Читать книгу Stärker als der Sturm - V.C. Andrews - Страница 8
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Unheil braut sich zusammen
Am nächsten Morgen saß Cary mißmutig am Frühstückstisch. Wir tauschten ein paar Worte miteinander aus, doch die meiste Zeit glaubte ich, Anklagen in seinen Blicken zu erkennen, wenn er mich ansah. Ich war der festen Überzeugung, daß es ihm nicht zustand, mir Schuldbewußtsein einzuflößen, und daher weigerte ich mich, einen beschämten Eindruck zu machen. Wenn sich hier jemand schämen sollte, dann war das er, fand ich, denn schließlich war er mir durch die Nacht gefolgt und beobachtete mich durch Löcher in der Decke.
Mommy war begierig darauf, alles über den gestrigen Abend zu hören, und ich war dankbar dafür, daß wenigstens sie mein Glück mit mir teilen konnte. Während ich ihr von der Tanzveranstaltung erzählte, hielt ich May in Zeichensprache auf dem laufenden und schilderte ihr, wie die Turnhalle geschmückt war, was es zu essen gegeben hatte und welche Musik gespielt worden war. Natürlich ließ ich den unerfreulichen Zwischenfall mit der Eintrittskarte weg und erwähnte auch mit keinem Wort, daß Cary Roberts Wagen aus dem Sand gezogen hatte.
»Ich dachte, du seist auch tanzen gegangen, Cary«, sagte Daddy, als eine Gesprächspause eintrat.
»Wohl kaum«, sagte Cary geringschätzig.
»Wo hast du denn dann gesteckt, Junge? Es war schon ziemlich spät, als ich gehört habe, wie du nach Hause gekommen und gleich nach oben gegangen bist.«
»Ich habe mich nur mit ein paar Freunden getroffen, beim Bean Bag«, sagte er eilig.
»Wie kannst du dich den ganzen Abend an einem Straßenstand herumtreiben?«
Cary warf einen schnellen Blick auf mich, um zu sehen, ob ich etwas dazu sagen würde. Ich sah auf meinen Teller hinunter.
»Wir haben einfach nur dort rumgestanden«, sagte Cary. »Ich habe gar nicht gemerkt, daß es schon so spät war.«
Daddy schüttelte den Kopf.
»Ich begreife nicht, was ihr alle so viel zu reden habt, daß ihr darüber die Zeit vergeßt.«
»Du kannst selbst stundenlang plaudern, Jacob«, sagte Mommy. »Zum Beispiel, wenn du dich mit Pat O’Reilly triffst.«
»Das ist etwas anderes. Wir reden über das Geschäft«, gab Daddy zurück, doch die Kritik ließ ihn erröten. Somit war das Thema abgeschlossen, und dafür waren Cary und ich dankbar.
Da uns vor dem Brunch bei Großmama Olivia noch Zeit blieb, ging ich mit May an den Strand und fertigte ein paar Zeichnungen an, während sie neben mir saß und mir viele Fragen zu meinem Rendezvous und zu Robert stellte. Ich zeichnete in erster Linie deshalb, weil ich mich dabei entspannen konnte, ebenso wie bei Handarbeiten. Ich hielt uns alle auf meinen Zeichnungen fest. Einige fertigte ich aus dem Gedächtnis an, und andere entstanden aus Beobachtungen des Augenblicks heraus. Jeder, der meine Zeichnungen sah, fand sie sehr gut. Einmal zeigte ich sie Kenneth Childs, der daraufhin sagte, ich sollte mir überlegen, ob ich nicht vielleicht Kunstunterricht nehmen wollte, um mein Talent weiterzuentwickeln. Ich hielt mich nie für gut genug, und Daddy überzeugte mich davon, daß es eine Sünde war, seine Zeit mit etwas zu vergeuden, was ohnehin zum Scheitern verdammt war.
»Gott gesteht uns genug Zeit für lohnende Dinge zu. Wenn wir dagegen zögern und zaudern und albernen Träumen nachjagen, dann tun wir genau das, was der Teufel sich wünscht«, hatte er gesagt.
Ich hatte noch keinen festen Entschluß gefaßt, aber in der letzten Zeit hatte ich mir überlegt, daß ich eigentlich Lehrerin werden könnte, vielleicht sogar Lehrerin an einer Schule für Behinderte. Es bereitete mir soviel Vergnügen, wenn ich May etwas beibringen konnte und das Verständnis in ihren Augen aufleuchten sah. Es war ein gutes Gefühl, ein wohltuendes Gefühl. Ich kam mir dann vor, als sei ich durch eine dicke Mauer gedrungen, ganz gleich, wie klein meine Erfolge auch waren, und ich glaubte, auch bei anderen behinderten Kindern etwas erreichen zu können.
Als wir am Strand saßen, zeichneten und miteinander redeten, kamen Daddy und Cary auf dem Weg zum Anlegesteg an uns vorbei.
»Wir überprüfen nur schnell die Hummerreusen«, erklärte Daddy. Cary stand stumm neben ihm und wirkte reichlich verdrossen. »Es wird nicht lange dauern, Laura. Du solltest sehen, daß ihr euch bald fertigmacht, du und May.«
Wenn wir bei Großmama Olivia zum Brunch eingeladen waren, zogen wir uns immer fein an. Tatsächlich verhielt es sich sogar so, daß wir jeden unserer Besuche dort wie einen ganz besonderen Anlaß behandelten. Großmama Olivia brauchte sich nicht zu bemühen, denn sie war immer elegant gekleidet. Selbst dann, wenn sie in ihrem Garten arbeitete, war ihr Haar ordentlich aufgesteckt, und sie trug Kleidungsstücke, die sich die meisten anderen Leute für einen Ausflug in die Stadt oder für offizielle Einladungen aufgespart hätten. Großpapa Samuel trug immer Freizeitjacketts und bequeme weite Hosen, dazu ein Halstuch oder eine Krawatte. Das Haus der beiden wurde makellos saubergehalten, und alles lag an seinem festen Platz. Als wir noch Kinder waren, hatte man uns verboten, in andere Zimmer zu schauen, und wir hatten panische Angst davor gehabt, etwas anzurühren.
»In Ordnung, Daddy«, sagte ich und klappte meinen Zeichenblock zu. Ich bedeutete May, wir müßten gehen, und schlug ihren Block ebenfalls zu. Auf dem Weg zum Haus überlegte ich mir, daß dies wohl der beste und vielleicht sogar der einzige Zeitpunkt war, zu dem ich Gelegenheit finden würde, Robert anzurufen. Ich war sicher, daß er auf glühenden Kohlen saß, weil er sich Sorgen machte, was sich gestern abend nach meiner Rückkehr zugetragen haben könnte.
Roberts Mutter nahm den Anruf entgegen.
»Oh, hallo«, sagte sie voller Begeisterung, nachdem ich mich vorgestellt hatte. »So, wie Robert sich heute morgen benimmt, würde ich sagen, daß ihr beide gestern einen wunderbaren Abend miteinander verbracht habt. Ich muß ihm alles zweimal sagen«, fügte sie lachend hinzu. Ich hörte, wie sich Robert im Hintergrund beschwerte. »Ich sollte ihm jetzt besser das Telefon geben, ehe er einen Anfall kriegt.«
»Hallo«, sagte er. »Meine Mutter ist heute mal wieder ganz besonders ausgelassen.«
»Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen«, sagte ich.
»Ich stelle dich ihr vor … aber du mußt dir darüber im klaren sein, daß sie vor keiner vorlauten Bemerkung zurückschreckt«, fügte er in einer Lautstärke hinzu, die eindeutig für ihre Ohren bestimmt war. Er unterbrach sich und fragte dann mit gesenkter Stimme, wie die Dinge bei mir standen.
»Es ist alles bestens«, sagte ich. »Mein Vater war noch auf und hat auf mich gewartet. Ihm war deutlich anzusehen, wie sehr es ihn gefreut hat, daß ich rechtzeitig nach Hause gekommen bin. Und Cary hat nichts verraten«, fügte ich hinzu, denn ich wußte, daß ihm das jetzt wichtiger als alles andere war.
»Dein Vater war noch auf und hat auf dich gewartet? Dann wäre es vermutlich eine Katastrophe gewesen, wenn Cary nicht zu unserer Rettung gekommen wäre, aber ich komme trotzdem nicht darüber hinweg, daß er uns gefolgt ist, Laura. Hast du mit ihm darüber geredet?«
»Nein, noch nicht, Robert. Ich muß den richtigen Zeitpunkt abpassen.«
»Schieb es bloß nicht hinaus, Laura«, warnte er mich.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte ich kleinlaut. Man konnte nicht gerade behaupten, daß ich mich auf diese Auseinandersetzung freute.
»Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen«, fügte Robert in einem zärtlicheren Tonfall hinzu.
»Mir geht es genauso. Wir brechen demnächst zum Brunch bei meiner Großmutter auf. Ich muß mich jetzt fertigmachen und May dann beim Anziehen helfen.«
»In Ordnung. Danke für den Anruf«, sagte er, und seine Stimme ließ prickelnde Schauer über meinen Rücken laufen.
»Ich konnte es kaum erwarten, mit dir zu sprechen«, gestand ich schüchtern.
»Das ist gut so«, sagte er, und wir legten beide auf. Ich eilte nach oben, um mich anzuziehen und ein Kleid für May herauszulegen, das Großmama Olivia nicht mit einem mißbilligenden Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen würde.
Großmama Olivia war es in Mays Gegenwart immer unbehaglich zumute. Wir wußten alle, daß ihr die Zeichensprache auf die Nerven ging. All diese Hände, sagte sie, die ständig in der Luft herumfuchtelten, und noch dazu die Finger, die Löcher in die Luft zu bohren schienen, davon würde ihr ganz flau im Magen. Sie weigerte sich, die Zeichensprache auch nur ansatzweise zu erlernen, und daher unterhielt sie sich mit ihrem jüngsten Enkelkind nur auf dem Umweg über einen Dolmetscher, und das waren im allgemeinen Cary oder ich.
Mommy schien sich zwar auf die Besuche bei Großmama Olivia zum Brunch oder zum Abendessen zu freuen, doch wenn es dann soweit war und der Tag der Einladung kam, war sie jedesmal nervös. Mommy erinnerte mich an jemanden, der sich auf einen Termin zum Vorsprechen vorbereitet und unbedingt die Rolle haben möchte. Wir strengten uns alle gewaltig an, denn ihr war wichtig, wie wir uns kleideten, wie gründlich wir uns das Haar bürsteten und ob unsere Schuhe auch wirklich blitzblank glänzten, und jedesmal wieder rief sie uns, wie auch jetzt, die Verhaltensregeln in Großmama Olivias Haus ins Gedächtnis zurück, darunter auch, was wir keinesfalls erwähnen durften und was wir unter allen Umständen sagen sollten. Wenn einer von uns Großmama Olivias Begutachtung nicht standhielt, schob Daddy im allgemeinen Mommy die Schuld zu, und daher taten wir unser Bestes, um den Erwartungen gerecht zu werden.
Nachdem wir uns herausgeputzt hatten, sahen wir alle wie andere Menschen aus, vor allem May und ich, denn Großmama Olivia mochte es nicht, wenn Frauen ihr Haar offen trugen. Sie sagte, das gäbe ihnen den Anschein von Hexen, und daher mußte ich mir das Haar mit Haarnadeln und Kämmen aufstecken, und sogar May steckte sich das Haar zu einem kleinen Knoten im Nacken auf. Diese altmodischen Frisuren ließen uns zwar um Jahre älter wirken, aber übermäßig erwachsen wirkten wir trotzdem nicht, da Make-up strengstens verboten war, sogar für Mommy. Sie trug nicht einmal eine Spur Lippenstift auf.
Trotz allem freute ich mich wirklich darauf. Bei Großmama Olivia wurde im allgemeinen köstliches Essen serviert. Ganz besonders liebte ich die winzigen Küchlein mit Zuckerguß und Geleefüllung, und obwohl wir eigentlich schon erwachsen waren, drückte Großpapa Samuel Cary, mir und May heute noch beim Abschied druckfrische Fünfdollarscheine in die Hand.
Ich besaß ein ganz bestimmtes Kleid, das Großmama Olivia immer mehr zu würdigen wußte als meine anderen Sachen. Es war marineblau und hatte einen weißen Kragen, der sich bis zum Hals zuknöpfen ließ. Ich besaß zwar auch andere Kleider, die ebenso unmodisch waren, aber aus irgendwelchen Gründen verzog sich Großmama Olivias grimmiges Gesicht jedesmal wieder zu einem Lächeln, wenn ich in diesem Kleid erschien.
Als ich vor dem Spiegel stand, achtete ich sorgsam darauf, die Schultern zurückzuziehen und den Kopf hoch erhoben zu halten, als balancierte ich ein Buch darauf. Zu den Dingen, an denen Großmama Olivia mit Vorliebe herumnörgelte, gehörte die gekrümmte Haltung der jungen Leute heute. Sie behauptete, in der Haltung zeigte sich der Charakter eines Menschen, und außerdem ließe sich daran die Gesundheit ablesen. Außer mit Cary hatte ich nie mit jemandem darüber gesprochen, aber in Wirklichkeit tat mir Großmama Olivia leid. Gewiß, sie hatte ein schönes, großes Haus, das mit kostbaren Möbelstücken, Gemälden und Zierat angefüllt war, und wenn sie Gäste zum Abendessen einlud, dann wurden auf teurem Porzellan ausgeklügelte Speisen serviert, und der Tisch wurde mit edlen Kristallgläsern und echtem Silber gedeckt.
Aber trotz all des Überflusses, der einflußreichen Bekannten und der Galaveranstaltungen, zu denen sie lud, kam mir Großmama Olivia nie glücklich vor. Ich glaubte sogar, daß ihr Reichtum und ihr gesellschaftlicher Status ihr Fesseln anlegten. Wie traurig es doch sein mußte, schloß ich daraus, wenn man sich niemals im Leben gehenlassen durfte, wenn man es sich nicht gestatten durfte, barfuß über den Strand zu laufen, einfach nur zu faulenzen oder, kurz gesagt, jede Spontaneität ausgeschlossen war, sondern man immer erst alles gründlich planen mußte, als müßte das ganze Leben dem Knigge unterworfen werden.
Ich wußte nur sehr wenig über die Vergangenheit meiner Großmutter. Von sich aus erzählt sie nie etwas darüber, und es war auch eine Seltenheit, daß sie Geschichten erzählte, es sei denn, sie dienten dazu, Verhaltensmaßregeln zu illustrieren und ihnen Nachdruck zu verleihen. Wenn ich Mommy Fragen zu Großmama Olivia stellte, schüttelte sie jedesmal den Kopf und sagte: »Deine Großmutter hat eine schwere Kindheit gehabt, wegen der Probleme, zu denen es durch ihre Schwester Belinda immer wieder gekommen ist.« Welcher Natur diese Probleme waren und wie sie Großmama Olivia das Leben erschweren konnten, war mir ein Rätsel. Belinda hatte in ihren jungen Jahren Alkoholprobleme gehabt und war schließlich in einem Pflegeheim in unserer Nähe untergebracht worden. Wenn ich sie dort besuchte, erzählte sie mir immer Geschichten und spielte auf ihre und Großmama Olivias Jugend an, aber es war so gut wie unmöglich, ihre Geschichten zu verstehen, da meine Großtante Belinda die Vergangenheit und die Gegenwart durcheinanderbrachte und Menschen und Orte miteinander verwechselte. Wenn sie mich sah, konnte es vorkommen, daß sie mich Sara nannte, weil sie mich für meine Mutter hielt, und kürzlich hatte sie mich sogar einmal Haille genannt.
Großmama Olivia gefiel es gar nicht, daß ich Tante Belinda besuchte. Sie behandelte ihre Schwester wie eine Aussätzige und tat ganz so, als könnte sie jeden von uns mit ihren Geschichten und Äußerungen anstecken. In Großmama Olivias Gegenwart erwähnte ich ihren Namen so gut wie nie, denn ich wußte, welche Reaktion ich damit provoziert hätte.
All diese Tabus und die strengen Vorschriften, an die wir uns halten mußten, führten dazu, daß Cary, May und ich gewissermaßen auf Zehenspitzen durch das große Haus schlichen und selbst draußen auf dem weitläufigen Grundstück nur mit gesenkten Stimmen sprachen. Wir taten alles, um unserer Großmutter möglichst selten unter die Augen und in den Sinn zu kommen.
Nachdem wir uns alle umgezogen hatten, begutachtete Daddy uns wie bei einer Musterung, ehe eine militärische Parade stattfindet. Er rückte Carys Krawatte gerade und strich Mays Rock glatt, sowie er eine kleine Falte entdeckt hatte.
»Ich kann ihr sagen, daß sie den Rock ausziehen soll, damit ich ihn schnell noch einmal bügeln kann, Jacob«, erbot sich Mommy.
»Nein, schon gut«, sagte er. »Sonst kommen wir zu spät. Laßt uns jetzt aufbrechen.«
Wir nahmen zu dritt auf dem Rücksitz Platz, Cary und ich außen und May zwischen uns. Auf der Fahrt zu Großmama Olivia und Großpapa Samuel sah Cary aus dem Fenster und schaute mich nicht ein einziges Mal an.
»Was für ein herrlicher Frühlingstag«, sagte Mommy, als wir auf die Route 6 fuhren. Großmama Olivias Haus lag auf halber Strecke zwischen Provincetown und North Truro. Von außen wirkte das Haus meiner Großeltern alles andere als kalt und unpersönlich. Es war ein großes zweistöckiges Gebäude mit Holzverschalung und einer Haustür, deren Holz weiß gestrichen war. Über der Tür befand sich ein fächerförmiges Buntglasfenster, und obgleich ich sicher bin, daß es als Dekoration gedacht war, machten Cary und ich uns immer darüber lustig. Wir redeten uns ein, es sähe aus wie ein finsteres Gesicht, das Besucher abschrecken sollte.
Großmama Olivia war sehr stolz auf ihr Haus und behauptete, seine historische Vergangenheit verleihe ihm Würde.
»Der ursprüngliche Bau ist um 1780 herum errichtet worden«, wurde jeder Besucher von ihr belehrt. Im allgemeinen fügte sie hinzu: »Damals haben die wohlhabenden Familien begonnen, in Amerika die ersten eleganteren Gebäude im Kolonialstil hinzustellen. Heute«, fuhr sie dann in dem scharfen, kritischen Tonfall fort, der so typisch für sie war, »opfern die Reichen die klassischen Ideale ihrer Prunksucht.«
Auch das Grundstück um das Haus herum war wunderschön und sehr gepflegt. Der Rasen war immer frisch gemäht und wirkte wie ein grüner Teppich, und der Blumengarten mit seinen Hortensien, Stiefmütterchen, Rosen und Geranien strahlte in seiner Farbenpracht. Es gab sogar einen kleinen Ententeich, in dem etwa ein Dutzend Enten herumschwamm. Vor dem Haus standen zwei ausladende Ahornbäume, die rot blühten. Zwischen ihnen war eine Hollywoodschaukel aufgestellt, doch ich glaubte nicht, daß sie jemals benutzt wurde, wenn Cary, May und ich uns nicht gerade dort aufhielten.
Wir sahen, daß Richter Childs’ Wagen in der kreisförmigen Auffahrt geparkt war, als wir vorfuhren. Richter Childs war häufig zu Gast, vor allem am Sonntag zum Brunch. Er war der engste alte Freund meiner Großeltern. Der Richter hatte sich zur Ruhe gesetzt, aber Großmama Olivia betonte immer den Umstand, daß er trotzdem noch Freunde in hohen Ämtern hatte und sehr einflußreich war.
Nachdem wir aus dem Wagen gestiegen waren, musterte uns Mommy noch einmal von Kopf bis Fuß und strich Mays Kleid glatt, um es faltenlos erscheinen zu lassen.
Daddy läutete an der Tür, und Loretta, Großmama Olivias Haushälterin, öffnete uns. Solange ich zurückdenken konnte, hatte Loretta für Großmama Olivia und Großpapa Samuel gearbeitet, aber sie schien nie froh darüber gewesen zu sein.
»Sie sind alle im Wohnzimmer«, teilte sie uns ohne jede hörbare Gefühlsregung mit und trat zur Seite, um uns ins Haus zu lassen.
Wir traten im Gänsemarsch ein, erst Daddy, gleich nach ihm Mommy und dann wir drei, einer nach dem anderen.
Man kam durch eine kleine Eingangshalle mit Marmorboden und Gemälden auf beiden Seiten in das Haus. Die Bilder stellten Landschaften aus der näheren Umgebung dar, und es waren auch Seestücke, Boote und Porträts von Matrosen darunter. Das ganze Haus war immer von einem kräftigen Blumenduft durchdrungen, sogar im Winter.
Die erste Tür rechts führte ins Wohnzimmer. Dort fühlte man sich wie im Schaufenster eines Möbelgeschäfts. Der Eichenboden war derart blank poliert, daß Cary und ich uns einbildeten, wir könnten darauf Schlittschuh laufen. Zwischen den beiden beigefarbenen Sofas und unter dem großen Couchtisch aus dunklem Ahorn lag ein Teppich. Neben den beiden Sofas standen passende Beistelltischchen aus Ahorn. Auf allen Tischen und in sämtlichen Regalen sah man Stücke aus Kristallglas, die sehr kostspielig wirkten, Vasen und gelegentlich auch Bilder von Großpapa Samuel und Großmama Olivia in ihren jungen Jahren, dazwischen ein paar Fotos von Daddy und Mommy und ein Gruppenbild mit mir, Cary und May, das vor vier Jahren aufgenommen worden war. Sämtliche Bilder hatten silberne oder goldene Rahmen. Von dem totgeschwiegenen Onkel Chester und von Tante Haille gab es keine Fotos. Ihre Namen in diesem Haus zu nennen wurde mit Gotteslästerung gleichgesetzt.
Jedesmal wieder kam mir alles brandneu vor. Das Metall funkelte, und das Glas blinkte. Die Fensterscheiben waren so sauber, daß man nicht erkennen konnte, ob die Fenster offen oder geschlossen waren, solange man nicht direkt vor ihnen stand.
Als wir das Wohnzimmer betraten, saß Großmama Olivia auf ihrem Stuhl und wirkte wie eine Königin, die eine Audienz gewährt. Sie trug ein elegantes Kleid aus roséfarbener Seide mit einer großen Kamee über der linken Brust. Wir wußten alle, daß es sich dabei um ein Erbstück handelte, das von ihrer Großmutter väterlicherseits stammte. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten aufgesteckt, mit einem Perlmuttkamm, der mit kleinen Diamanten verziert war.
Großpapa Samuel wirkte im Vergleich zu Großmama Olivia eher lässig. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und hielt ein großes Glas Whiskey mit Soda in der Hand. Er trug einen hellbraunen Anzug und war so schick wie eh und je. Sowie wir den Raum betraten, lächelte er uns strahlend an.
»Da seid ihr ja«, bemerkte er, »und noch dazu habt ihr uns eine Schar von hübschen Enkeln mitgebracht, was, Nelson?«
Richter Childs nickte. Er saß Großpapa Samuel gegenüber, zur Rechten von Großmama Olivia. Der Richter war ein distinguierter älterer Mann mit grauem Haar, durch das sich noch Fäden seines ursprünglich hellbraunen Haars zogen. Er trug es kurz geschnitten und rechts gescheitelt, und er hatte einen dunkelblauen Anzug mit einer Fliege an. Ich fand, er sähe trotz seines Alters immer noch sehr gut aus. Sein Gesicht war rund, und sein Teint wies eine gesunde Farbe auf, und nur auf seiner Stirn waren Falten zu sehen. Er hatte hellbraune Augen, deren Glanz eher einem halb so alten Mann entsprochen hätte.
»Das kannst du laut sagen, Samuel. Ihr könnt euch sehr glücklich schätzen, du und Olivia. Hallo, Jacob. Sara, guten Tag«, sagte der Richter.
Mommy nickte ihm zu und lächelte dann.
»Wollt ihr eine Bloody Mary«, sagte Großpapa.
»Nein, danke«, erwiderte Daddy eilig.
»Ich weiß, daß du gern Bloody Mary trinkst, Sara«, fuhr Großpapa mit einem verschmitzten Lächeln fort. Mommy warf einen schnellen Seitenblick auf Daddy, dessen Miene sich beträchtlich verfinstert hatte.
»Oh, ich glaube, im Moment lieber nicht, Papa«, erwiderte sie.
»Wann wirst du endlich diese Kette lösen, an die du deine Frau gelegt hast, Jacob?« sagte Großpapa, und der Richter lächelte.
»Diese Bemerkung ist absolut unangemessen«, verkündete Großmama Olivia. »Vor allem in Gegenwart der Kinder«, fügte sie streng hinzu. »Loretta«, fauchte sie, »bring die Kinder bitte in die Küche und gib ihnen ein Glas Limonade, während wir warten, bis das Essen serviert wird.«
»Ja, Ma’am«, sagte Loretta.
Großmama Olivia fand es unziemlich, daß junge Menschen dabeisaßen und zuhörten, wenn ältere Leute sich miteinander unterhielten. Als wir neben Mommy und Daddy in der Tür gestanden hatten, hatte sie uns eingehend gemustert. Jetzt nickte sie Daddy zu.
»Die Kinder machen einen sehr guten Eindruck«, sagte sie entgegenkommend zu Mommy, die daraufhin augenblicklich strahlte. »Aber geht nicht nach draußen und macht euch schmutzig«, rief sie uns nach. »Es wird nicht lange dauern, bis wir euch zum Essen rufen. Setz dich, Jacob. Steh nicht so rum. Das macht mich nervös. Sara.«
Die beiden traten eilig näher, und Loretta ging mit uns in die Küche und gab uns Limonade. Dann liefen wir, wie schon früher so oft, zur Hintertür hinaus und in die Laube. Cary stand da und starrte auf das Meer hinaus, während ich mich mit May unterhielt, damit sie beschäftigt war. Schließlich drehte sich Cary zu mir um und kniff die Augen zusammen, als hätte er Schmerzen.
»Du gehst zum erstenmal mit einem Kerl aus, und läßt dich gleich von ihm auf einen einsamen Weg fahren. Das macht keinen guten Eindruck. Es läßt dich dastehen wie … wie … ein williges Opfer«, sagte er. »Ich wußte genau, daß er es tun würde. Es war mir von Anfang an klar«, behauptete er und drehte sich wieder zum Meer um.
»Erstens bin ich kein einfaches Opfer, Cary Logan. Ich bin nicht leicht zu haben, denn ich tue nichts, was ich nicht tun will, und wir haben nichts Böses getan, wenn du es genau wissen willst. Robert ist ein absoluter Gentleman.«
»Ha«, sagte er.
»Du kennst ihn nicht, Cary.«
»Du wirst es ja sehen«, prophezeite Cary. »Morgen werden sie in der Schule über euch reden, und Royce wird damit prahlen, wie leicht du rumzukriegen warst.«
»Das wird er nicht tun! Und es ist abscheulich von dir, so etwas zu behaupten. Du bist ja nur … eifersüchtig«, klagte ich ihn an. Er zog die Schultern steif zurück, und als er sich wieder zu mir drehte, hatte sich sein Gesicht gerötet.
»Was soll das heißen?«
»Du hast keine Freundin, und du triffst dich nicht mit Mädchen zu einem Rendezvous, und daher …«
»Ja, was?«
»Daher bist du neidisch, weil ich es tue.«
»Rendezvous«, sagte er und zog den rechten Mundwinkel hoch. »Das nenne ich ein schönes Rendezvous.«
Ich merkte, daß May meine Lippen gelesen hatte und mein Gesicht nicht aus den Augen ließ. Sie schien sehr verwirrt zu sein. Ich bemühte mich, sie anzulächeln, aber sie wandte sich ab und sah Cary an. Als sie mich wieder ansah, hatte sie die Augenbrauen hochgezogen. Sie sah uns nicht oft streiten.
»Wir reden später darüber«, sagte ich.
»Es gibt nichts zu bereden«, gab Cary zurück.
»Warum bist du uns dann gefolgt?«
»Warum?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin zu der Tanzveranstaltung gegangen, weil ich sehen wollte, wie es dort zugeht, und als ich bemerkt habe, daß ihr beide früher aufgebrochen seid, war mir klar, daß ich dich besser im Auge behalten sollte. Es war dein Glück, daß ich es getan habe. Ich kann einfach nicht glauben, daß du jetzt auch noch die Frechheit besitzt, mir Fragen zu stellen. Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du es niemals rechtzeitig nach Hause geschafft.«
»Du mußt mich …«
»Was muß ich, Laura? Sprich weiter. Was?«
»Erwachsen werden lassen«, sagte ich.
Er starrte mich an, blinzelte mehrfach schnell hintereinander und wandte sich dann wieder dem Meer zu.
»Ich weiß es zu schätzen, daß du dich um mich sorgst, aber ich brauche auch meinen Freiraum, Cary.«
»Von mir aus«, sagte er durch zusammengebissene Zähne.
Dann sah er sich abrupt um und blickte finster das Haus an. Seine Wut kochte über wie sprudelndes Wasser in einem Topf. »Ich weiß nicht, warum wir hier warten müssen, bis sie ihren Klatsch beendet haben. Ich habe Hunger. Wir haben heute so gut wie nichts zum Frühstück gehabt.«
»Dann geh doch rein und sag es Großmama«, provozierte ich ihn.
Er stapfte die Stufen zur Tür hinauf und riß sie fast aus den Angeln, als er sie öffnete. May zog an meiner Hand und stellte mir in Zeichensprache ihre ersten Fragen.
»Cary hat Hunger«, erklärte ich ihr. »Er will sehen, wie lange es noch dauert, bis wir essen.«
Sie sah hinter ihm her und warf dann einen Blick auf mich, und in ihren Augen standen Argwohn und Sorge. Ich ließ niedergeschlagen die Schultern sinken. Warum mußte meine neue Beziehung, das Wunderbarste, das ich je erlebt hatte, solche Schwierigkeiten mit sich bringen? Warum konnte sich Cary nicht für mich freuen? Ich war den Tränen nahe und mußte mich abwenden, ehe May mir die Traurigkeit ansehen konnte. Carys Auftauchen im Haus beschleunigte, ganz gleich, was er tat, den weiteren Ablauf der Dinge, denn wenige Minuten später erschien Loretta, um uns zu sagen, es sei jetzt an der Zeit, zum Essen ins Haus zu kommen.
Wie immer wurden zum Brunch phantastische Speisen serviert, Hummer mit einer delikaten Sauce, Krabbencocktail, Bratkartoffeln, alle erdenklichen Salatsorten und, wie üblich, köstliche Nachtische, darunter auch farbenfrohe Petits fours. Hinterher machten die Männer einen Spaziergang am Strand. Richter Childs und Großpapa zündeten sich Zigarren an. Sie forderten Cary und Daddy auf mitzukommen, und Mommy, May und ich blieben bei Großmama Olivia zurück.
Mommy wollte Großmama von meinem Rendezvous berichten und ihr erzählen, wie hübsch ich ausgesehen hätte, als Großmama sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob.
»Ich möchte gern mit Laura sprechen«, sagte sie und unterbrach Mommy mitten im Satz, »wenn du nichts dagegen hättest, Sara.«
»Was? Ach so. Nein. Weshalb sollte ich etwas dagegen haben?« stotterte Mommy und sah sich hilflos in dem großen Zimmer um. Großmama Olivia stand bereits in der Tür.
»Komm, Laura«, befahl sie mir. Ich sah Mommy an. Ihre Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen, und sie schüttelte nur den Kopf. Im Korridor holte ich Großmama ein, die auf die Hintertür des Hauses zuging.
»Warum darf Mommy nicht hören, was wir miteinander reden, Großmama?« fragte ich nervös.
»Wir setzen uns in die Laube«, erwiderte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Nach dieser Mahlzeit brauche ich ohnehin frische Luft und einen kleinen Spaziergang«, sagte sie.
»Das Essen war großartig, Großmama.«
»Der Krautsalat war heute ziemlich bitter«, klagte sie. Wir verließen das Haus und liefen über den Pfad, der zur Laube führte. Dort setzten wir uns auf die Bank.
»Mommy und May sollten auch nach draußen kommen«, sagte ich. »Es ist ein wunderschöner Tag, und am Himmel ist fast keine Wolke zu sehen.«
Ich schaute zum Strand hinunter und sah die vier Männer nebeneinander herlaufen. Großpapa und Richter Childs stießen kleine Rauchwolken aus, die von der Brise fortgeweht wurden und sich in dem Windhauch auflösten. Cary lief mit gesenktem Kopf ein paar Schritte hinter den Männern her.
»Wir lassen sie gleich holen«, sagte Großmama Olivia. »Da du offensichtlich im Begriff bist, eine junge Frau mit den Interessen einer Frau zu werden, fand ich, es sei an der Zeit, daß wir uns miteinander unterhalten, Laura. Ich möchte mich nicht einmischen, aber ich glaube nicht, daß deine Mutter einem solchen Gespräch gewachsen wäre«, fügte sie hinzu.
»Um was für ein Thema geht es denn, Großmama?«
»Um ein Gespräch unter Frauen«, erwiderte sie, »bei dem die eine Frau enorme Erfahrungen und Weisheiten gesammelt hat, die sie an eine jüngere Frau weitergeben kann. Deine Mutter mag zwar die besten Absichten haben, aber ihr fehlen eben meine Herkunft und meine Erziehung. Sie ist sich der Gefahren weniger bewußt.«
»Gefahren?«
Mein Lächeln verblaßte, und ich lehnte mich zurück. Plötzlich hatte ich das Gefühl, das wunderbare Essen hätte sich in meiner Magengrube zu einer harten, kleinen Kugel zusammengeballt.
»Ich verstehe nicht, was du meinst, Großmama. Von welchen Gefahren sprichst du?«
»Soweit ich gehört habe, interessierst du dich für jemanden, und von dieser Person hast du bereits eine offizielle Einladung erhalten und bist mit ihr ausgegangen«, setzte sie mit kleinen Augen an, doch ihre Blicke waren mit einer Intensität auf mein Gesicht geheftet, die jedes Gelächter unterband und mir das Lächeln vom Gesicht wischte.
»Ach so«, sagte ich erleichtert. »Ja. Er ist ein sehr netter junger Mann. Er heißt …«
»Ich kenne seinen Namen«, warf sie eilig ein. »Ich kenne seine Familie, und ich weiß auch, was sie hier tun. Ich weiß, daß er zum Mittagessen bei euch war und daß er dich gestern abend zu der Tanzveranstaltung in der Schule eingeladen hat.«
Meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Großmama Olivias Interesse an meinem gesellschaftlichen Umgang nötigte mir ein Lächeln ab. Sie hatte mich bisher nie danach gefragt, und es war ihr auch vollkommen gleichgültig gewesen, ob ich eine schulische Veranstaltung besucht hatte oder nicht. Ich dachte immer, diese Dinge seien in ihren Augen zu unbedeutend, um ihr Interesse zu wecken.
»Es tut mir leid, daß ich noch keine Gelegenheit hatte, dir mehr über ihn zu erzählen, Großmama«, sagte ich zu ihr. Endlich würden wir beide miteinander reden, von Großmutter zu Enkelin, sagte ich mir und nahm an, sie wolle mir jetzt Geschichten aus ihrer Jugend erzählen, von ihren ersten Lieben.
»In dieser Stadt spielt sich nichts ab, ohne daß ich davon erfahre, und wenn es gar um meine Familie und den Namen unserer Familie geht, dann gibt es kaum etwas, was ich nicht früher oder später herausfinde. Ich rede zwar nicht unbedingt mit dir darüber, aber mir ist klar, wie gut du dich in der Schule machst und wie gern dich deine Lehrer mögen. Ich weiß, daß du deiner Mutter eine große Hilfe bist, und ich bin auch darüber informiert, daß du eine gehorsame Tochter bist. Und gerade deshalb erscheint es mir so wichtig, dieses Gespräch mit dir zu führen«, fuhr sie fort.
Ich lächelte noch strahlender und nickte.
»Du bist noch viel zu jung, um dich ernstlich mit einem jungen Mann einzulassen, und erst recht, wenn er aus einer fragwürdigen Familie stammt.«
»Was?« Das Vergnügen, das in mir aufgekeimt war, fiel in sich zusammen.
»Unterbrich mich nicht, Laura. Hör mir einfach zu. Die Logans und meine Familie, die Gordons, lassen sich, wie du weißt, bis auf die Pilgerväter zurückverfolgen. Wir stammen von einem starken Menschenschlag ab und sind sehr angesehen. In dieser Gemeinde blickt man zu uns auf. Wir bekleiden einen hohen gesellschaftlichen Rang und werden als wertvolle Menschen angesehen, und das zieht Verpflichtungen nach sich, bürdet uns Verantwortung auf. Vor vielen langen Jahren hat mir mein Vater beigebracht, daß der Ruf unser bedeutendstes und wertvollstes Gut ist.
Cary und du, euch beiden ist ein Geschenk in die Wiege gelegt worden. Dieses Geschenk ist euer Familienname. Ihr habt buchstäblich Jahrhunderte eines hochangesehenen Rufs geerbt. Das öffnet euch Türen und verschafft euch Respekt, und auf der Leiter des gesellschaftlichen Erfolgs steht ihr hoch oben, aber ihr tragt auch eine große Verantwortung, Laura, und diese Verantwortung besteht darin, die Ehrbarkeit und den großen Wert unseres Familiennamens zu erhalten.
Und deswegen«, fuhr sie fort, »mußt du dir vorstellen, daß du und alle deine Taten gewissermaßen wie mit einem Vergrößerungsglas beobachtet werden.« Sie lächelte kühl. »Bisher hast du nichts dazu beigetragen, unserem Familiennamen auch nur einen Kratzer zuzufügen, und es wäre mir lieb, wenn es so bliebe. Ich will, daß du augenblicklich einen Schlußstrich unter diese Bekanntschaft ziehst. Diese Leute entsprechen nicht unserem Niveau«, schloß sie. »Ich habe die Absicht, noch heute mit deinem Vater darüber zu reden«, sagte sie. Dann lehnte sie sich zurück und wartete offensichtlich auf eine Reaktion von mir.
Einen Moment lang glaubte ich, die Worte würden mir in der Kehle stecken bleiben und ich brächte keinen Ton heraus. Trotz der lauen Brise, die vom Meer her wehte, hatte ich das Gefühl, in einen Hochofen geraten zu sein. Mein Gesicht war gerötet, und mein Herz pochte zwar, doch es schien tief in meine Brust gesackt zu sein, und ich konnte meinen Herzschlag kaum spüren. Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, was man dir erzählt hat, Großmama, aber hier muß ein Irrtum vorliegen. Robert Royce ist ein sehr netter junger Mann, Großmama. Er …«
»Er stammt aus einer Familie von Gastwirten«, sagte sie und spuckte die Worte regelrecht aus, als schmeckten sie bitter in ihrem Mund. »Weiß du, was ein Gastwirt ist, Laura? Wie man an diesen Beruf kommt? Das sind Menschen, die nichts hatten, keinen Familiennamen, keinen guten Ruf. Sie sind so gut wie mittellos, wenn sie ihre eigenen Häuser Fremden öffnen, hinter ihnen herräumen, ihre Toiletten und Waschbecken putzen, ihnen Essen vorsetzen und den Wünschen anderer nachkommen, die ihnen gar nicht fremder sein könnten, und das Schlimmste von allem ist, daß sie zu der Verschmutzung und der Zerstörung des Kaps beitragen und dafür verantwortlich sind.
Noble Häuser und schöne Landschaften, all das wird durch diese Hotel- und Motelketten herabgewertet. Jeder, der sich den Preis eines billigen Betts leisten kann, kann jetzt herkommen und eine Umgebung genießen, die wir, die all das aufgebaut und begründet haben, erschaffen haben und der wir zu Eleganz verholfen haben. Es geht nicht an, daß du dich mit jemandem von diesem Menschenschlag einläßt, Laura. Ich verbiete dir hiermit ausdrücklich, weiterhin Umgang mit dieser … dieser Person zu pflegen. Es könnte nur zu deinem Untergang führen.«
»Bitte, Großmama«, sagte ich und schluckte die Tränen. »Sprich nicht so mit mir.«
Sie preßte die Lippen zusammen.
»Du mußt lernen, dich zu beherrschen, Laura. Du mußt reif und stark werden, lächerliche kleine Gelüste unterdrücken und immer daran denken, wer du bist. Leider«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, »hatten wir es wegen meiner Schwester und deinem Onkel Chester bereits furchtbar schwer, die Ehre unserer Familie aufrechtzuerhalten. Aber dagegen hat sich Abhilfe schaffen lassen. Einen weiteren Schandfleck, der den Ruf unserer Familie schwächt, können wir absolut nicht gebrauchen.«
»Abhilfe? Dein Sohn hat seine Familie verlassen. Es ist uns nicht gestattet, in deiner Gegenwart seinen Namen zu nennen. Ich verstehe das alles nicht, Großmama. Du sprichst nie über ihn, aber vermißt du ihn denn gar nicht?«
»Er hat seine Entscheidung getroffen, und das war für alle Beteiligten am besten«, sagte sie finster. »Es liegt mir nicht, über die Toten zu reden. Mein Anliegen ist es, über dich zu reden, über die Lebenden.«
»Die Toten?«
»Laura«, sagte sie streng, »hast du verstanden, was ich dir sagen wollte?«
»Nein, Großmama, ich verstehe es nicht. Ich habe Robert gerade erst kennengelernt. Ich mag ihn. Er ist sehr nett zu mir gewesen, und wir hatten viel Spaß beim Tanzen. Ich habe nicht eingewilligt, ihn zu heiraten … noch nicht«, sagte ich, und ihre Augenbrauen zogen sich in einem solchen Tempo derart in die Höhe, daß ich glaubte, sie hätten keinen Platz mehr in ihrem Gesicht.
»Eine solche Person würdest du niemals heiraten«, behauptete sie, und ihre Befürchtungen und Sorgen bewirkten, daß die Falten in ihrem Gesicht tiefer wurden.
»Ich beurteile Menschen nicht nach ihrem Bankkonto, Großmama«, sagte ich. Von meiner Seite aus war das ganz nüchtern und sachlich gemeint, aber sie zog den Kopf zurück, als hätte ich mich vorgebeugt und sie geohrfeigt.
»Ich auch nicht, Laura. Genau das versuche ich dir klarzumachen, und genau das begreifst du nicht. Viele dieser sogenannten Neureichen sind in der Hotelbranche tätig. Sie haben Geld, aber sie haben weder Stil noch einen guten Ruf. Und dazu werden sie es auch nie bringen, ganz gleich, wie dick ihre Bankkonten werden.«
»Aber … hast du denn nie jemanden gemocht, der nicht aus einer alten und angesehenen Familie gestammt hat, Großmama? Noch nicht einmal als junges Mädchen? Früher, als du noch nicht erwachsen warst?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Ich hätte mir niemals gestattet, eine solche Person zu mögen.«
»So etwas kann man sich nicht gestatten oder verbieten, Großmama«, sagte ich lächelnd. »Es ist die reinste Zauberei. Als du in meinem Alter warst, hast du doch gewiß …«
»Ich bin niemals ein dummes junges Mädchen gewesen, Laura, und ich war nie so wie diese hohlköpfigen jungen Mädchen heute. Mein Vater hätte das ohnehin nicht geduldet, vor allem, nachdem ihm meine Schwester soviel Schande gemacht hat. Es wäre sein Untergang gewesen, wenn seine beiden Töchter …« Sie unterbrach sich, um ihre Fassung wiederzuerlangen. »Aber darum geht es hier nicht. Wir haben uns nicht zusammengesetzt, um über meine Vergangenheit zu reden. Es geht um deine Zukunft und um die Zukunft des Rufs unserer Familie«, beharrte sie.
»Kannst du dich denn nicht mehr daran erinnern, wie es war, in meinem Alter zu sein? Du kannst dir damals unmöglich nur Sorgen gemacht haben.«
»Natürlich haben mir genau diese Dinge Sorgen bereitet.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte doch, daß ich eine größere Rolle in deiner Erziehung hätte übernehmen sollen. Sara … Sara ist dem nicht gewachsen, und sie hat ohnehin schon zuviel mit deiner verkrüppelten Schwester zu tun.«
»May ist nicht verkrüppelt, Großmama. Sie muß mit einer Behinderung leben, aber das hat sie nicht davon abgehalten, eine gute Schülerin zu sein und die meisten Dinge zu tun, die andere junge Mädchen in ihrem Alter auch tun. Sie macht sich sehr nützlich im Haus und übernimmt ihre Pflichten. Sie räumt ihr Zimmer selbst auf und hält ihre Sachen gut in Schuß. Sie stellt alles andere als eine Belastung für Mommy dar, Großmama. Wenn du es zulassen würdest, daß ich dir die Grundregeln der Zeichensprache beibringe, könntest du dich selbst mit ihr unterhalten und dir ein Urteil darüber bilden, wie intelligent und was für ein wunderbarer Mensch sie ist.«
»Das ist ja einfach lachhaft. Für solcherlei Dinge habe ich keine Zeit. Und außerdem schirmt ihr sie wegen dieser … dieser Unzulänglichkeit alle viel zu sehr ab. Man sollte sie nicht bevorzugt behandeln, und umsorgt werden sollte sie schon gar nicht. Erst dann wird sie die Kraft finden, mit ihrer Verunstaltung zu leben.«
»Es ist keine Verunstaltung«, beharrte ich. »Und May ist klug und stark genug, um mit ihrer Behinderung ein schönes Leben zu fuhren.«
»Ich habe dich nicht in die Laube gebeten, um meine Zeit auf dieses Thema zu verschwenden, Laura. Ich bin mit dir allein ins Freie gegangen, damit du in den Genuß der Weisheiten kommst, die ich über Jahre gesammelt habe, und ich wollte dir mein Gefühl für familiäre Verantwortung verständlich machen. Leider bin ich diejenige in dieser Familie, die genug Kraft für alle anderen aufbieten muß. Dein Großvater wird immer vergeßlicher. Ich fürchte, er wird senil und wird früher oder später in einem Altersheim landen.«
»Großpapa? Er macht einen wunderbaren Eindruck auf mich.«
»Du lebst nicht mit ihm zusammen«, erwiderte sie trocken. »Im übrigen hoffe ich, du hast dir einen Teil dessen gemerkt, was ich zu dir gesagt habe, und du wirst dich entsprechend benehmen und dich richtig verhalten.«
»Ich mag Robert Royce, Großmama. Ich denke gar nicht daran, ihn zu verletzen, indem ich ihm sage, daß er nicht gut genug für die Logans ist«, sagte ich freundlich und doch entschieden.
Sie starrte mich einen Moment lang an und schüttelte dann bedächtig den Kopf.
»Ich habe mehr von dir erwartet, Laura. Du läßt mir keine andere Wahl, als mit deinem Vater darüber zu reden.«
Ich spürte, wie die Tränen in meine Augen aufstiegen.
»Daddy mag Robert auch«, sagte ich, aber ich wußte, wie enorm der Einfluß war, den meine Großmutter auf meinen Vater hatte. Im allgemeinen faßte er ihre Worte wie ein Evangelium auf. »Sprich bitte nicht schlecht über ihn.«
»Ich habe dein Wort darauf, daß du mit dieser Person keine Dummheiten anstellen wirst«, sagte sie. »Und du wirst auch nichts Unüberlegtes tun. Heutzutage denken sich zu viele junge Leute nichts dabei, ihre Familien in Verlegenheit zubringen.«
»Natürlich werde ich niemanden in Verlegenheit bringen.«
»Gut. Wir werden ja sehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Eines Tages wirst du mir dankbar für das sein, was ich dir heute gesagt habe, Laura. Dann wirst du zurückblicken und über deine eigene Dummheit lachen.«
In diesem Punkt wirkte sie äußerst zuversichtlich, aber innerlich dachte ich mir: Nein, Großmama, ich werde dir niemals dankbar dafür sein, daß du mir gesagt hast, dieser Zauber, der zwischen Menschen aufkommt, sei nichts weiter als hohlköpfige Narretei. Ich werde dir niemals dankbar dafür sein, daß du mir gesagt hast, man müsse Menschen nach ihren Vorfahren beurteilen und nicht nach ihrem eigenen Charakter. Und auch nicht dafür, daß du meinst, der gesellschaftliche Status sei wichtiger als alles andere, sogar entscheidender als echte Gefühle. Nein, Großmama, ich werde dir nicht dankbar dafür sein. Ich werde ewiges Mitleid verspüren, und zwar nicht mit mir, sondern mit dir.
Natürlich sagte ich nichts von alledem. Statt dessen saß ich stumm da und beobachtete, wie sie den Strand im Auge behielt. Die Männer hatten sich gerade auf den Rückweg zum Haus gemacht.
»Es sieht ganz so aus, als hätten die großen Geister die Probleme der Welt gelöst und kehrten zurück«, sagte sie trocken. »Warum fragst du nicht deine Mutter und deine Schwester, ob sie auch ins Freie kommen wollen?«
Ich erhob mich eilig.
»Als ich in deinem Alter war, habe ich älteren Menschen immer dafür gedankt, daß sie sich die Mühe gemacht und die Zeit genommen haben, mit mir zu reden und ihre Weisheiten an mich weiterzugeben, Laura«, sagte sie, als ich mich auf den Weg machte. Ich blieb stehen und drehte mich langsam zu ihr um.
»Ich weiß, daß du mir nur das Beste wünschst und mich glücklich sehen möchtest, Großmama. Dafür danke ich dir«, sagte ich. Damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie bedachte mich mit einem so kühlen und stechenden Blick wie nie zuvor, einem Blick, der mich sofort ins Haus eilen ließ, um Mommy zu holen.