherrschung verlor, und gewöhnlich war es auch er, der seinen Gegnern den größten Schaden zufügte. Fast jedesmal, wenn er vom Unterricht suspendiert wurde, bekam er von Daddy eine Tracht Prügel und wurde in sein Zimmer gesperrt, aber nichts, was Daddy tun konnte, und keine Strafe, die die Schule über ihn verhängen würde, hätte ihn zurückgehalten, wenn er glaubte, meine Ehre sei in irgendeiner Weise angegriffen worden.

Da ich einen so hingebungsvollen und anhänglichen Beschützer hatte, der über mich wachte, hielten andere Jungen Abstand von mir. Erst als wir in die Highschool eingeschult wurden, begriff ich, wie unantastbar ich in ihren Augen war. Viele Mädchen in meinem Alter waren in Jungen verknallt oder hatten Freunde, aber kein einziger Junge wagte es, mir im Unterricht einen Zettel zuzustecken, und keiner von ihnen schloß sich mir in den Korridoren an, wenn wir von einem Klassenzimmer zum anderen gingen, ganz zu schweigen davon, daß mich einer von ihnen nach Hause begleitet hätte. Ich lief neben anderen Mädchen her, oder Cary war an meiner Seite, und wenn ich mit anderen Mädchen zusammen war, dann folgte Cary uns im allgemeinen wie mein Wachhund.

Im zweiten Jahr in der Highschool wollte ich jedoch, wie die meisten meiner Freundinnen, einen Jungen, der ernsthaftes Interesse an mir zeigte. Es gab einen Jungen, den ich sehr attraktiv fand: Er hieß Stephen Daniel und lebte erst seit einem Jahr in Provincetown. Ich wünschte mir, er würde mit mir reden, mich auf dem Schulweg begleiten oder mich sogar zu einer Verabredung auffordern. Ich glaubte auch, daß er das wollte, denn er sah mich oft an, aber er sprach mich trotzdem nie an. Damals erzählten mir all meine Freundinnen, er hätte gern mit mir geredet, aber sie sagten auch, er täte es wegen meines Bruders nicht. Stephen fürchtete sich vor Cary.

Das erwähnte ich Cary gegenüber, und er sagte, Stephen Daniels sei dumm und würde mit jedem Mädchen ausgehen, von dem er bekam, was er wollte. Er sagte, das wüßte er, weil er selbst im Umkleideraum gehört hätte, wie er darüber redete. Später fand ich dann heraus, daß Cary tatsächlich auf ihn zugegangen war und ihn gewarnt hatte, er würde ihm das Genick brechen, wenn er mich auch nur ansah. Natürlich war ich enttäuscht, und doch fragte ich mich unwillkürlich, ob Cary nicht vielleicht doch recht gehabt hatte.

Abends, nachdem wir unsere Hausaufgaben gemacht und Mom mit May geholfen hatten, unserer kleinen Schwester, die taub geboren worden war und eine Sonderschule für Behinderte besuchte, sprachen Cary und ich über unsere Mitschüler.

Er fand an all meinen Freundinnen etwas auszusetzen. Das einzige Mädchen, an dem er keine Kritik übte, war Theresa Patterson, Roy Pattersons älteste Tochter. Theresas Vater Roy arbeitete zusammen mit Daddy auf dem Hummerboot. Die Pattersons waren Bravas, halb Afroamerikaner, halb Portugiesen. Die anderen Schülerinnen rümpften verächtlich die Nase, wenn es um Bravas ging, vor allem diejenigen, die aus sogenannten blaublütigen Familien stammten, Familien, die ihren Stammbaum auf die Pilgerväter zurückverfolgen konnten, Familien wie die, der Großmama Olivia entstammte, Daddys Mutter, die wie eine Königinwitwe über uns herrschte.

Cary mochte Theresa und genoß es, mit ihr befreundet zu sein, denn ihm gefiel, wie sie und die anderen Bravas ihren Mitschülern die Stirn boten. Als ich ihn fragte, ob er sich Theresa als seine Freundin vorstellen könnte, zog er die Augenbrauen hoch, als hätte ich etwas unglaublich Albernes gesagt, und dann erwiderte er: »Sei nicht so dumm, Laura. Theresa ist wie eine zweite Schwester für mich.«

So war es vermutlich auch, aber als ich älter wurde und Carys Schatten sich immer deutlicher über mich legte, begann ich mir zu wünschen, er fände ein anderes Mädchen, das seine Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Ich tat mein Bestes, ihm die eine oder andere wärmstens ans Herz zu legen, aber was ich auch sagte, es änderte nicht das Geringste an seinem Verhalten ihnen gegenüber. Wenn überhaupt, fand er jedes Mädchen, das ich als eine mögliche Freundin für ihn vorschlug, plötzlich häßlich oder dumm. Ich begriff, daß es das Beste wäre, der Natur einfach ihren Lauf zu lassen.

Nur nahm die Natur ihren Lauf nicht.

Oft sagte ich mir, die Natur müßte Cary wohl übergangen haben. Sie kam wohl eines Tages vorbei, als er gerade mit dem Fischerboot draußen war oder so was. Andere Jungen in seinem Alter bemühten sich um Verabredungen mit Mädchen, trieben sich in der Stadt herum und prahlten, um die Aufmerksamkeit eines Mädchens auf sich zu ziehen. Sie forderten Mädchen auf, etwas mit ihnen zu unternehmen, aber Cary … Cary verbrachte seine gesamte Freizeit mit mir oder mit seinen Schiffsmodellen in seiner Werkstatt oben auf dem Dachboden, der direkt über meinem Zimmer lag.

Schließlich erwähnte ich eines Tages beim Mittagessen Theresa gegenüber meine wachsende Sorge. Sie verdrehte ihre dunklen Augen und sah mich an, als sei ich frisch aus dem Ei geschlüpft.

»Hörst du denn nicht, was hinter deinem Rücken geredet wird? Dieses Geflüster und all das Gerede? Es gibt nicht ein einziges Mädchen in dieser Schule, das Cary für normal hält, Laura. Und die meisten Jungen haben ihre Zweifel, was dich angeht. Mit mir sprechen sie zwar nicht darüber, aber ich höre doch, was geredet wird.«

»Wie meinst du das? Was erzählen sie sich denn über uns?« fragte ich und zitterte in banger Erwartung.

»Sie sagen, du und dein Bruder, ihr wäret ein Paar, Laura«, erwiderte sie zögernd.

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, und ich erinnere mich noch daran, wie ich mich an jenem Tag in der Cafeteria umsah und glaubte, alle sähen uns triefend vor Verachtung an. Ich schüttelte den Kopf, und erst jetzt nahmen diese Erkenntnisse Gestalt an, wie abscheuliche Bestien, die aus einem Alptraum herausgekrochen waren und sich inzwischen am hellichten Tag in meinen Gedanken breitmachten.

»Sieh dich doch an«, fuhr Theresa fort. »Du bist fünfzehn und eines der hübschesten Mädchen in der ganzen Schule, aber hast du etwa einen Freund? Nein. Lädt dich jemand zu den Tanzveranstaltungen in der Schule ein? Nein. Wenn du überhaupt hingehst, dann mit Cary.«

»Aber …«

»Es gibt kein Aber, Laura. Es liegt an Cary«, sagte sie. »Und daran, wie er dich anhimmelt. Es tut mir leid«, fügte sie hinzu. »Ich dachte wirklich, du weißt das alles und machst dir nichts daraus.«

»Was soll ich bloß tun?« stöhnte ich.

Sie versetzte mir einen Knuff, wie sie es meistens tat, wenn sie gleich darauf etwas Häßliches über eine unserer Mitschülerinnen sagen würde.

»Er braucht eine Freundin, die seine Hormone in Wallung bringt, und schon ist alles klar«, sagte sie.

Ich erinnere mich noch daran, daß sie danach aufstand und sich ihren Brava-Freundinnen anschloß. Ich saß da und fühlte mich plötzlich sehr allein und unglücklich. In dem Moment betrat Cary die Cafeteria und sah sich schnell um. Sein Blick fiel auf mich, und er kam sofort auf mich zu.

»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte er. »Mr. Corkren hat mich wieder wegen meiner Hausaufgaben nach dem Unterricht länger dabehalten. Was ist los?« Er sah mich genau an, als ich nichts darauf erwiderte. »Ist etwas passiert?« Ich schüttelte nur den Kopf. Ich fragte mich, wie ich es ihm sagen konnte, ohne ihn zu verletzen.

Ich schob den Versuch auf und bemühte mich auch später nie, es ihm wirklich klarzumachen, bis im Jahr darauf Robert Royce und seine Familie das alte Sea Marina Hotel kauften und Robert in unsere Schule kam.

Für mich und Robert war es Liebe auf den ersten Blick, und das brachte einen ganz besonderen Zauber mit sich, an dem Cary nicht teilhaben konnte.

Irgendwie mußte ich es ihm begreiflich machen und ihn dazu bringen, daß er es akzeptierte. Ich mußte ihm zeigen, wie er sich von mir lösen konnte.

Ich hoffte nur, daß das möglich war.

Stärker als der Sturm

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