Читать книгу Die Flucht der Waisen - V.C. Andrews - Страница 7
Оглавление1
Ein Hoffnungsschimmer
Als ich mich fertig machte, um zum Frühstück nach unten zu gehen, machte ich mir Sorgen um Butterfly und fragte mich, wie es kam, dass mir und meinen anderen Schwestern dieses Schicksal erspart geblieben war. Jede von uns hatte eine tragische Geschichte, aber langsam wurde mir klar, dass einige dieser Schicksale tragischer waren als andere.
Mit dreizehn wurde ich beinahe von Pamela und Peter Thompson adoptiert, einem jungen Paar, das keine eigenen Kinder hatte. Pamela war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte, und obwohl ich es seltsam fand, dass ich sie Pamela statt Mami nennen sollte, tat ich, worum sie mich bat. Waisen lernen schon sehr früh, alles, also fast alles zu tun, um ihren zukünftigen Eltern zu gefallen.
Pamela war eine Schönheitskönigin gewesen und hatte mich ausgewählt, weil sie glaubte, ich sähe wie eine jüngere Version von ihr aus. Niemand hatte mir je gesagt, ich sei schön oder hätte das Zeug dazu, zu einer Schönheit heranzuwachsen. Daher war ich völlig verblüfft, als Pamela und Peter mich aus genau diesem Grund aussuchten. Aber ich war glücklich, und zum ersten Mal im Leben glaubte ich, vielleicht doch etwas Besonderes zu sein. Ich war nicht mehr einfach nur ein kleines Mädchen, das niemand haben wollte.
Bald wurde mir allerdings klar, dass Pamela mich nicht für etwas Besonderes hielt wegen dem, was ich wirklich war, sondern wegen dem, was sie aus mir machen wollte. All die hübschen Kleider und Unterrichtsstunden, die mir zuerst das Gefühl gegeben hatten, eine verzauberte Prinzessin zu sein, erstickten mich bald. Mir wurde nicht erlaubt, mich in den Sportarten hervorzutun, in denen ich so gut war, oder auch nur ich selbst zu sein. Innerlich war ich völlig zerrissen: Ich wollte Pamela gefallen, weil sie meine neue Mutter war, aber ich wusste auch, dass ich mich verlieren würde, wenn ich ihr gefiel.
Peter versuchte, uns zu helfen, und erklärte Pamela, dass ich im Sport gut sein und trotzdem eine Schönheitskönigin werden konnte. Aber Pamela wurde immer unerträglicher und gehässiger. Als ich schließlich das Gefühl hatte, sie würde nie interessieren, welche Träume ich tief im Innersten hegte, tat ich das Einzige, das mir einfiel, um ihr die Situation begreiflich zu machen. Ich schnitt meine schönen langen Haare ab, die Haare, die sie so gerne bürstete und wusch, die Haare, die mir helfen sollten, ihre kostbaren Schönheitskonkurrenzen zu gewinnen.
Pamela bekam solch einen Wutanfall, als sie mich sah, dass sie nach Luft zu schnappen begann und keuchend verkündete, sie stehe am Rande des Herzinfarktes. Sie warf mir vor, ich bringe sie in Verlegenheit, sei völlig ungeeignet als Teilnehmerin in einem Schönheitswettbewerb oder auch als Tochter. Peter wusste nicht, wie er mit Pamelas Wutausbruch fertig werden sollte. Daher gab er mich zurück wie ein defektes Spielzeug und überstellte mich wieder dem Jugendamt. Und Jahre später bin ich immer noch hier in diesem Höllenloch.
Butterflys Erfahrungen müssen noch viel schlimmer gewesen sein als meine, da sie kaum darüber redet. Im Laufe der Jahre haben wir jedoch einiges erfahren. Aber meistens, wenn sie versucht darüber zu sprechen, verfällt sie in einen ihrer Krampfzustände. Ihre Pflegemutter, Celine Delorice, eine Frau Anfang Dreißig, hatte einst eine hoffnungsvolle Karriere als Balletttänzerin vor sich. Sie heiratete einen wohlhabenden Geschäftsmann, Sanford Delorice, der ihre Bemühungen, eine Primaballerina zu werden, unterstützte. Kurz nach ihrer Hochzeit hatte Celine jedoch einen schweren Autounfall, der sie an den Rollstuhl fesselte. Sie überredete Sanford dazu, ein Kind zu adoptieren. Celine wählte Butterfly aus, weil sie so zierlich war und perfekte Füße hatte. Sie glaubte, Butterfly könne die Tänzerin werden, die sie hatte sein wollen. Fast am selben Tag, als sie sie aus dem Waisenhaus nach Hause brachten, begann ihr Training.
Butterfly war eine gute Tänzerin, aber keine großartige. Sie machte nicht so rasch Fortschritte, wie Celine es sich erhofft hatte, und erstarrte unter dem Druck und der Angst zu versagen. Daraufhin erlitt Celine Delorice einen Nervenzusammenbruch. Zumindest hat Butterfly uns das so erzählt. Bald darauf übergab Sanford sie wieder dem Jugendamt und behauptete, die Behinderung seiner Frau mache es ihnen unmöglich, ein Kind angemessen aufzuziehen. Crystal vertrat die Ansicht, dass noch mehr dahinter stecken müsse, aber sie bedrängte Butterfly nie, die zu Stein erstarrte, sobald man sie zwang, über ihre Vergangenheit zu reden.
Obwohl Raven so reserviert wirkte, unterschied sie sich nicht grundlegend von uns anderen. Nachdem ihre Mutter wegen eines Drogenvergehens verhaftet worden war und in eine Rehabilitationsbehandlung gesteckt worden war, hatte sie eine Zeit lang beim Bruder ihrer Mutter gelebt. Wir kannten nicht alle Einzelheiten, aber irgendetwas war passiert, und daraufhin hatte man Raven hierher gebracht. Sie erzählte uns nur, dass ihr Onkel und ihre Tante als Eltern völlig ungeeignet gewesen seien, besonders ihr Onkel. Sie erzählte mir, dass, was auch immer bei ihrem Onkel und ihrer Tante passiert war, mit ihrer Cousine Jennifer zu tun hatte. Ich wollte gerne, dass Raven sich mir ganz anvertraute, aber anscheinend hatte Raven Probleme damit, irgendjemandem zu vertrauen, selbst Crystal, Butterfly und mir.
Ravens Situation war noch viel komplizierter als unsere, weil Raven irgendwo dort draußen noch einen leiblichen Elternteil hatte. Es war beinahe ausgeschlossen, ein Kind zu adoptieren, solange die geringste Chance bestand, dass dieses Kind dem Elternteil zurückgegeben wurde.
Crystal war die Einzige von uns, die gute Erfahrungen mit Pflegeeltern gemacht hatte. Sie redete nicht viel über sie, aber wenn sie es tat, beschrieb sie Thelmas Leidenschaft für Seifenopern und Karls Leidenschaft, sein gesamtes Leben effizient zu organisieren. Sie erzählte uns, dass er Buchhalter war und sein ganzes Leben als ein Gleichgewicht von Soll und Haben betrachtete. Oft hielt er ihr Vorträge darüber, vernünftig zu handeln. Sie erzählte, ihre Adoptiveltern seien ganz angenehme Menschen gewesen, aber so, wie sie über sie sprach, hielt sie beide wohl für recht wirklichkeitsfremd. Als sie bei einem Autounfall getötet wurden, wollte keiner der Verwandten sie aufnehmen, und so kehrte sie zurück in ein Heim.
Hier waren wir also, vier Waisen, so unterschiedlich und dennoch zueinander hingezogen. In unserer kleinen Gruppe fühlten wir uns sicherer, jede steuerte etwas bei, das wir alle brauchten; jede von uns war bereit, Schmerz und Unglücklichsein auf sich zu nehmen, um die anderen zu schützen. Wenn man uns anschaute, würde niemand glauben, dass uns etwas Besonderes verband.
Ich trug normalerweise eine Latzhose aus grobem Baumwollstoff und ein T-Shirt oder ein altes Sweatshirt. Ich hatte Turnschuhe und ein Paar schicke Schuhe, aber ich bevorzugte meine schweren Stiefel mit dicken Socken. Stets trug ich das rosa Band, das meine Mutter mir ins Haar gebunden hatte, bevor sie mich ins Heim gegeben hatte. Natürlich war es mittlerweile völlig verblichen. Ich band es mir einfach ums Handgelenk. Ich trug fast nie Lippenstift oder Make-up und benutzte lieber einen Deostift als Eau de Cologne. Raven dagegen zog immer einen Rock oder ein Kleid an.
Crystal trug schlichte Kleider und band ihr dunkelbraunes Haar entweder zu einem Knoten oder einem Pferdeschwanz zusammen. Sie trug nur sehr selten Lippenstift und noch weniger Make-up. Es konnte ihr passieren, dass sie den ganzen Tag mit einem Tintenfleck auf dem Kinn herumlief, weil sie kaum je in den Spiegel schaute.
Butterfly hatte noch viel von der Kleidung aus ihrer Zeit bei den Delorices, schicke kleine Kleidchen, mehrfarbige Turnschuhe, eine hübsche pinkfarbene Lederjacke. Es war, als hätte sie aufgehört zu wachsen, weil sie so unglücklich war. Sie war aus kaum etwas herausgewachsen. Ihr goldenes Haar trug sie in herabfallenden Locken, Lippenstift benutzte sie nur, wenn Raven ihr beim Make-up half.
Trotz unserer unterschiedlichen Persönlichkeiten hatten wir etwas Besonderes, etwas, das die anderen Mädchen neidisch machte. Vielleicht war es einfach das Zusammensein. Vielleicht bestand zwischen uns ein geistiges Band. Zumindest besaßen wir etwas, an das wir glauben konnten, nämlich einander.
Trotz des Vorfalls mit Butterfly hatten wir uns rechtzeitig angezogen und waren auf dem Weg nach unten zum Essraum. Von seinen Räumlichkeiten her war Lakewood House perfekt geeignet für zwei Dutzend Pflegekinder. Nur sehr wenig war seit den Tagen als Urlaubshotel geändert worden. Es gab immer noch einen großen Aufenthaltsraum, in dem früher Tische für Brettspiele, Domino, Kartenspiele und Mah-Jongg gestanden hatten, einem Spiel, von dem wir noch nie etwas gehört hatten. Louise sagte, es sei damals das beliebteste Spiel der Touristinnen gewesen. Sie zeigte uns die Steine mit asiatischen Schriftzeichen, warnte uns aber, sie zu berühren. Sie und Gordon warteten nur darauf, die Spiele als wertvolle Antiquitäten zu verkaufen.
Das meiste im Haus war antik oder einfach alt. Die Treppe, auf der wir nach unten zum Speisesaal liefen, bebte und knarrte. Die Leitungsrohre ächzten wie arthritische alte Leute. Fenster froren selbst im Sommer in ihren Fugen ein, und oft funktionierten die elektrischen Einrichtungen nicht. Gordon hasste es, irgendetwas zu reparieren, und wartete, bis es sich nicht länger hinauszögern ließ. Beispielsweise ersetzte er eine Treppenstufe, auch wenn sie noch so fürchterlich knarrte und es gefährlich war daraufzutreten, erst, wenn sich jemand vom Jugendamt angekündigt hatte, um das Haus zu inspizieren. Wenn in unseren Zimmern etwas kaputtging oder wenn mit den Wasserleitungen ein Problem auftrat, gab er einem von uns die Schuld und wartete so lange wie möglich mit der Reparatur.
Schon früh merkten wir, dass Louise fast genauso viel Angst vor Gordon hatte wie wir. Wenn sie ihm je in unserer Gegenwart widersprach, starrte er sie nur mit glühenden Augen an, der Kopf wurde hochrot, die Halsmuskulatur spannte sich an, die Arterien traten hervor, und seine beiden riesigen Hände ballten sich. Er war außergewöhnlich stark. Wenn er in der Laune war, uns etwas vorzuführen, durften wir Kinder zuschauen, wie er einen Baum fällte. Er machte das mit der Axt und hielt nicht einmal inne, bis der Baum umkippte. Holzsplitter flogen um ihn wie blassgelbe Motten; der Baum schien aus Papier zu sein. Diese Demonstrationen seiner Kraft prägten sich den Kindern unauslöschlich ein. Wehe denjenigen, gegen die sich Gordons Wut richtete.
Wenn aber Gäste oder Mitarbeiter des Jugendamtes kamen, verwandelte sich Gordon in einen sanften, lächelnden Riesen, der mit einer Siebenjährigen auf den Schultern umhermarschierte, liebevoll, fürsorglich, beschützend. Zu beobachten, wie sich jemand mit so offensichtlichen Körperkräften so sanft benahm, erwärmte das Herz der Besucher. Einmal erwischte er mich dabei, wie ich ihn voller Abscheu anstarrte, als er solch eine oscarreife Leistung hinlegte. Zufällig war sein Blick auf mich gefallen, daraufhin wandte er sich mir zu und starrte mich mit solch einem kalten, Furcht einflößenden Blick an, dass ich rasch flüchtete. Mein Herz hämmerte so stark, dass meine Brust bebte. Ich ging ihm noch tagelang aus dem Weg, bis er den Vorfall vergessen zu haben schien.
Keiner der Zöglinge schien ihn zu interessieren. Er kannte unsere Namen und wusste, welche Kinder besonders geeignet waren, um seine Fürsorglichkeit vor Leuten vom Jugendamt zu demonstrieren. Aber die eigentliche Elternarbeit überließ er Louise. Sie war die eigentliche Verwaltungschefin in Lakewood House, er war eher der Vorarbeiter.
Gordon achtete jedoch ständig darauf, dass Louise eine gewisse Distanz zu uns wahrte. Wenn ihr Umgang mit einem der Kinder seiner Meinung nach zu vertraulich wurde, beklagte er sich lauthals vor uns allen darüber.
»Du gibst dich zu sehr mit ihr ab, Louise. Ich habe dich gewarnt.«
Hinterher erklärte sie uns, dass sie und Gordon besonders instruiert worden waren, kein zu enges Band mit einem der Pflegekinder zu knüpfen. Dahinter steckte die Vorstellung, dass wir nur vorübergehend hier lebten und bald zu unseren leiblichen Eltern zurückkehrten oder adoptiert würden. Niemand wollte, dass wir traurig waren, wenn wir dieses Heim verließen, oder dass wir unsere neuen Eltern deswegen ablehnten. Was für ein Witz. Wer würde schon etwas dagegen haben, hier wegzukommen? Ich für meinen Teil war froh, dass Gordon die Distanz wahrte und auch darauf achtete, dass Louise dasselbe tat.
Manchmal schaute sie uns an, als seien wir wirklich ihre Kinder. Da sie kinderlos war, bedauerte sie es, einen von uns zu verlieren. Eine richtige Mutter könnte nicht besitzergreifender sein. Aber warme Zuneigung war nur heimlich möglich. Sie musste sich immer erst umschauen und sich vergewissern, dass Gordon nicht in der Nähe war, bevor sie ein Kind auf die Stirn küsste oder an ihren üppigen Busen drückte.
Louise war nicht die Einzige, die uns das Gefühl vermitteln wollte, eine Familie zu sein. Eine liebe ältere Dame, die darauf bestand, dass wir sie Grandma Kelly nannten, bereitete uns jeden Tag die Mahlzeiten zu und hatte stets ein Lächeln oder ein freundliches Wort für uns. Grandma Kelly wohnte im nahe gelegenen Dorf Mountaindale und hatte tatsächlich schon für Louises Familie gearbeitet, als Lakewood House noch eine Fremdenpension war. Sie war nur einen Meter siebenundfünfzig groß, hatte ein rundes Gesicht mit stets hochroten Wangen, besonders wenn sie am heißen Herd arbeitete. Ihre sanften Augen waren so blau wie die Federn eines Eichelhähers. Ihr zinngraues Haar lockte sich noch stärker als das von Butterfly. In der Küche bedeckte sie es jedoch stets mit einer Haube. Sie erzählte uns, dass sie erst mit zwölf nach Amerika gekommen war. Bis zum heutigen Tag sprach sie mit einem irischen Akzent. Crystal fand, Grandma erinnere sie an einen Kobold.
»Toll, wenn Grandma Kelly wirklich ein Kobold wäre und uns zu dem Schatz führen könnte, damit wir endlich hier herauskommen«, meinte ich.
Natürlich glaubte Crystal nicht an Märchen, aber wir stellten uns alle gerne vor, auf uns warte irgendwo ein Goldschatz.
Wir machten Witze darüber, was Grandma Kelly uns zum Frühstück zubereitet hatte, als wir zum Speisesaal hinuntergingen. Während wir anstanden und auf unsere Mahlzeit warteten, erzählte Crystal uns, dass sie vorhabe, den Tag am Computer in der Bibliothek zu verbringen.
Crystal träumte davon, Ärztin zu werden, und sie erzählte uns, dass sie Informationen gesammelt hatte, wie man Stipendien fürs College bekam. Sie behauptete, dass man alles, was man wissen wolle, aus dem Internet erfahren könne.
»Wie sieht’s denn aus mit meiner Zukunft?«, fragte ich.
»Wie gesagt, gibt es Statistiken über Pflegekinder. Jedes Jahr werden etwa fünfzehntausend Pflegekinder achtzehn und verlieren damit ihre Pflegestelle, haben aber keine eigene Familie. Etwa vierzig Prozent aller Pflegekinder enden als Sozialfall.«
»Vielen Dank für die Aufmunterung«, murmelte ich.
»Du könntest heiraten«, schlug Raven vor. »Das werde ich tun, sobald ich jemanden finde, der reich genug ist.«
»Warum sollte er dich heiraten?«, fragte ich. »Weil ich das hübscheste Mädchen bin, das er kennt«, erwiderte sie, schaute kokett über die Schulter und klimperte mit ihren langen schwarzen Wimpern. »Und weil ich die nächste Selena bin, die einen Hit nach dem anderen landet – deshalb.« Butterfly lachte, und Raven umarmte sie. »Zumindest einer liebt mich«, sagte sie. »Und Butterfly wird eine berühmte Tänzerin. Nimm das in deine dämliche Statistik auf, Crystal.«
»Ich will euch nicht gerne enttäuschen oder entmutigen, aber es ist ganz schön schwer, in der Unterhaltungsbranche Erfolg zu haben«, witzelte Crystal. »Und schaut euch doch bloß an, was Selena passiert ist!«
Raven streckte die Zunge heraus, als sie sich umdrehte, um Butterfly bei der Hand zu nehmen. »Komm, Butterfly, wir holen uns unser Essen, dann kann Crystal für sich allein Trübsal blasen. Sie weiß einfach nicht, wie man an etwas glaubt. Man kann alles schaffen, solange man daran glaubt.« Ravens Worte klangen tapfer, aber ich wusste, dass sie hauptsächlich Butterfly galten. Sie war immer noch ganz mitgenommen von dem Vorfall heute Morgen. Während wir in der Essensschlange standen, betrachteten wir eingehend den Speisesaal.
An den Wänden hingen Bilder von Lakewood House aus früheren Tagen, Gruppenfotos von Gästen am See oder auf Liegestühlen. Auf den meisten Bildern waren die Menschen sehr korrekt gekleidet; die Männer trugen Jacketts und Krawatten, die Frauen knöchellange Kleider mit hohen Kragen und Rüschenärmeln. Alle hatten blasse Gesichter, und alle wirkten Jahre älter, als sie tatsächlich waren. Es gab viele Fotos von Familien, weil Lakewood House besonders Familien etwas bot. Die Pflegekinder, die jetzt hier lebten, betrachteten diese Fotos eingehend, meist mit einem sanften, verträumten Lächeln auf dem Gesicht, wenn sie sich vorstellten, zu einer jener Familien zu gehören, die Mutter zu umarmen, den Vater an der Hand zu halten, neben ihren Brüdern und Schwestern zu stehen, einen Namen zu haben.
Es sah ganz so aus, als sei Lakewood House einst sehr hübsch gewesen, ein Ort voller Gelächter und Musik. Laut Grandma Kelly saßen die Gäste früher auf der breiten umlaufenden Veranda und plauderten bis in die frühen Morgenstunden, während die Grillen zirpten und die Eulen neugierig durch die mondhelle Nacht äugten, dem Stimmengemurmel, dem Geräusch der Fliegengittertüren, dem Schrei eines Kindes lauschten. Obwohl ich es nie jemandem anvertrauen würde, nicht einmal einer von den anderen dreien, glaubte ich manchmal, ein gespenstisches Gelächter zu hören und sogar die raschen Schritte glücklicher Kinder, die durch das Haus liefen, durch die Fliegengittertür, die Treppe hinunter, um auf dem gepflegten grünen Rasen zu spielen – sicher, glücklich und voller Hoffnung.
Vielleicht würden wir ja eines Tages auch aus diesem Haus laufen zu einem Ort voller Sicherheit, Glück und Hoffnung.
Der Lärm der Gespräche, das Klappern von Geschirr und Besteck, das Gelächter und Geschrei, das uns heute Morgen empfing, war etwa hundert Dezibel lauter als an Werktagen. Die Schulkinder hatten zwei freie Tage vor sich und konnten, abgesehen von den späten Nachmittagsstunden des Sonntags, ihre Schularbeiten beiseite legen. Bei schönem Wetter konnten wir Softball spielen oder zum verfallenen Tennisplatz hinuntergehen und dort nach unseren häuslichen Pflichten spielen. Louise gestattete den älteren Kindern, zum Mittagessen ein Picknick zu veranstalten, wenn sie einige der jüngeren mitnahmen und auf sie aufpassten. Uns vieren vertraute sie mehr Kinder an als irgendeinem anderen der älteren. Oft jedoch fand Gordon Arbeit für uns. Wir strichen das Haus, schnitten den Rasen, sammelten Laub und putzten Fenster. Im Haus wischten wir die Fußböden, halfen beim Spülen, putzten Staub und saugten. Man sagte uns, weil dies unser Zuhause sei, müssten wir uns auch selbst darum kümmern. »Dann wisst ihr euer Zuhause eher zu schätzen«, erklärte Louise, die Gordons drastische Anordnungen mildern wollte.
»Du brauchst nichts zu rechtfertigen. Sie sollen arbeiten für das, was sie bekommen«, schnauzte Gordon sie an, bevor er sich zu uns umdrehte und seinen Blick wie zwei Laserkanonen auf uns richtete. »Ich will nie wieder Klagen hören.«
Die Hausarbeiten wurden nach einem Rotationsprinzip verteilt. An diesem Wochenende musste keine von uns in der Küche arbeiten. Wir betraten den Speisesaal, einen langen, breiten Raum mit riesigen Fenstern, den einzigen Fenstern mit neuen Jalousien, weil hier die offiziellen Besucher bewirtet wurden.
Meg Callaway war heute für die Essensausgabe verantwortlich. Am Ende des Raumes waren einige lange Tische zusammengestellt, an denen wir alle vorbeigingen und unsere Teller füllten. Meg war fünfzehn, groß und schlaksig. Ihre Zahnspange sah aus wie eine Stoßstange. Crystal fand, sie könnte gut die Tochter von Ichabod Crane aus Sleepy Hollow sein. Sie hatte in einer Beschreibung von ihm gelesen, sein Hals und seine Nase seien so lang, dass er aussähe, als sitze ein Wetterhahn auf seinen Schultern.
Meg versuchte immer, eine von uns zu werden, aber ihr fehlte, was uns verband; da stimmte einfach die Chemie nicht. Sie war eine hinterlistige Ränkeschmiedin und platzte vor Eifersucht und Neid. Raven meinte, ihre Augen müssten auf jeden Fall grün sein. Ständig tuschelte sie mit uns und versuchte, eine gegen die andere auszuspielen. Sie streute Gerüchte aus wie Dünger im Garten und hoffte, dass sie dadurch Konflikte provozieren könnte, bei denen sie dann als die Heldin dastand. Niemand mochte sie wirklich, aber viele hatten Angst, das Ziel ihrer Attacken zu werden, wenn man nicht wenigstens so tat, als sei man freundlich zu ihr. In der vergangenen Woche hatte ich sie zweimal dabei erwischt, wie sie jüngeren Kindern etwas wegnahm.
»Da kommt ja Goldlöckchen mit den drei Bären«, spöttelte sie, als wir uns der Essensausgabe näherten. Sie betrachtete Butterfly einen Moment genau, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem dünnen, eisigen Lächeln. »Warum hat Goldlöckchen denn geweint? Hat etwa jemand Kleber auf ihre Tanzschuhe geschmiert?«
»Komm nach dem Frühstück heraus, dann zeige ich dir, warum sie geweint hat«, sagte ich. Rasch verflog ihr Lächeln. Sie wandte sich an die Zehnjährigen, die ihr halfen.
»Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt noch mehr Toast holen«, fauchte sie sie an und wich meinem Blick aus.
Wir nahmen unser Essen mit zu unserem Tisch.
»Warum sind diese Brötchen bloß so hart?«, murmelte ich. Crystal trank ihren Orangensaft aus und gab uns mit den Augen ein Zeichen, näher zusammenzurücken.
»Ich habe gestern, als ich am Computer arbeitete, ein Gespräch zwischen Grandma Kelly und Gordon belauscht. Grandma warf ihm vor, dass er zwei Tage altes Brot kauft, weil es billiger ist. Sie sagte, sie wüsste auch, dass er nicht das beste Fleisch kaufe. Das stritt er ab und sagte, sie sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie erwiderte, das Essen sei ihre Angelegenheit. Darauf meinte er, sie sollte vielleicht einmal daran denken, sich zur Ruhe zu setzen.«
»Dieser widerliche Kerl«, zischte Raven mit wutblitzenden Augen.
»Ich will nicht, dass Grandma Kelly sich zur Ruhe setzt«, sagte Butterfly traurig. Fast immer senkte sie rasch den Blick, wenn sie etwas gesagt hatte, als hätte sie Angst vor den Reaktionen, die ihre Worte bei den Zuhörern hervorriefen. Ihre Pflegemutter musste eine Tyrannin gewesen sein.
»Keine Angst, das wird sie nicht«, beschwichtigte ich sie. »Kontrolliert ihn denn niemand, überprüft, wie er das Geld verwendet, das er für uns ausgeben soll?«, fragte ich Crystal.
Sie zuckte die Achseln und überlegte einen Moment. »Die Rechnungen werden frisiert, vermute ich, oder mit den Lieferanten werden unter der Hand Absprachen getroffen.«
»Wir sollten ihn melden«, schlug ich vor. Wir vier beugten uns immer noch über unsere Tabletts und flüsterten miteinander. Es war wie eine Verschwörung.
»Wenn wir unsere Namen nicht unter die Beschwerde setzen, wird er Grandma beschuldigen, es getan zu haben, weil sie sich beschwert hat«, meinte Crystal. »Und ich glaube nicht, dass eine von uns etwas unterschreiben möchte, das gegen Gordon Tooey gerichtet ist.«
Wie aufs Stichwort betrat Gordon den Speisesaal. Augenblicklich legte sich der Lärm. Die dunklen Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die riesigen Hände auf die Hüften gestemmt, ließ er den Blick durch den Raum schweifen, als forsche er nach einem Eindringling. Die langen Ärmel seines weißen Hemdes hatte er über die muskulösen Unterarme hochgekrempelt. Auf seinem rechten Arm sah man die Tätowierung eines Haies, die aus seiner Zeit bei der Marine stammte.
»Ich erwarte von euch, dass heute keiner herumgammelt. Direkt nach dem Frühstück kümmert sich jeder um seine Aufgabe, und zwar pronto. Nächste Woche steht uns eine Inspektion bevor, und ich will, dass es hier tipptopp aussieht.«
Am liebsten hätte ich gebrüllt: »Dann brenn doch alles nieder und bau es neu«, aber ich schaute nur auf meinen Teller. Geschäftig kam Louise hinter ihm her und strahlte. Sie war Mitte Fünfzig, eins fünfundsiebzig groß und trug brünettes schulterlanges Haar. Am besten an ihr gefielen mir ihre verblüffend himmelblauen Augen. Sie hatte eine seltsame Art, einen anzuschauen, wenn sie mit einem sprach: Sie sah einen an und blickte dann sofort wieder weg, sodass man nie das Gefühl hatte, ihre volle Aufmerksamkeit zu besitzen. Als befürchtete sie wirklich, wie Gordon ihr gesagt hatte, dass sie sonst eine tiefere Beziehung zu einem Kind aufbauen könnte und dann bei seiner Adoption leiden würde.
»Guten Morgen«, rief sie und schaute eher die Decke an als uns. Dann wandte sie sich in Richtung Fenster. »Ist heute nicht ein wunderbarer Tag? Wir wollen jetzt alle rasch und gründlich unsere Arbeit erledigen, damit wir die frische Luft und den Sonnenschein genießen können. Wie ihr wisst, Kinder, kamen vor Jahren die Menschen in diese Berge, um sich von Lungenkrankheiten wie Tuberkulose zu erholen. Und zwar weil wir die beste frische Luft haben. Ihr habt wirklich Glück, hier leben zu können«, verkündete sie und klatschte vor Begeisterung in die Hände. Dann ging sie zu einem Tisch, um einigen der jüngeren Kinder zu helfen.
»Statt Blut hat sie Sirup in den Adern«, murmelte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie miteinander schlafen. Sie wirken doch wie Öl und Wasser. Wahrscheinlich macht sie die ganze Zeit die Augen zu und hält die Luft an, bis es vorüber ist.«
Raven lachte so laut, dass sie einen Augenblick lang Gordons Aufmerksamkeit auf sich zog. Wir alle senkten die Blicke auf unsere Teller. Als wir wieder aufschauten, marschierte er gerade hinaus. Alle seufzten erleichtert auf.
»Willkommen zu einem weiteren vergnüglichen Wochenende voll Sklavenarbeit im Höllenloch«, sagte ich laut genug, dass auch die Kinder am Nebentisch es hören konnten. Manche lachten, andere warfen einen prüfenden Blick zur Tür, ob Gordon auch wirklich weg war.
»Ich will diesen Zaun nicht schon wieder streichen«, stöhnte Raven. »Hoffentlich hat er mich nicht dafür eingeteilt. Von den Dämpfen aus der Farbe musste ich tagelang husten.«
»Weil sie schädlich für die Lunge sind«, erklärte Crystal.
»Los jetzt«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Wir essen diesen Brei auf und dann nichts wie ab nach draußen, selbst wenn wir arbeiten müssen.«
Die Liste mit den Aufgaben hing am schwarzen Brett. Ich sollte Rasen mähen. Das tat ich zwar nicht besonders gern, aber wenigstens war ich dabei draußen. Crystal und Raven sollten das Gras zusammenrechen, und Butterfly musste im Aufenthaltsraum Staub putzen und die Möbel polieren.
»Geht es ihr gut genug, um heute Morgen allein zu sein?«, fragte ich Crystal, bevor wir nach draußen gingen.
»Ihr geht es gut«, sagte sie. »Nicht wahr, Butterfly?«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, bestätigte sie und schenkte mir eines ihrer Reklamelächeln. »Wirklich.«
»Wenn jemand dich ärgert, besonders diese Megan Callaway, kommst du nach draußen«, schärfte ich ihr ein.
»Ich bin nicht gerne eine Petze.«
»Du bist keine Petze, wenn jemand, der größer ist als du, auf dir herumhackt, Butterfly«, versicherte ich ihr.
»Jeder ist größer als ich«, stöhnte sie. Ich schaute Crystal an. Ich schaute Crystal immer an, wenn ich eine andere oder eine bessere Antwort suchte.
»Es ist auch jeder größer als Grandma Kelly, aber deshalb ist sie doch keine unbedeutende Persönlichkeit oder schlechtere Köchin, oder?«, sagte Crystal. »Wenn du dir überlegst, was sie mit dem, was ihr zur Verfügung steht, alles fertig bringt …«
»Das stimmt. Klein, aber oho«, bestätigte ich.
»Heute Mittag gibt’s ein Picknick«, verkündete ich. »Neben dem Tennisplatz.«
Am Wochenende packte uns Grandma Kelly Sandwiches ein. Wir konnten wählen unter Käse und Schinken, nur Käse, Erdnussbutter und Marmelade oder gehackten Eiern. Dazu gab es Milch oder Saft, einen kleinen Kuchen oder Kekse. Auf einer Decke konnten wir uns dann auf dem Rasen niederlassen. Wenn das Wetter am Wochenende schön war, fühlten wir uns beinahe wie richtige Menschen. Raven hasste diese Formulierung.
»Wir sind richtige Menschen. Es ist doch nicht unsere Schuld, dass in letzter Zeit niemand von uns Notiz genommen hat«, fauchte sie dann wütend.
Wochenenden waren für uns beinahe wie ein Vorsprechen im Theater. Mögliche Adoptiveltern besuchten das Heim, um sich ein Kind anzuschauen, das sie unter Umständen adoptieren wollten. Dass wir wie die Heinzelmännchen arbeiteten, sollte nur unsere Chance erhöhen, denn dann sahen unsere potenziellen Mütter und Väter, wie leistungsfähig wir waren und durch unser Leben im Heim alles andere als verwöhnt. Heute war es ganz genauso. Direkt nachdem wir unsere Decke ausgebreitet und es uns gemütlich gemacht hatten, um unser Picknick zu genießen, kam Louise und suchte Butterfly.
»Da bist du ja, Janet«, meinte sie, als sie zu uns herüberkam, und schaute auf Butterfly hinunter. »Sie haben deine Fotos gesehen und wollen dich kennen lernen«, verkündete sie in offiziellem Tonfall. Immer wenn sie so sprach, fing mein Herz an zu zittern.
»Wer?«, fragte Butterfly.
»Sie heißen Mr. und Mrs. Lockhart«, erwiderte Louise. »Komm mit, Janet. Streich dir bitte dein Kleid glatt«, befahl sie. »Ich hasse es, wenn sie einfach so vorbeikommen, ohne einen Tag vorher Bescheid zu sagen.«
»Kommen sie denn nicht oft samstags oder sonntags vorbei?«, fragte ich.
»Du weißt doch, was ich meine«, entgegnete sie. Ich schüttelte den Kopf. »Wirklich, Brooke, du bist manchmal so … unkooperativ. Warum benimmst du dich nicht so wie Crystal? Sie weiß, wann sie zu reden und wann sie zu schweigen hat.«
»Ich rede, wenn ich etwas zu sagen habe und wenn ich weiß, dass es etwas nützt«, sagte Crystal.
»Siehst du?«, triumphierte Louise, der Crystals Sarkasmus völlig entgangen war. »Janet, steh bitte gerade und blinzele nicht so viel. Komm jetzt, Mr. und Mrs. Lockhart warten schon.«
Nervös schaute sich Butterfly zu uns um. Ich hielt aufmunternd den Daumen hoch.
»Viel Glück«, rief Raven.
»Ich verstehe sowieso nicht, warum sie nicht schon längst weggeschnappt worden ist«, sagte ich, als sie aufs Haus zugingen. »Sie sieht süß aus, ist lieb und intelligent.«
Crystal legte ihr Buch beiseite und schaute uns an.
»Jede von uns ist auf ihre Weise etwas Besonderes, wenn sich nur jemand die Zeit nehmen würde, es zu bemerken. Heutzutage kaufen die Leute Kinder genauso ein wie alles andere. Sie sehen uns nicht als Menschen, sondern als eine Art Besitz. Dieses Heim hier ist wie ein Warenhaus. Ich habe es satt, zu warten und mich wie ein Stück Ware zu fühlen«, fügte sie mit ungewohnter Heftigkeit hinzu. Erstaunt zog ich die Augenbrauen hoch.
»Genauso fühle ich mich auch«, bestätigte Raven, »ich hasse es, wenn man mich mustert wie ein Tier in der Zoohandlung.«
»Du solltest dich besser daran gewöhnen, angestarrt zu werden, Raven«, scherzte ich. »Du bist schön … jeder schaut dir nach.«
Plötzlich wurde Raven ganz kleinlaut. »Ich will doch gar nicht die Blicke auf mich ziehen. Außerdem brauche ich diese Art Aufmerksamkeit gar nicht. Ihr wisst doch, dass ich die Leute immer dazu bringen will, mein wahres Ich, die Sängerin, den Menschen mit Träumen zu sehen.«
»Ich habe doch nur Spaß gemacht, Raven. Wir wissen, dass du nicht darauf aus bist, dass die Jungen dir wie Hündchen hinterherlaufen. Sie tun es einfach.« Ich hatte jetzt ein ganz mieses Gefühl, Raven war wirklich völlig durcheinander.
»Ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass ihr mich versteht. Ich werde nur manchmal traurig. Dann kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass ich jemals einen Menschen finden werde, der mich um meinetwillen mag – und nicht, weil sie so toll mit mir angeben können.«
Crystal und ich schauten uns traurig an. Wir kannten dieses Gefühl, nie geliebt zu werden.
Butterfly kam bis nach dem Mittagessen nicht wieder heraus. Wir falteten gerade unsere Decke zusammen, als sie mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten auftauchte. Crystal hatte Recht, dass wir uns alle fühlten wie ein Ausstellungsstück in einem Warenhaus, dachte ich, als ich Butterfly anschaute. Wie verhältst du dich bei einem Vorsprechen für ein neues Leben, für eine Familie? Bemühst du dich, korrekt zu sprechen? Lächelst du so viel wie möglich, damit sie dich für eine sonnige Natur halten? Manchmal mustern sie dich noch eingehender als ein Arzt. Dann fragst du dich, ob du dich nicht besser auch hinter den Ohren gewaschen hättest. Hast du schlechten Atem? Solltest du deine besten Sachen tragen? Wie lauteten die richtigen Antworten auf ihre dämlichen Fragen? »Wie würde es dir gefallen, bei uns zu leben?«
Wie würde es uns gefallen? Was glauben Sie denn? Wir fänden es grässlich. Wir würden lieber hier bleiben und ein Niemand sein.
»Wie waren sie?«, fragte Raven Butterfly sofort.
»Sie waren nett«, erwiderte sie.
»Alt oder jung?«, fragte Crystal.
»Nicht alt. Sie ist sehr hübsch. Sie hat freundliche Augen in meiner Farbe, und ihr Haar hat auch meine Farbe. Sie sagte, ich sähe so aus, als könnte ich ihr Kind sein.«
»Wow!«, rief Raven. »Auf Wiedersehen, Butterfly.«
Sie schaute uns an, und ihr Gesicht war plötzlich angsterfüllt.
»Wenn sie dich wollen, Butterfly, geben sie dir ein schönes, liebevolles Zuhause«, sagte ich. »Dort wirst du glücklicher sein.«
Sie nickte.
»Wo wohnen sie?«, fragte Crystal.
»In der Nähe von Albany.«
»Das ist schön«, sagte Crystal. »Ich wette, sie schicken dich auch auf eine gute Schule.«
»Wir sind doch nicht für immer hier, Butterfly«, sagte ich, als ich sah, wie traurig sie der Gedanke machte, uns zu verlassen. »Raven, Crystal und ich hätten liebend gerne auch so eine Chance wie du. Wir freuen uns für dich.«
Sie nickte, als sich in ihrem Blick ein gewisses Verständnis zeigte.
»Lass uns Pingpong spielen«, beschloss Raven und nahm sie bei der Hand. Hinter dem Haus stand ein Tisch.
»Ich treffe euch nachher«, sagte Crystal. »Ich laufe noch einmal rasch in die Bibliothek.«
Butterfly schaute mich fragend an.
»Ich sehe euch später. Ich will mir meine Softballausrüstung holen und ein bisschen üben.«
Wir trennten uns, ich ging zu der Vorratskammer, in der die Sportausrüstungen, unsere CD-Player und Radios aufbewahrt wurden.
Auf dem Weg zu der Kammer sah ich die Lockharts, das nette Paar, das sich mit Butterfly getroffen hatte. Sie sahen wie ein nettes, glückliches junges Paar aus, waren gut gekleidet und wären bestimmt die Art Eltern, die jemanden wie Butterfly lieben und auf Händen tragen würden. Die Wände waren in diesem Haus so dünn, dass ich leicht mein Ohr an die Wand zwischen dem Vorratsraum und Louises Büro legen und ihr Gespräch mithören konnte. Ich hoffte, eine gute Nachricht zu hören und sie als Erste verkünden zu können.
»Ja, ich weiß genau, was Sie empfinden«, sagte Louise. »Sie ist wirklich anbetungswürdig. Ich muss Ihnen jedoch noch einige weitere Informationen über sie geben, damit Sie keine unliebsamen Überraschungen erleben«, fügte sie hinzu.
»Unliebsam?«, fragte die junge Frau misstrauisch.
»Nun, vielleicht ist schwierig das bessere Wort. Sie ist in jüngster Zeit von einem Psychotherapeuten behandelt worden. Ich lese Ihnen einmal aus seinem Gutachten vor. ›Janet leidet unter einem tief verwurzelten Minderwertigkeitskomplex. Ihre katatonischen Anfälle sind ein direktes Resultat dieses Komplexes. Sie zieht sich dann in einen Zustand der Unbeweglichkeit zurück und schaltet aus Furcht vor Zurückweisung alle ihre Sinne aus.‹«
»Schizophrene Krampfanfälle? Dieses kleine Mädchen?«
»O ja. Ich musste schon ein paarmal den Notarzt rufen«, sagte Louise.
Mir fiel die Kinnlade herunter. Das hatte sie gar nicht. Kein einziges Mal.
»Oje.«
Ich hörte die tiefe Resignation in ihrer Stimme. Ihr Rückzug hatte begonnen.
Wütend marschierte ich aus dem Vorratsraum und stampfte die Treppe zu Crystals Zimmer hinauf in der Hoffnung, sie noch zu erwischen, bevor sie zur Bücherei ging. Als sie einen Blick auf mich geworfen hatte, ließ sie ihre Büchertasche fallen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Louise sabotiert Butterfly. Ich habe gehört, wie sie den zukünftigen Eltern über Butterflys psychische Verfassung erzählte. Es hörte sich an, als sei Butterfly eine Verrückte, die dauernd Krampfanfälle hat und ständiger medizinischer Betreuung bedarf.«
Crystal nickte nur.
»Warum macht sie so was, Crystal?«
»Das ist doch ganz einfach«, erwiderte Crystal. »Ich habe es euch doch schon gesagt. Pflegeeltern bekommen umso mehr Geld, je älter die Kinder in ihrer Obhut sind. Je länger es also nicht möglich ist, ein dauerhaftes Heim für uns zu finden, desto mehr Geld fließt herein. Wir sind für die Tooeys kleine Dukatenscheißer.«
»Das ist doch entsetzlich! Wie kann Louise uns so missbrauchen?«, fragte ich wütend.
»Also, in Louises Fall ist es, glaube ich, komplizierter. Für sie ist es wirklich schrecklich, einen von uns wegzugeben. Gordon ist hinter dem Geld her, aber Louise macht sich auf ihre Art wirklich etwas aus uns. Für sie sind wir ihre eigenen Kinder.«
»Welchen Zweck hat es denn, dass sich jemand etwas aus dir macht, wenn das damit endet, dass sie dich zurückhalten und versuchen, ihre Vorstellung eines perfekten Kindes zu verwirklichen?« Das hatte ich schon einmal durchgemacht – ich konnte nicht glauben, dass es schon wieder passierte.
»Hast du eine Alternative?«, fragte Crystal. Ich starrte sie einen Augenblick an.
»Ja.«
»Was denn?«
»Wir laufen einfach weg«, antwortete ich schließlich.
Sie lachte mich nicht aus, wie ich erwartet hatte. Stattdessen schaute sie mich eindringlich an und schüttelte dann den Kopf.
»Ich bleibe heute besser zu Hause. Butterfly braucht mich vielleicht«, sagte sie seufzend. »Wir erzählen Butterfly lieber nicht, was Louise tut. Die Vorstellung, nie hier wegzukommen, würde sie zu traurig machen. Und die Sache mit dem Weglaufen würde ich auch nicht erwähnen.«
»Aber es ist mir ernst damit, Crystal.«
Sie wandte mir den Rücken zu und starrte aus dem Fenster.
Es war mir ernst. Wirklich. Ich musste nur alle davon überzeugen.