Читать книгу Die Flucht der Waisen - V.C. Andrews - Страница 8
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Davongekommen
Nachdem Raven und Butterfly Pingpong gespielt hatten, kamen sie zum Spielfeld herunter. Dort zog ich Raven beiseite und erzählte ihr, was Louise getan hatte. Am liebsten wäre sie sofort in Louises Büro gestürmt und hätte sie mit den Tatsachen konfrontiert.
»Wir kehren dort das Unterste zuoberst, und dann reißen wir ihr die Haare aus«, drohte sie.
»Das würde ich gerne, aber das können wir nicht. Erstens soll sie nicht wissen, dass ich gelauscht habe«, erklärte ich. »Und zweitens, willst du hinterher Gordon gegenübertreten?«
Raven beruhigte sich. Die Vorstellung eines wutentbrannten Gordon Tooey reichte aus, um selbst ihr südländisches Temperament zu zügeln. Wenn es im Winter kalt war und man sehen konnte, wie der Atem aus Gordons Nasenlöchern strömte, sah er wie ein Feuer speiender Drache aus.
»Also, das ist einfach nicht fair. Wir müssten es doch jemandem erzählen können«, stöhnte sie.
»Und wie die auf uns hören würden«, entgegnete ich. »Unsere einzige Hoffnung ist, wegzulaufen und unser eigenes Leben zu leben.«
»Weglaufen?« Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Das ist doch eine Idee«, meinte sie und schien nur enttäuscht zu sein, dass ihr nicht selbst dieser Gedanke gekommen war. »Ja, das ist eine gute Idee.«
»Wir warten aber besser noch, bis wir darüber reden«, schlug ich vor. »Ich möchte erst einen Plan ausarbeiten.«
»Ist das dein Ernst?« Sie lächelte. »Also, Brooke, ich finde, du hast da wirklich etwas Tolles vor.« Dann sagte sie uns, dass sie in ihr Zimmer gehen wollte, um sich für einen Kinobesuch mit Gary Davis fertig zu machen. Er war ein Junge in unserem Alter, der wirklich mehr ein Freund war als alles andere.
Sobald wir sechzehn waren, durften wir uns mit Jungen verabreden, mussten aber pünktlich vor elf Uhr wieder zu Hause sein. Diese Frist wurde strikt eingehalten. Wenn man diese Regel verletzte, durfte man einen, vielleicht auch zwei Monate nicht mehr ausgehen. Crystal und ich hatten uns auch ein paarmal verabredet, aber Butterfly wurde nervös, wenn ein Junge auch nur versuchte, mit ihr zu sprechen.
Raven versuchte immer, eine gemeinsame Verabredung zu organisieren, obwohl ich nie verstand warum, bis Crystal mir erzählte, dass Raven ihrer Meinung nach nicht gerne mit den Jungen allein war, mit denen sie sich verabredete. Ich fragte Crystal, warum sie sich dann überhaupt verabredete. Darauf meinte Crystal, dass Raven eben eine unverbesserliche Optimistin sei, die immer nach dem Guten im Menschen suchte.
Da Raven von uns die meisten Verabredungen gehabt hatte, erteilte sie uns stets bereitwillig Ratschläge über Jungen: wie man herausfand, ob sie es ernst meinten, oder ob sie nur auf ein schnelles Abenteuer aus waren. Außerdem kannte sie viele Tricks, wie man diejenigen wieder los wurde, die zu weit gehen wollten. Offensichtlich verfügte sie über eine Menge Erfahrung, wie man unerwünschte Avancen abwehrte. Sie erzählte, dass man der Hälfte der Jungen, mit denen sie ausgegangen sei, den Spitznamen »Oktopus« geben könne.
Als ich mich in Bobby Sanders, einen Jungen aus meiner Tennismannschaft, verknallt hatte, fragte ich Raven, warum er mir keinerlei Beachtung schenkte. Sie meinte, es läge daran, dass ich ihn nie gewinnen ließe, wenn wir gegeneinander spielten.
»Jungen mögen es nicht, wenn Mädchen im Sport besser sind als sie. Das verletzt ihr Ego«, erklärte sie mir.
»Ich wollte doch nur, dass das Spiel Spaß macht«, widersprach ich.
»O nein. Du hast versucht zu gewinnen. Du spielst immer, um zu gewinnen«, warf sie mir lächelnd vor. Das konnte ich nicht abstreiten. Sie hatte Recht. Es lag einfach nicht in meiner Natur, absichtlich zu verlieren. Würde dieser Charakterzug es mir unmöglich machen, jemanden zu finden, den ich liebte und der mich liebte?
Ich fragte Crystal in solchen Angelegenheiten nicht gerne um ihre Meinung. Sie nahm dann die Brille ab, putzte die Gläser, dachte einen Augenblick nach und begann, das Paarungsverhalten von Walen oder dergleichen zu beschreiben.
»Erzähl mir bloß nichts über Tiere«, beschwerte ich mich dann. »Menschen sind doch ganz anders.«
»Nicht wirklich«, würde sie darauf entgegnen, sich über den Verlauf der Evolution verbreiten und ausführen, dass Menschen den Tieren viel ähnlicher sind, als sie denken.
Verschone mich damit, dachte ich dann und suchte eine Entschuldigung, um wegzukommen, bevor sie mir auf den Zahn fühlte.
Es war leichter, mit Raven ein Leben aus zweiter Hand zu führen, leichter, im Bett zu liegen und darauf zu warten, dass sie von ihrer Verabredung zurückkam, und dann, während sie sich auszog, zuzuhören, wie sie den Abend beschrieb, und Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen zu lassen. Normalerweise genoss sie es ebenso, mir von ihren Verabredungen zu erzählen, wie ich es genoss, ihr zuzuhören. Aber nach ihrem Date mit Gary merkte ich, dass etwas nicht stimmte.
»Ich weiß auch nicht, was heute Abend in Gary gefahren ist«, fauchte sie wütend. »Er ist genau wie alle anderen.
Überall hatte er seine Hände. Als ich ihm schließlich einen Tritt verpasste, um ihn loszuwerden, hat er mich ausgelacht.« Zitternd holte sie Luft. »Er sagte, alle wüssten, wozu Mädchen wie ich gut wären. Er hätte Geschichten über mich gehört!«
»Was für Geschichten? Haben irgendwelche Jungen Lügen über dich verbreitet?« Plötzlich war ich so wütend, dass ich wünschte, ich wäre mit im Auto gewesen und hätte Gary sagen können, was ich von ihm und seinen schmierigen Freunden hielt.
Raven holte ein paarmal tief Luft und setzte dann an: »Als ich noch kleiner war und bei meiner Mutter lebte, habe ich mir geschworen, nie so zu werden wie sie, Brooke. Jedes Mal, wenn sie wieder einen anderen Mann mit nach Hause brachte, hasste ich sie mehr – nicht wegen dem, was sie mir antat, sondern was sie sich selbst antat. Ich habe nicht begriffen, warum sie so war.
Hinterher, als ich hierher kam und zur Schule ging, hasste ich es, wenn alle dachten: ›Ach diese Kinder aus dem Waisenhaus‹, als wären wir minderwertig. Dann merkte ich, wie Jungen auf mich reagieren und wie leicht es war, sich als etwas Besonderes zu fühlen, wenn ich die Flure entlangging und sexyer war als die meisten anderen Mädchen. Bestimmt wirke ich dadurch aufreizend, aber es ist ein gutes Gefühl, beinahe ein Machtgefühl. Ich war nicht nur einfach eine von diesen ›Waisen‹. Vielleicht verhielt auch meine Mutter sich so, um sich nicht wie ein Nichts zu fühlen. Ich weiß, dass das für dich keinen Sinn ergibt, aber vielleicht wollte auch sie nur beachtet werden und geriet dann in diesen Teufelskreis, Alkohol, Drogen … Mir wird das nicht passieren, Brooke, aber ich schäme mich auch nicht, dass die Jungen mir hinterherschauen und mich begehren. Ich glaube, ich hasse meine Mutter jetzt nicht mehr so sehr. Ich habe mich ein wenig geändert, aber wir ändern uns alle, nicht wahr, Brooke?«
»Dieser Ort hier verändert dich«, entgegnete ich voller Bitterkeit, die ich nicht verbergen konnte. »Ich mache dir doch keinen Vorwurf daraus, dass du dich zur Schau stellst, Raven. Aber denk daran, es ist gefährlich.«
»Ich weiß. Gary sagt, dass viele Jungen, mit denen ich ausgegangen bin, behaupten, es sei zum Äußersten gekommen. Das stimmt aber nicht. Ich schwöre es dir. Das wird immer der große Unterschied zwischen mir und meiner Mutter sein, Brooke. Ich muss mir wirklich etwas aus einem Mann machen, bevor das passiert. Diese Idioten erfinden einfach etwas. Das ist so frustrierend. Ich möchte, dass man mich mag, aber ich will doch keinen schlechten Ruf haben.«
»Das ist doch völlig gleichgültig, Raven. Hauptsache, du weißt, wer du bist. Menschen, die sich etwas aus uns machen, die wirklich wichtig sind, werden es verstehen«, sagte ich.
»Wirklich? Wir sind Waisen, Brooke. Wir haben niemanden, der uns verteidigt. Wer wir sind ist nicht so wichtig wie für wen die Leute uns halten.
Es ist ein Fluch, ein Fluch, den wir nicht abschütteln können«, murmelte sie. »Und wir haben ihn durch nichts verdient«, flüsterte sie und wandte mir den Rücken zu.
Beim Einschlafen grübelte ich darüber nach, ob sie Recht hatte. Ich hoffte nicht.
Butterfly verlor die ganze nächste Woche kein Wort über die Lockharts. Schließlich blieb Louise eines Morgens, als wir beim Frühstück saßen, an unserem Tisch stehen und informierte Butterfly, dass die Lockharts sie nicht nehmen konnten.
»Sie sind noch nicht bereit für Kinder«, sagte sie. »Aber mach dir keine Sorgen, Schätzchen. Bald wird ein nettes Paar vorbeikommen und dich mitnehmen. Euch alle«, fügte sie hinzu und warf Crystal, Raven und mir einen Blick zu.
»Wir werden bis dahin nicht vor Spannung die Luft anhalten, Louise«, sagte ich.
»Das ist keine gute Einstellung, Brooke. Du musst immer alles positiv sehen«, belehrte sie mich.
»Oh, ich sehe alles positiv«, sagte ich. Raven warf mir einen Blick zu und lächelte.
Louise raffte sich auf und marschierte zum nächsten Tisch, um ein Kind zu belehren, wie es sein Besteck richtig benutzt. Butterfly sah aus, als welke sie dahin. Sie ließ den Kopf hängen und schob ihre Eier auf dem Teller umher.
Wir blickten einander an, dann machte Crystal sich ans Werk.
»Sei nicht traurig, Butterfly«, sagte sie. »Wenn sie dich nicht wollen, wären sie sowieso keine guten Eltern für dich gewesen. Du willst doch nicht wieder bei den falschen Leuten landen, oder?«
Butterfly schaute uns an und schüttelte den Kopf. In ihren Augen glänzten Tränen. Wir fühlten uns, als seien wir alle vier zurückgestoßen worden.
»Wenn die richtigen Leute kommen, wirst du es merken. Zwischen euch stimmt die Chemie, du hast dann ein gutes Gefühl. Als hättest du sie dein ganzes Leben gekannt«, fuhr Crystal fort. Sie würde eine fantastische Ärztin werden, fand ich. Sie tat genau das Richtige, damit man sich besser fühlte.
»Sie mochten mich«, sagte Butterfly, »und ich mochte sie auch. Sie waren nett.«
»Wenn sie ihre Meinung geändert haben, waren sie nichts für dich«, fiel ich ein. »Du hast doch gehört, was Crystal gesagt hat. Sie hat genau recht.«
Wir wollten ihr nicht erzählen, wie Louise ihre Chancen sabotiert hatte. Ohne jegliche Hoffnung würde sie sich noch mehr in sich zurückziehen, als es ohnehin schon der Fall war. So viel wusste ich, denn bei mir war es dasselbe.
»Außerdem«, sagte ich und zwinkerte Raven zu, »habe ich eine andere Idee, die ich euch bald erzählen werde.«
»Tu’s nicht«, warnte Crystal mich.
»Keine Sorge. Ich werde nicht darüber reden, bis ich einen guten Plan ausgearbeitet habe.«
»Einen Plan für was?«, fragte Butterfly, die jetzt neugierig geworden war.
»Für …«
»Brooke.« Crystal riss die Augen auf und zog die Augenbrauen hoch, wie sie es stets tat, wenn sie wütend war.
»Hab Geduld«, bat ich Butterfly. »Es soll eine Überraschung werden.«
Crystal schüttelte den Kopf.
»Falsche Versprechen können mehr Schaden anrichten als nützen, Brooke«, warnte sie mich.
»Dies ist kein falsches Versprechen. Du wirst schon sehen«, entgegnete ich.
»Ich bin deiner Ansicht«, verkündete Raven und schaute Crystal mit ihren rabenschwarzen Augen an.
»Damit habe ich gerechnet«, sagte Crystal kopfschüttelnd.
Wir wandten uns wieder unserem Frühstück zu.
Es war die letzte Unterrichtswoche vor den Ferien. Den größten Teil der Zeit verbrachten wir damit, uns auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten. In der Luft lag die übliche Vorfreude auf die Sommerferien. Die älteren Kinder konnten sich um Ferienjobs bemühen. Geschäfte und Büros, die Aushilfskräfte für die Sommermonate benötigten, schickten eine entsprechende Notiz an unser Haus, und Louise hängte sie am schwarzen Brett aus. Wer interessiert war, füllte eine Bewerbung aus, die Louise an die Firmen weiterleitete. Es gehörte zu den Gepflogenheiten des Jugendamtes, sich mit der Bitte um Unterstützung an die örtlichen Unternehmen zu wenden. Auf uns wirkte das mehr wie Almosen. Normalerweise prahlten die Firmen nämlich damit, dass sie Waisenkinder beschäftigten. Crystal, Raven und ich hatten im vergangenen Sommer gearbeitet, ein Teil des verdienten Geldes lag immer noch auf unseren Sparkonten. Das hatte ich bereits in meine Pläne einbezogen. Aber es musste schon etwas Dramatischeres passieren, um Crystal davon zu überzeugen. Und ohne sie war Butterfly auch nicht mit von der Partie. Außerdem mochte ich Crystal trotz ihrer pessimistischen Einstellung und ihren ständigen Belehrungen wirklich gern. Ich mochte sie alle, und sie mochten mich auch.
An jenem Freitagabend, dem letzten Wochenende vor den Abschlussprüfungen, kam Louise vor dem Abendessen zu unseren Zimmern herauf und platzte bei Crystal und Butterfly herein. Raven und ich hatten gerade angefangen zu lernen, als wir Louise herumbrüllen hörten.
»Ihr wisst genau, welche Regeln es in diesem Haus bezüglich Zigaretten gibt!«, fauchte Louise Crystal und Butterfly an. »Gordon wird sehr wütend darüber sein. Das Gebäude könnte binnen weniger Minuten in Flammen aufgehen.«
»Wir haben keine Zigaretten«, erwiderte Crystal. »Keine von uns raucht. Ich weiß, wozu Rauchen führen kann.«
»Natürlich raucht sie nicht«, bestätigte ich lachend, während ich neben Louise trat. »Sie wäre die Letzte, bei der man eine Zigarette finden könnte. Sie schimpft doch immer mit allen, die rauchen. Wenn du uns so sehen würdest, wie wir wirklich sind, wüsstest du das«, bemerkte ich aggressiv.
»Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Brooke, oder du bekommst zehn Strafpunkte.« Sie drehte sich wieder zu Crystal und Butterfly um, die in ihrem Sessel kauerte. Ich merkte, dass sie zu hyperventilieren begann. »Das ist für mich genauso unerfreulich wie für euch«, fuhr sie fort. »Ich wünschte, ihr hättet mich nicht in diese Situation gebracht, aber ich bin nun mal eure Erziehungsberechtigte.«
»Warum tust du das, Louise? Wer hat dir gesagt, dass Crystal und Butterfly rauchen?«, wollte ich wissen.
»Das ist doch ganz egal«, wich sie aus. »Geht in euer Zimmer zurück. Alle beide.«
Raven ging auf sie zu, aber ich packte sie am Arm und schüttelte den Kopf.
»Warte«, sagte ich. »Sie wird schnell einsehen, dass sie Unrecht hat.«
Plötzlich durchquerte Louise das Zimmer, ging zu Crystals behelfsmäßigem Bücherregal und begann die Bücher herauszureißen. Schließlich stieß sie auf ein Päckchen Zigaretten. Mit spitzen Fingern hielt sie es hoch, als sei es vergiftet.
»Und was ist das, wenn ich fragen darf?«
Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte Crystal den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie das dorthin gelangt ist, Louise.«
»Vielleicht ist es ja zur Tür hereinspaziert«, meinte Louise. Sie starrte Butterfly an, die vor Angst einen hochroten Kopf bekommen hatte. »Das bedeutet zwanzig Strafpunkte. Am Wochenende habt ihr beide Stubenarrest.«
»Aber ich muss morgen in die Bibliothek, um am Computer zu arbeiten«, jammerte Crystal.
»Das wirst du nicht. Ihr beide geht essen und kommt danach sofort wieder hierher zurück. Eure Namen werden ausgehängt, und niemand darf euer Zimmer betreten«, verkündete sie mit Nachdruck und starrte Raven und mich dabei an.
»Du weißt doch genau, dass jemand anders das dorthin getan hat, Louise. Crystal würde doch nie etwas mit Zigaretten zu tun haben wollen, und du kannst doch unmöglich glauben, dass Butterfly es war«, protestierte ich.
»Hast du sie hierher gelegt, Brooke?«, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen, als könnte sie uns durchschauen und so die Wahrheit ergründen.
»Natürlich nicht. Keine von uns raucht, Louise. Das musst du uns glauben.«
»Ich rate dir und Raven, euch sofort in euer Zimmer zu verziehen, bevor ich euch auch zwanzig Strafpunkte gebe.«
Ich wollte ihr gerade antworten, als wir Gordon die Treppe heraufkommen hörten.
»Was ist hier los?«, wollte er wissen.
»Nichts. Alles unter Kontrolle«, entgegnete Louise rasch. Sie schien Angst vor ihm zu haben. Er starrte Raven und mich an, dann blickte er auf Louise und sah die Zigaretten. »Von wem sind die?«
»Ich habe alles unter Kontrolle, Gordon«, wiederholte sie ein wenig leiser. »Die Schuldigen haben ihre Strafe bekommen.«
»Sie haben Glück gehabt, dass du sie erwischt hast und nicht ich«, murrte er, während seine Kiefermuskulatur sich verkrampfte. In Gordon Tooey tobte die Wut. Eines Tages würde er explodieren. Er war nämlich hochexplosiv. Mit dröhnendem Schritt marschierte er an uns vorbei, unter seinen schweren Stiefeln bebte der Holzboden auf dem Flur zu ihren Privaträumen. Jeder, selbst Louise, atmete erleichtert auf. »Das ist einfach nicht fair«, protestierte ich. Ich wollte noch mehr sagen, bemerkte aber, dass Crystal den Kopf schüttelte und mich damit bat, den Mund zu halten. »Lächerlich«, murmelte ich, drehte mich gemeinsam mit Raven um und zog mich zurück.
Nachdem Louise verschwunden war, stahlen wir uns in Crystals und Butterflys Zimmer zurück. Beide wirkten wie vom Donner gerührt. Crystal knallte die Bücher hin und brummte ärgerlich vor sich hin. »Ich muss einfach in die Bibliothek, um den Computer zu benutzen. Ich brauche noch ein paar Sachen, um meine Referate fertig zu machen«, klagte Crystal.
»Schreib einfach auf, was du brauchst, dann gehe ich für dich in die Bibliothek, Crystal«, bot ich ihr an.
Sie sank auf ihren Stuhl.
»Wer hat uns das bloß angetan?«, fragte sie voller Entsetzen darüber, in welchem Tempo sich alles entwickelte.
»Ich glaube, das ist nicht schwer zu raten«, sagte ich. Sie blickte auf. »Die liebe Megan Callaway. Sie plant schon seit Tagen, uns eins auszuwischen, besonders nachdem ich sie im Speisesaal so bloßgestellt habe.«
»Warum hat sie die Zigaretten dann nicht in dein Zimmer geschmuggelt?«
»Wahrscheinlich glaubte sie, es würde dich und Butterfly stärker treffen, eingesperrt zu sein, als Raven und mich«, sagte ich. »Außerdem wusste sie, dass alles, was dich trifft, uns alle genauso trifft.«
»Ich finde es grauenhaft hier«, stöhnte Crystal. Eigentlich sah es ihr gar nicht ähnlich, sich so aufzuregen. »Hier werden wir alle zu … Monstern.«
»Ich kümmere mich um Megan«, schwor ich.
»Das nützt mir jetzt auch nichts mehr«, sagte Crystal.
»Ich bleibe gar nicht gerne den ganzen Tag im Zimmer«, klagte Butterfly. »Besonders wenn es draußen schön ist. Kleine Blumen brauchen Sonne«, fügte sie hinzu, ein Spruch, den sie häufig im Munde führte, weil ihre Stiefmutter ihr das gesagt hatte.
»Denk noch mal über meinen Vorschlag nach, Crystal«, schlug ich vor und sah ihr fest in die Augen. Sie starrte mich einen Moment an, warf Butterfly einen Blick zu und wandte sich dann wieder ihren Büchern zu.
Einige andere Kinder waren aus ihren Zimmern gekommen, um zu sehen, was los war. Megan und ihre Zimmergefährtin standen am Ende des Flurs. Ich konnte sehen, wie befriedigt sie dreinschaute, als die Neuigkeit sie erreichte.
»Ich gehe zu ihr und mache ihr klar, dass wir Bescheid wissen«, sagte ich zu Raven. Ich drehte mich um und wollte losgehen, aber Raven hielt mich zurück.
»Ich habe eine bessere Idee«, flüsterte sie. »Komm mit.«
Verwirrt, aber interessiert folgte ich ihr die Treppe hinunter in den Vorratsraum, Raven knipste das Licht an. Sie nickte in Richtung auf Patty Orsinis Polaroidkamera.
»Es ist auch ein Film drin. Sie hat die letzten drei Bilder für eine besondere Gelegenheit aufgehoben. Erst gestern hat sie mir das erzählt.«
»Und?«
»Ich habe schon eine besondere Gelegenheit im Auge«, fuhr sie mit einem schlauen Grinsen fort und nahm den Fotoapparat vom Regal.
»Dafür kannst du fünfzig Strafpunkte bekommen«, warnte ich sie.
»Wir leihen ihn nur aus. Keine Sorge.« Sie stopfte sich die Kamera unter die Bluse, und wir zogen uns rasch in unser Zimmer zurück, wo sie mir ihren Plan erläuterte.
»Raven, du kleiner Teufel«, rief ich aufgeregt. »Warum ist mir das nicht eingefallen?«
Sie blieb an der Tür stehen, die wir ein wenig offen ließen, während wir warteten. Abwechselnd machten die Mädchen sich fertig fürs Bett. Megan Callaway kam wie üblich mit einem Handtuch aus ihrem Zimmer. Sie trug einen Bademantel und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, nickte Raven mir zu. Wir beide schlüpften hinaus und gingen zum Badezimmer. An der Tür lauschten wir. Als wir die Dusche hörten, öffnete Raven mit Hilfe ihres Bibliotheksausweises die Tür. Ich hielt die Kamera in der Hand. Raven bewegte sich langsam und leise. Sie zog den Duschvorhang zurück, und ich schoss das Foto, bevor Megan wusste, wie ihr geschah. Es war ein toller Schnappschuss, genau von vorne. Als sie schrie, waren wir bereits verschwunden.
Hysterisch vor Aufregung, kehrten wir in unser Zimmer zurück, schlossen die Tür und warteten darauf, dass das Bild sich entwickelte. Klar und deutlich trat es zu Tage. Die Rache war unser. Wir brachten die Kamera zurück und zeigten Crystal unser Beutestück.
»Und wenn es gar nicht Megan war, die uns die Zigaretten untergeschoben hat?«, fragte sie.
»Da bin ich mir sicher, und wenn sie es nicht selbst getan hat, steckt sie auf jeden Fall dahinter, Crystal.«
»Wir werden alle noch viel größere Schwierigkeiten bekommen«, prophezeite sie.
»Mittlerweile ist mir das völlig egal«, sagte ich, aber Crystal schaute besorgt auf Butterfly. »Keine Angst. Wir ziehen sie oder dich nicht mit hinein. Überlass das Raven und mir.«
Megan Callaway hatte keine Ahnung, was wir vorhatten, aber wir befürchteten, dass sie zu Louise gehen würde, und versteckten deshalb das Bild hinter der Tapete. Aus welchem Grund auch immer, erzählte Megan Louise aber überhaupt nichts.
Am nächsten Tag ging ich nach Plan vor. Als wir den Speisesaal betraten, schlüpfte ich auf einen Platz neben Megan.
»Das war überhaupt nicht lustig gestern Abend«, sagte sie.
»Das war auch nicht unsere Absicht«, sagte ich. Dann öffnete ich meine Hand, und sie sah das Foto. Erst wurde sie leichenblass, dann schoss ihr die Röte ins Gesicht. »Jeder Junge hier wird das zu sehen bekommen, und komm ja nicht auf den Gedanken, Louise davon zu erzählen, denn sie wird es nie bei uns finden.«
Sie war den Tränen nahe.
»Du stehst jetzt auf, gehst zu Louise und erzählst ihr, dass du die Zigaretten versteckt hast, um Crystal oder Butterfly eins auszuwischen. Wenn du das tust, gebe ich dir das Foto, und niemand wird es je zu sehen bekommen. Wenn nicht …«
Ich schaute zu Billy Edwards hinüber. Dann stand ich auf und steuerte in seine Richtung. Entsetzt beobachtete sie, wie ich mich neben ihn setzte und, mit Blick auf sie, eine Unterhaltung mit ihm begann. Ich sah, wie sie schwer schluckte, mit gesenktem Kopf aufstand und den Speisesaal verließ.
Um nicht mit dem Bild erwischt zu werden, gab ich es schnell Raven, die den Speisesaal verließ und es im Vorratsraum versteckte. Wir waren beinahe fertig mit dem Frühstück, als Crystal und Butterfly auftauchten. An Crystals Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass ihre Strafen aufgehoben worden waren.
»Wie habt ihr das geschafft?«, fragte sie, als sie sich setzte.
»Das war nicht schwierig. Wir haben Megan ein Foto, das wir zufällig hatten, vor die Nase gehalten und ihr gedroht, es jedem einzelnen Jungen zu zeigen. Dann haben wir ihr versprochen, es ihr zu geben, wenn sie gesteht.«
»Das hat sie getan«, erzählte Crystal. »Sie hat am Wochenende Stubenarrest.«
»Die Ehre gebührt Raven. Es war ihre Idee«, betonte ich.
»Ich weiß, wie man mit solchem Abschaum fertig wird«, prahlte sie.
»Ich gehe in die Bibliothek«, verkündete Crystal. Sie starrte uns einen Augenblick an. »Danke für eure Hilfe, aber ich wünschte …«
»Es wäre nie geschehen?«, half ich ihr weiter.
Sie nickte.
»Ich habe dir gesagt, was wir meiner Meinung nach tun sollten.«
»Lasst mich darüber nachdenken«, bat sie.
»Worüber?«, fragte Butterfly.
Ich schaute Crystal an, und sie nickte.
»Wegzulaufen«, sagte ich.
»Wegzulaufen!«
Raven sprang von ihrem Sitz hoch, um Butterfly die Hand auf den Mund zu legen, und forderte sie auf, leise zu sprechen. Einige schauten bereits in unsere Richtung, Gordon redete gerade mit Grandma Kelly über einen Herd, der ihrer Meinung nach nicht richtig funktionierte.
»Wegzulaufen?«, fragte Butterfly noch einmal mit leiserer Stimme, als Raven die Hand von ihrem Mund nahm.
»Ja«, sagte Raven. »Warum nicht? Ich habe die Nase voll von all diesen Hausarbeiten, ich bin es leid, so zu tun, als forme das unseren Charakter und als verdienten wir damit unseren Lebensunterhalt. In Wirklichkeit arbeiten wir für Gordon und Louise, sie beuten uns schamlos aus. Crystal hat doch herausgefunden, wie das mit dem Essen läuft, nicht wahr?«
»Aber … niemand wird uns jemals adoptieren, wenn wir weglaufen«, stöhnte Butterfly. »Und selbst wenn sie es könnten, wer will denn schon einen Ausreißer adoptieren?«
»Es wird auch niemand, der hier bleibt, adoptiert, Butterfly, zumindest keine von uns.«
»Warum nicht? Ich wäre doch diese Woche beinahe adoptiert worden, oder etwa nicht? Es könnte jederzeit passieren. Ihr habt doch gesagt, ich soll mir wünschen, dass es passiert. Ihr…«
»Louise hat dafür gesorgt, dass es nicht passiert«, platzte ich heraus. Sie starrte mich mit ihren großen, wundervollen, traurigen Augen an.
»Wie meinst du das?«, fragte sie. Ich erzählte ihr, was ich gehört hatte. Ihr Gesicht verzog sich, ihre Lippen zitterten. »Sie halten mich für verrückt?«
»Nein. Sie wissen, dass du nicht verrückt bist«, erklärte Crystal. »Aber sie nutzen jede Möglichkeit, um uns, aus welchem Grund auch immer, hier zu behalten. Es geht ihnen dabei ums Geld. Sie bekommen es steuerfrei. Ich fürchte, Brooke hat Recht.«
»Es ist zu spät für uns, Butterfly«, sagte Raven. »Teenager machen zu viel Scherereien. Eltern möchten lieber, dass ihre Kinder ewig fünf bleiben.«
»Raven hat Recht«, sagte ich. »Ich habe sogar gehört, wie Gordon das sagte. Kleine Kinder, kleine Probleme, große Kinder, große Probleme. Auf jeden Fall«, sagte ich und lehnte mich zurück, »weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch adoptiert werden möchte. Ich bin jetzt schon so lange auf mich selbst gestellt, dass ich mich daran gewöhnt habe – es ist bequem wie ein alter Schuh.«
»Ich auch«, bestätigte Raven.
»Dann sollten wir es tun«, meinte ich rasch und wandte mich Crystal zu. »Wir sollten unser Leben endlich selbst in die Hand nehmen.«
»Wo sollen wir denn hingehen?«, fragte Butterfly.
»Nach Westen«, antwortete ich, »nach Kalifornien.«
»Das ist quer durch das ganze Land«, flüsterte Butterfly erschrocken.
»Wir halten, wo immer wir wollen und wo wir erwünscht sind«, erwiderte ich. »Aber ich vermute, wir müssen den ganzen Weg auf uns nehmen.«
Alle waren still, nachdenklich, voller Fantasien und Träume.
»Dort kannst du viel leichter Tänzerin werden, Butterfly«, sagte ich. »Und du kannst Ärztin werden, Crystal. Und du Sängerin oder Schauspielerin, Raven. Du kannst jeden Tag der Woche zu einem Vorsingen gehen, bis du ein Star geworden bist.«
»Und was ist mit dir, Brooke?«, fragte Crystal.
Ich dachte nach. »Ich könnte endlich ich sein«, sagte ich.
Raven war dagegen, aber ich gab Megan das Foto, wie wir es versprochen hatten.
»Versprochen ist versprochen«, erklärte ich mein Verhalten.
»Solchen Leuten gibt man keine Versprechen«, sagte Raven. »Glaub mir, Brooke. Ich weiß das.«
Sie wusste eine Menge über gemeine Leute, die anderen gerne eins auswischen, aber ich wollte mich nicht selbst hassen. Ich schob das Foto unter Megans Tür durch und dachte nicht mehr daran.
In der darauf folgenden Woche widmete ich genauso viel Zeit unseren Fluchtplänen wie der Vorbereitung auf meine Abschlussklausuren. Ich bat Crystal, im Computer nach einer Reiseroute von New York nach Kalifornien zu suchen.
»Wie sollen wir denn reisen?«, fragte sie. »Wir können doch nicht zu viert per Anhalter fahren.«
»Überlass das mir. Ich arbeite gerade daran«, beschwichtigte ich sie.
»Woran arbeitest du? Zugfahrpläne, Flugpläne? Wie soll ich denn eine Route planen, wenn ich nicht weiß, woran du denkst?«, hakte sie nach.
Ich hatte Angst, es ihr zu sagen, Angst, dass sie nicht mehr mitmachen würde, wenn sie hörte, was ich wirklich vorhatte.
»Plan es einfach mit dem Auto«, sagte ich.
»Mit dem Auto? Und wo willst du ein Auto herbekommen? Du hast keinen Führerschein, du hast kein Geld für ein Auto. Selbst wenn wir alle unser Geld zusammenschmeißen würden, was für eine Karre würden wir dann bekommen? Außerdem hätten wir dann kein Geld mehr für die Reise. Also wirklich, Brooke, ich …«
»Kannst du mir nicht einfach diesen einen Gefallen tun? Bitte?«, bat ich sie, weil ich wusste, dass sie Herausforderungen liebte und gerne demonstrierte, was sie am Computer alles fertig brachte.
»Gut. Ich suche mir im Internet einfach den Automobilclub heraus. Sie stellen Reiserouten und -karten zur Verfügung. Wohin in Kalifornien fahren wir denn?«, erkundigte sie sich und zückte Stift und Notizblock.
»Lass uns fürs Erste Los Angeles anpeilen.«
»In Ordnung.« Sie überlegte einen Augenblick. »Es ist fast Sommer. Wir können eine mittlere oder sogar eine nördliche Strecke wählen. Ich suche ein paar heraus. Dann können wir deren Vor- und Nachteile abwägen.«
»Genau das habe ich vor, die Vor- und Nachteile abzuwägen«, bestätigte ich. Sie starrte mich an und grinste dann.
»Ich mache das nicht, wenn du dich nur über mich lustig machst, Brooke.«
»Das tue ich doch gar nicht«, schwor ich, musste sie dabei aber angrinsen. Schließlich umarmte ich sie einfach. »Mach es einfach. Um den Rest kümmere ich mich«, sagte ich.
»Das hört sich an wie ein Hirngespinst, Brooke. Ich betrachte das im Augenblick mehr als intellektuelle Herausforderung. Mir ist nicht klar, wie das funktionieren könnte«, sagte sie, schulterte ihre Büchertasche und machte sich auf den Weg in die Bibliothek.
Ich wusste, dass ich bei Crystal noch eine Menge Überzeugungsarbeit leisten musste. Sie würde hundert logische Gründe anführen, warum mein Plan voller Haken war. Zu dem Zeitpunkt ahnte noch keine von uns, dass Gordon sie noch am selben Abend so weit treiben würde, dass sie auch einer Flucht auf einem fliegenden Teppich zugestimmt hätte.
Kurz vor zehn ging Crystal ins Badezimmer, um ein Bad zu nehmen und sich zu entspannen. Heute hatte sie, abgesehen von der Erkundung unserer Fahrtroute, den ganzen Tag gebüffelt. Morgen hatte sie ihre letzte Abschlussklausur und war entschlossen, auch diese »sehr gut« zu schreiben.
Etwa fünfzehn Minuten nachdem Crystal im Badezimmer verschwunden war, knallte Raven ihr Buch zu und schwor, nie wieder in ein Schulbuch zu schauen.
»Ist mir doch völlig egal, wenn ich sitzen bleibe«, verkündete sie. Raven war eine gute Schülerin, aber im Augenblick hatten wir alle die Nase voll vom Lernen.
Ich wollte ihr gerade zustimmen, als wir Crystals Schrei hörten. Er war so laut, dass wir ihn durch die geschlossene Badezimmertür und unsere geschlossene Zimmertür hörten. Ich raste hinaus und sah, wie Gordon einen Werkzeugkasten in der Hand davonschleppte. Schuldbewusst blickte er sich um und steuerte auf die Treppe zu. Raven schaute erst mich und dann die Badezimmertür an. In ihrem Blick standen Furcht und Verwunderung. Butterfly kam ebenfalls an ihre Zimmertür.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte ich und näherte mich langsam dem Badezimmer. »Crystal?« Ich hörte ein leises Schluchzen. Daraufhin betraten wir alle das Badezimmer.
Crystal kauerte auf der Kante der Badewanne, in ein Tuch gehüllt, die Arme um den Körper geschlungen, und zitterte. Sie triefte vor Nässe. Das Shampoo rann ihr aus den Haaren.
»Was ist passiert?«, fragte ich. Raven schloss die Tür hinter uns.
»Er … er … kam einfach hier herein und …«
»Gordon? Als du in der Wanne warst?«, vergewisserte Raven sich rasch. Mit tränenerfüllten Augen blickte sie zu uns auf. Sie nickte.
»Ich habe nicht gehört, wie er die Tür geöffnet hat. Ich war in der Wanne eingedöst.«
»Hattest du denn nicht abgeschlossen?«, fragte Raven.
»Doch, natürlich. Er muss sie aufgeschlossen haben«, sagte sie. »Er hat überhaupt nicht geklopft oder so. Er stand direkt neben der Wanne und sah auf mich herunter. Ich hatte den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen und ruhte mich aus, als ich plötzlich seine Gegenwart spürte und hochschaute. Sein Gesicht … es war so rot … und er grinste wie ein Wahnsinniger. Einen Augenblick lang brachte ich keinen Ton heraus.«
»Was hat er getan?«, fragte ich und atmete schneller.
»Er wollte mich berühren«, sagte sie.
»Ich habe es mir doch gedacht«, murmelte Raven.
»Er berührte dich?«, hakte ich nach.
»Er bückte sich und sagte …«
»Was?«, fragte Butterfly.
»›Mal sehen, wie reif diese Äpfel sind.‹ Da schrie ich los, und er zog seine Hand zurück. ›Ich bin doch nur hier, um eine undichte Stelle am Becken zu reparieren‹, behauptete er. ›Reg dich nicht auf.‹ Als ich wieder schrie, drehte er sich um und verschwand.«
»Eine undichte Stelle am Becken? Von einer undichten Stelle an diesem Becken war doch nie die Rede«, erklärte ich. Rasch warf ich einen prüfenden Blick auf die Rohre. »Er ist nicht hergekommen, um irgendetwas zu reparieren.«
»Wir sollten es Louise sagen«, meinte Butterfly.
»Wozu soll das gut sein? Er würde behaupten, Crystal hätte die Tür nicht abgeschlossen. Dann hätte er auch nicht wissen können, dass sie in der Wanne war«, sagte ich.
»Brooke hat Recht«, bestätigte Raven.
»Aber er hat doch Sachen zu ihr gesagt, unanständige Sachen«, ereiferte sich Butterfly. »Er hat doch nicht Äpfel gemeint.«
»Er wird es einfach leugnen, Butterfly«, sagte ich. »Bitte. Lass mich einen Augenblick nachdenken.«
Wir alle schauten Crystal an. Sie zitterte noch immer. Raven ging zur Badewanne, setzte sich neben sie und legte den Arm um sie.
»Ganz ruhig.«
»Ich habe mich so … gefürchtet.«
»Wir sollten unseren Gesang anstimmen«, schlug Butterfly vor.
»Jetzt?«, fragte ich.
Raven nickte.
Wir kamen näher und berührten uns alle an den Köpfen.
»Wir sind Schwestern. Wir sind zusammen. Uns kann nichts Schlimmes passieren, solange wir zusammen sind«, rezitierten wir. Schließlich stimmte auch Crystal ein. Sie bekam wieder Farbe im Gesicht.
»Es war schrecklich«, wimmerte Crystal.
»Ich weiß, wie das ist«, sagte Raven. Sie schaute von einer zur anderen. »Ich habe ihn schon ein paarmal dabei erwischt, wie er bei mir hereinschneite.«
»Das hast du mir nie erzählt«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln.
»Aber er hat dich nie angefasst, oder?« Ich konnte es nicht fassen, dass Gordon so schlecht war.
»Nein, nie. Ich habe nichts davon erzählt, weil ich nicht wollte, dass jemand noch mehr Angst vor ihm bekommt«, erklärte sie. »Aber wenn er versucht hätte, meine Äpfel zu berühren, könnte er jetzt im Knabenchor singen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Butterfly.
»Egal«, wimmelte ich sie ab. »Ist mit dir alles wieder in Ordnung?«, fragte ich Crystal.
»Mir geht es jetzt wieder gut. Ich werde mich jetzt abtrocknen und ins Bett gehen. Danke, euch allen.«
»Am besten gehen wir jetzt alle ins Bett«, beschloss ich.
»Brooke.«
»Was ist?«
»Ich will alles über deine Pläne erfahren, jede Einzelheit. Morgen nach den Klausuren«, sagte Crystal.
Ich nickte, traurig darüber, dass Crystal auf diese Weise dazu gebracht worden war, sich für meine Pläne zu interessieren.
»Ich hoffe, du hast wirklich einen brauchbaren Plan«, sagte sie und unterdrückte ihr Schluchzen.
»O ja«, bestätigte ich. »Ich habe einen guten Plan. Hast du die Karten bekommen?«
Sie nickte.
»Morgen«, versprach ich und schaute von Butterfly zu Raven und schließlich zu Crystal. »Morgen setzen wir uns zusammen und besprechen die letzten Einzelheiten.«
Ich war so wütend darüber, was Gordon Crystal angetan hatte, und gleichzeitig so erpicht darauf, von dort zu verschwinden, dass ich nicht zur Ruhe kam. Ich musste mich für meine Prüfungen ausruhen, aber es war, als hätte sich mein Verstand in einen Flipperautomaten verwandelt, in dem die Vorstellung unserer Flucht wie eine Kugel von einer aufregenden Möglichkeit zur nächsten sprang, die Finsternis erhellte, Glocken klingeln und Lieder ertönen ließ.
Schließlich stand ich auf und ging ins Badezimmer. Als ich wiederkam, hielt ich inne, weil ich einen Lichtstrahl über die Vorderseite von Lakewood House streifen sah. Raven schlief fest und hatte nichts bemerkt. Neugierig ging ich ans Fenster und schaute auf zwei Gestalten nieder, die auf die Auffahrt zugingen. Eine von ihnen war Gordon. Seine bullige Figur war auch in der Dunkelheit unverkennbar. Der andere Mann war viel kleiner. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie stritten. Gordon hob die Arme, senkte sie dann aber rasch wieder und legte einen Arm um die Schultern des Mannes.
Sie verschwanden um die Ecke und tauchten dann in der Nähe von Gordons Kombi wieder auf. Ich merkte, dass eine Tür geöffnet wurde, weil die Innenbeleuchtung anging, aber niemand stieg ein. Dann ging der kleinere Mann. Gordon schloss die Wagentür und beobachtete, wie der andere in sein Auto stieg und davonfuhr.
Gordon blieb noch einen Moment stehen, dann drehte er sich um und schaute hoch, als hätte er mich am Fenster gespürt. Das Herz sank mir in die Hose, ich wich zurück und wartete. Als ich wieder nach draußen schaute, war er verschwunden, und die Dunkelheit schien dichter zu sein als zuvor.