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4.

Das Mädchen vom Land

Ich schloß die Augen und lehnte mich auf dem Sitz zurück. Ehe Daddy ums Leben gekommen war, waren er, Mommy und ich ein paarmal zu den Stränden von Virginia hinausgefahren, aber abgesehen von diesen Ausflügen waren wir nicht viel herumgekommen. Im Norden war ich noch nie gewesen, und Städte wie New York, Washington, D. C., und Boston hatte ich bisher nur auf Bildern gesehen oder etwas über sie gelesen. Mommy bemühte sich, dafür zu sorgen, daß meine Spannung wuchs. Sie erzählte mir, auf dem Weg nach Cape Cord würden wir Washington und Boston sehen. Eines Tages, sagte sie, fahren wir alle nach New York City. Sie erzählte, sie sei schon einmal dort gewesen, aber diese Reise hätte sie mit ihren alten Adoptiveltern unternommen, mit denen man keinen Spaß haben konnte. Sie könnte sich kaum noch daran erinnern.

»Aber wenn wir erst einmal hinfahren, werden wir es uns so richtig gutgehen lassen. Dann besuchen wir die Museen, gehen ins Theater und essen in den berühmten Restaurants. Stimmt’s, Richard?«

»Ganz genau«, erwiderte Archie. »Dein Leben fängt jetzt erst wirklich an, Melody.«

»Siehst du?« sagte Mommy.

Auf der Fahrt hörte ich den Gesprächen zu, die die beiden miteinander führten. Archie redete von den Städten, in denen er gewesen war. Er verglich sie miteinander, klagte über die eine oder andere, und von wieder anderen Städten schwärmte er. Er behauptete, die besten Restaurants von New York und Chicago zu kennen. In Las Vegas war er schon häufig gewesen und in Los Angeles mindestens dreimal. Er gab damit an, wie viele Leute aus der Unterhaltungsindustrie ihm in den verschiedenen Bars und Restaurants, in denen er gearbeitet hatte, über den Weg gelaufen waren und wen er alles näher kennengelernt hätte. Er behauptete, er sei ganz sicher, daß er all diese Leute anrufen und ihnen Mommy ans Herz legen könnte. Mommy reagierte auf alle diese Versprechen mit großem Vergnügen und fröhlichem Gelächter. Ich konnte einfach nicht fassen, daß sie so leichtgläubig war, aber dann fiel mir wieder ein, daß Daddy einmal zu mir gesagt hatte, wenn man sich allzu sehr wünschte, daß etwas wahr sei, dann mißachtete man sämtliche Beweise, die dagegensprachen. In allererster Linie stellt man keine Fragen, auf die man Antworten bekommen könnte, die man nicht hören will.

Mommy hätte Archie Marlin beispielsweise fragen sollen, warum er nicht selbst einen besseren Job hatte, wenn er mit all diesen einflußreichen Personen so eng befreundet war. Und wie es überhaupt kam, daß er in Sewell gelandet war. Ich war versucht, mich vorzubeugen und ihm diese Frage selbst an den Kopf zu werfen, doch da ich Mommy nicht erzürnen wollte, versuchte ich statt dessen zu schlafen.

Wir hielten an, um zu tanken und ein paar belegte Brötchen zu kaufen, und dann fuhren wir weiter, bis wir Richmond erreicht hatten. Archie brüstete sich damit, ein kleines italienisches Restaurant zu kennen, dessen Besitzer sich bestimmt noch an ihn erinnern könnten und uns sicher bevorzugt behandeln würden. Er versprach Mommy, er würde jedesmal an einem besonderen Restaurant anhalten. Als wir jedoch in die Straße einbogen, in der sich das italienische Restaurant angeblich befand, existierte es nicht mehr.

»Das ist das Ärgerliche mit diesen kleinen Restaurants«, bemerkte Archie. »Sie schießen wie die Pilze aus dem Boden, und genauso schnell schließen sie wieder. Laßt uns ganz einfach dort drüben in dieser Imbißbude einen Happen zu uns nehmen«, beschloß er und fuhr auf den Parkplatz.

Ich hatte keinen Hunger, aber Mommy bestand darauf, daß ich etwas aß. Während wir auf unser Essen warteten, sah ich mir Archie Marlin näher an und versuchte zu verstehen, was Mommy an ihm fand, vor allem, wenn man bedachte, daß sie mit einem so gutaussehenden und starken Mann wie Daddy verheiratet gewesen war.

Archie hatte nicht nur dichte Sommersprossen im Gesicht, sondern auch auf den Handrücken. Seine rötliche Haut war mit weißen Flecken gesprenkelt. Es sah aus, als hätte er sich mit Milch bespritzt, die bleibende Flecken hinterlassen hatte. Seine Handgelenke kamen mir nicht viel breiter als meine eigenen und die von Mommy vor, und die Vorstellung, er könnte eine Hacke oder eine Schaufel in die Hand nehmen, hätte mich fast zum Lachen gebracht. Es war kein Wunder, daß der schwerste Gegenstand, den er je gestemmt hatte, ein Glas Bier war.

Archie Marlin strahlte gebündelte nervöse Energie aus. Daddys stille, ruhige und zuversichtliche Art ging ihm gänzlich ab. Archies Blicke streiften ständig durch die Gegend. Wenn er Fragen beantwortete, sah er einen dabei nur selten an. Er senkte den Blick beim Reden auf den Boden, schaute zur Decke auf oder spielte mit einem Löffel. Während wir auf unser Essen warteten, schilderte er uns, wie er früher einmal in einem Casino in Las Vegas Geber beim Blackjack gewesen war. Er führte uns vor, wie er die Karten mischte und Asse in der Handfläche versteckte. Er sagte, er sei einer der besten Blackjackgeber in der ganzen Stadt gewesen.

»Und warum haben Sie diesen Job dann aufgegeben?« platzte ich heraus, da ich inzwischen mehr als genug von seinen Geschichten hatte.

»Ich war minderjährig«, sagte er. »Und außerdem«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, »habe ich meinen Lohn gleich wieder ins Casino reinvestiert, sobald ich ihn bekommen habe. Immerzu habe ich auf den ganz großen Gewinn gehofft, wie all die anderen armen Narren auch. Aber eine Zeitlang hatte ich meinen Spaß daran.«

»Das muß wirklich aufregend gewesen sein«, sagte Mommy. »Die Scheinwerfer, der Lichterglanz, all diese reichen Leute in ihren feinen Kleidern und die Unterhaltungskünstler, die du dort getroffen haben mußt.«

»Ja, klar«, sagte er, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. »In Vegas habe ich es mir wahrhaftig gutgehen lassen, aber andererseits habe ich überall meinen Spaß, ganz gleich, wo ich bin.«

»Warum sind Sie dann ausgerechnet in Sewell gelandet?« fragte ich, und meine Frage kam so scharf heraus, wie ich es beabsichtigt hatte. Mommy warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, doch ich ließ Archie nicht aus den Augen. Seine Mundwinkel verzogen sich, und er grinste wie eine Katze.

»Als ich dort ankam, schien es mir ein nettes, kleines Städtchen zu sein«, erwiderte er. »Ich dachte mir, jetzt werde ich endlich mal kürzer treten und eine ruhige Kugel schieben. Ich habe mir eingebildet, ich sei jetzt reif für das einfache Leben, aber ich habe mich geirrt.« Er lachte, und Mommy fiel in sein Gelächter ein. »Mann, und wie ich mich getäuscht habe!«

»Gegen ein einfaches Leben ist nichts einzuwenden«, fauchte ich. Die beiden hörten auf zu lachen. »Was ist dagegen zu sagen, daß man eine anständige Stellung hat, Freunde, auf die man sich verlassen kann, und ein hübsches Häuschen?«

Archie zuckte die Achseln. »Nicht das geringste, wenn man fünfundsiebzig oder achtzig ist.«

»So ein Unsinn«, sagte ich.

Mommy sah mich finster an. »Melody. Du wirst dich jetzt entschuldigen. Und zwar sofort.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Archie. »Sie ist verwirrt. Du weißt doch, wie es so schön heißt: Man kann ein Mädchen aus seinem Land vertreiben, aber einem Mädchen vom Land kann man das Landleben nicht austreiben.« Er zwinkerte mir zu.

»Mir macht es nichts aus, ein Mädchen vom Land zu bleiben«, murmelte ich.

»Das kommt nur daher, daß du bisher im Grunde noch nirgendwo gewesen bist. Warte es nur ab«, versicherte er mir. »Du wirst meine Haltung mit der Zeit schon noch verstehen lernen und dich noch ändern.«

Wohl kaum, dachte ich. Lieber wäre ich für alle Zeiten in einer Kohlengrube begraben.

Unser Essen kam. Ich machte mich verdrossen darüber her, während die beiden sich unablässig darüber ausließen, was sie alles tun und sehen würden. Jedesmal, wenn Archie einen neuen Ortsnamen erwähnte, quietschte Mommy vor Vergnügen. Natürlich hatte er die Niagarafälle gesehen, und er war durch den Yellowstone Park gefahren und hatte den Grand Canyon gesehen, war über die Golden Gate Bridge gefahren und hatte die Grand Ole Opry in Nashville gesehen. Sogar das Alamo hatte er gesehen, und er behauptete, er sei in Utah Ski gelaufen und mit einem Floß auf Wildbächen gefahren.

»Sie müssen wesentlich älter sein, als Sie aussehen«, bemerkte ich in einem beiläufigen Tonfall.

»Was? Wieso denn das?« Er hielt mit der vollen Gabel vor seinem Mund inne, als er auf meine Antwort wartete, und seine dünnen Lippen dehnten sich wieder einmal zu seinem künstlichen Lächeln.

»Weil sie ungefähr hundert Jahre alt sein müssen, wenn man Ihnen tatsächlich abnehmen soll, wo Sie schon überall gewesen sind.«

Das Lächeln schwand endlich von seinem Gesicht. »Ich lüge doch nicht, Fräulein«, sagte er zu mir. »Ich kann schließlich nichts dafür, daß du dein Leben lang in einer Kleinstadt festgesessen hast.« Offenbar war ihm aufgefallen, wie wütend seine Stimme klang. Er warf einen schnellen Seitenblick auf Mommy, und sein zorniger Gesichtsausdruck wurde von einem zuckersüßen Lächeln abgelöst. »Aber zum Glück wird sich das jetzt alles ändern. Stimmt’s, Haille?«

»Ja.« Sie warf mir einen hitzigen Blick zu. »Und zwar ganz entschieden.«

Danach hielt ich den Mund. Sie wollten Kaffee und einen Nachtisch bestellen, aber ich hatte keine Lust auf ein Dessert. Deshalb bat ich die beiden, mich zu entschuldigen, und sie erlaubten mir, im Wagen auf sie zu warten. Sie schienen nicht zu bedauern, daß sie mich endlich los waren. Archie gab mir die Wagenschlüssel, und ich verließ die Imbißstube und ließ mich frustriert und kochend vor Wut auf den Rücksitz fallen. Die beiden ließen sich Zeit. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie Arm in Arm auf den Parkplatz kamen und wie die kleinen Kinder kicherten.

»Wie geht es unserer Prinzessin vom Lande?« erkundigte sich Archie bei mir, als er den Motor anließ.

»Blendend«, sagte ich.

»Das ist gut so, denn wir dulden keine unglückliche Prinzessin vom Lande in unserem Triumphwagen, nicht wahr, Königin Haille?«

»Nein«, sagte sie. »Wer unglücklich ist, verstößt gegen das Gesetz, so ist es doch?«

»Genau. Ich, König Archie – ich meine natürlich König Richard – verkünde hiermit, daß vom heutigen Tage an Tränen und Traurigkeit aus unser aller Leben verbannt werden. Jeder, der sich beklagt, wird nach dem neuen Gesetz, das wir hiermit erlassen, bestraft. Jeder, der zum zweiten Mal straffällig wird, muß den Laufburschen spielen.«

»Den Laufburschen?« fragte Mommy.

»Ja, du weißt schon, das ist der, dem man vom Aufstehen bis zum Schlafengehen Botengänge aufbrummen kann.«

Mommy brach in hysterisches Gelächter aus, und wir fuhren los. »Wo sind Sie geboren worden?« fragte ich Archie ein paar Minuten später.

»Ich? In Detroit.«

»Haben Sie denn gar keine Familie?«

»Daran erinnere ich mich nur äußerst ungern«, sagte er.

»Warum denn das?«

»Melody«, schalt Mommy, »du bereitest deiner guten Erziehung Schande. Du weißt doch, daß man seine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute steckt«, sagte sie.

»Ich stecke meine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Ich wollte mich nur nett unterhalten. Du hast dich doch bisher ständig darüber beklagt, ich sei zu ruhig, oder etwa nicht?«

»Doch, aber deshalb brauchst du Richard doch nicht gleich ins Kreuzverhör zu nehmen.«

»Ich habe mich nur gefragt, ob es sich nicht vielleicht umgekehrt verhält«, sagte ich achselzuckend.

»Wie meinst du das?« fragte Archie.

»Ich habe mich gefragt, ob die Dinge nicht vielleicht eher so liegen, daß Ihre Angehörigen sich nur äußerst ungern an Sie erinnern.«

»Melody!

Archie schüttelte den Kopf. »Sie ist ein echter Spaßvogel. Du wirst im Leben prima zurechtkommen, Melody.« Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie sein Lächeln verblaßte und er mich aus kalten Augen anstarrte.

»So etwas bin ich gar nicht von ihr gewöhnt«, erklärte Mommy. »Sicher liegt es nur an der Aufregung.«

Archie sagte nichts. Er schaltete das Radio ein. Die Dunkelheit wurde immer dichter, und wir fuhren in einen Schauer hinein, der sich zu einem heftigen Regenguß ausweitete. Die Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe konnten nicht mithalten, und anscheinend waren die Wischblätter ohnehin abgenutzt. Sie verschmierten die Scheibe zunehmend.

»Es sieht ganz so aus, als könnten wir nicht so viele Kilometer zurücklegen, wie ich es mir erhofft hatte«, bemerkte Archie. »Es wäre wohl besser, wir würden uns ein Motel suchen und über Nacht dort bleiben.«

»Ganz wie du meinst, Richard«, sagte Mommy. »Schließlich bist du derjenige mit der großen Reiseerfahrung. Wir haben uns in deine fähigen Hände begeben.« Am liebsten hätte ich mich übergeben. Zornig starrte ich durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit, die ab und zu von den Scheinwerfern entgegenkommender Wagen zerrissen wurde. Wenn das Scheinwerferlicht auf die Scheibe fiel, wirkten die Regentropfen wie Eissplitter, und mir lief ein Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Etwa zehn Minuten später bog Archie von der Straße ab und hielt auf dem Parkplatz eines Motels an. Es regnete in Strömen, deshalb konnten wir das Neonschild des Motels kaum sehen. Archie zog sich die Jacke über den Kopf und rannte durch den Regenguß zur Tür.

In dem Augenblick, als er aus dem Wagen stieg, fiel Mommy über mich her. »Melody, ich will, daß du Richard respektvoll behandelst. Schließlich ist er ein Erwachsener.«

»Was habe ich denn getan?«

»Du hast mit ihm geredet wie mit einem deiner Schulfreunde, und ich will nicht, daß du Unmengen von persönlichen Fragen stellst. Das ist unhöflich. Wenn er uns etwas über sich erzählen möchte, dann wird er das von sich aus tun. Hast du verstanden?«

»Das interessiert mich alles überhaupt nicht.«

»Dann fang eben an, dich dafür zu interessieren. Wir werden eine lange Zeit gemeinsam verbringen. Wir müssen uns gut miteinander verstehen. Wir sollten dankbar dafür sein, daß Richard uns in seinem Wagen mitgenommen hat.« Sie beugte sich zu mir vor und sah mich flehend an.

»Oh, Schätzchen, streng dich doch ein bißchen an, fröhlich zu sein. Schon bald wirst du wunderbare neue Dinge zu sehen bekommen. Denk immer daran«, versuchte sie mich aufzuheitern. »Du solltest froh darüber sein, daß sich dir eine solche Gelegenheit bietet. Ich hatte nie so eine Chance. Ich war gezwungen, bei Leuten zu leben, die ich nicht mochte, und ich mußte furchtbare Dinge über mich ergehen lassen.«

»Was zum Beispiel?« fragte ich, da meine Neugier jetzt angestachelt war.

»Eines Tages werde ich dir all das erzählen«, erwiderte sie, und ihr Blick schweifte in die Ferne, völlig in ihre Erinnerungen versunken.

»Wann wirst du mir all das erzählen?«

»Wenn du alt genug bist, um es zu verstehen.«

»Ich bin alt genug, Mommy. Ich bin fünfzehn. Du solltest mich ab und an mal etwas genauer ansehen. Ich bin kein Kind mehr.«

»Ich sehe dich ständig an. Du bist noch nicht erwachsen, und du bist in einem sehr schwierigen Stadium. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es war, als ich in deinem Alter war. Verlaß dich auf mich.« Sie streckte einen Arm über die Rückenlehne ihres Sitzes und legte ihre Hand auf meine. »Ich habe nur dein Bestes im Sinn. Das glaubst du mir doch, oder etwa nicht, Melody?«

»Doch, Mommy«, sagte ich, denn ich wünschte mir so sehr, ich könnte ihr glauben.

Die Tür wurde aufgerissen, und Archie sprang in den Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht.

»Mann, was für ein Unwetter! Aber wir haben Glück gehabt. Das Motel war schon so gut wie voll. Sie hatten noch genau ein freies Zimmer.«

»Prima«, sagte Mommy.

Ein einziges Zimmer? dachte ich. Wir alle gemeinsam in einem kleinen Zimmer? Archie fuhr den Wagen vor Bungalow C und parkte ihn dort.

»Wir werden uns beeilen müssen. Als erstes schließe ich die Tür auf, und dann entscheidet ihr beiden, was ihr über Nacht braucht, und den Rest lassen wir im Wagen, einverstanden?«

»Na klar«, sagte Mommy.

Er sprang wieder in den Regen hinaus.

Mommy drehte sich zu mir um. »Was brauchst du für die Nacht, Melody?«

»Mommy, wie können wir alle im selben Zimmer schlafen?« fragte ich bekümmert.

»Sei nicht so albern. Bestimmt gibt es zwei Betten.«

»Aber…«

»Du kannst jetzt gleich damit anfangen, dich wie die Erwachsene zu benehmen, für die du gehalten werden willst. Nimm dich zusammen. Was brauchst du?«

»Den kleineren Koffer«, erwiderte ich verdrossen.

»Gut. Warum läufst du nicht schon voraus? Richard und ich werden alles reinbringen, was wir brauchen. Lauf los, Schätzchen.«

Ich öffnete die Tür. Draußen tobte der Sturm mit Orkanstärke. Mit den Händen über dem Kopf rannte ich auf Zimmer C zu. Die Tür stand weit offen, und ich sprang mit einem Satz hinein.

Dann sah ich mich in dem Zimmer um. Es hatte matte braune Wände, die über den Fußleisten fleckig waren. Zwischen den beiden Doppelbetten stand ein dunkelbrauner Nachttisch mit einem altmodischen Telefon. Hinter mir war eine Kommode an der Wand und eine Stehlampe mit einem ausgeblichenen gelben Lampenschirm. Der Kleiderschrank, dessen Tür offenstand und in dem ein paar Kleiderbügel baumelten, befand sich neben der Tür zum Bad.

Ich ging ins Bad und versuchte, die Tür zu schließen, doch sie hatte sich so sehr verzogen, daß es mir nicht gelang. Vor der Badewanne hing kein Duschvorhang, und mitten durch die Badewanne zog sich über den gesamten Wannenboden eine lange Rostspur. Über dem Waschbecken hing ein kleiner Badschrank mit zerbrochenem Spiegel, und der Hahn tropfte.

Mommy und Archie kamen lachend aus dem Regen hereingerannt. Würden sie etwa fortan alles komisch finden, sogar dieses entsetzliche Motelzimmer?

»Die Badtür läßt sich nicht schließen«, bemerkte ich. Sie hörten beide auf zu lachen und sahen mich an.

Archie hob den rechten Zeigefinger.

»Somit hätten wir schon die erste.«

»Die erste was?«

»Die erste Klage. Noch eine zweite, und du bist für den Rest der Reise der Laufbursche.«

»Das ist wirklich sehr komisch«, sagte ich und stemmte die Hände in die Hüften. »Aber was ist mit dieser Tür?«

Sein Lachen erstarb wie ein Rasenmäher nach dem Ausschalten, als er auf die Tür zuging, um sie sich genauer anzusehen. »Wenn du sie zumachst«, sagte er kurz darauf, »brauchst du nur die Klinke nach oben zu ziehen.«

»Danke.«

Ich nahm den Türgriff, ging wieder ins Bad und schloß die Tür gemäß seinen Anweisungen. Sie schloß immer noch nicht dicht ab, aber das würde genügen müssen. Ich hörte, wie die beiden wieder kicherten.

Als ich aus dem Bad kam, sah ich, daß Archie eine Flasche Gin hatte, aus der er gerade zwei Gläser einschenkte. »Davon wird einem schnell wieder warm«, sagte er.

Sie stießen miteinander an und tranken.

»Mir ist gerade aufgefallen, daß wir kein Fernsehen hier haben«, sagte Mommy. »Hast du dir etwas zum Lesen mitgebracht, Melody?«

»Nein. Wir sind völlig überstürzt aufgebrochen, hast du das etwa schon vergessen? Und meine Bücher hätte ich ohnehin zurücklassen müssen, weil in den Koffern nicht genug Platz war«, klagte ich. Archie sprang auf.

»Das war die zweite. Die zweite Klage! Hiermit bist du das Mädchen für alles.«

Mommy lachte. Sie stießen wieder miteinander an.

»Dieses Zeug kann man unverdünnt wirklich nicht trinken, meinst du nicht auch, Haille?«

»Es wäre schon besser«, sagte sie.

Archie fischte zwei Dollar aus seiner Hosentasche.

»Warum läufst du nicht schnell rüber zum Empfang und besorgst uns eine Dose Tonicwater oder Ginger-ale?« Archie hielt mir das Geld hin. »Sieh zu, daß du unter dem Vordach bleibst, dann wirst du nicht naß.«

Ich sah Mommy an. Sie saß auf dem Bett und strahlte über das ganze Gesicht. »Sei kein Spielverderber, Schätzchen.«

Ich nahm Archie die Scheine aus der Hand, schnappte auf dem Weg zur Tür schnell noch meinen Mantel und versuchte mir einzureden, ohnehin einen Moment lang meine Ruhe vor den beiden haben zu müssen. Ihr Gelächter folgte mir, als ich die Tür hinter mir zuschlug.

Erst als ich mich draußen umsah, wurde mir die Trostlosigkeit dieses Motels so richtig bewußt. Ich sah ein Schlagloch neben dem anderen, und mehrere Buchstaben der Neonreklame waren ausgebrannt. Ich zog meinen Mantel fest um mich und lief unter dem Dachvorsprung an den anderen Bungalows vorbei, wobei ich feststellte, daß es anscheinend noch andere freie Zimmer gab.

Der Empfangsraum war klein. Er war mit einem schmalen Zweiersofa eingerichtet, dessen Bezug aus rotem Kunstleder Risse und Sprünge aufwies, mit einem abgenutzten Polstersessel, einem Beistelltisch und dem Schalter, hinter dem ein kleiner, kahlköpfiger Mann saß. Er hatte lange, buschige Augenbrauen und dicke Lippen, die so bleich waren wie Würmer, die schon seit Tagen tot sind.

Als er mich anlächelte, sah ich, daß ihm jede Menge Zähne fehlten.

»Womit kann ich dir behilflich sein?« fragte er.

»Ich hätte gern eine Dose Tonicwater.«

»Der Getränkeautomat ist kaputt, aber ich habe ein paar Dosen im Kühlschrank«, sagte er und deutete auf einen Raum hinter seinem Schalter.

»Nur Tonicwater, sonst nichts?«

»Ja, bitte.«

»Einen Moment.«

Er brachte mir die Dose, und ich bezahlte ihm einen Dollar.

Dann fiel mir das Münztelefon an der Wand hinter dem schmalen Sofa auf.

»Könnte ich bitte Kleingeld zum Telefonieren haben?«

»Ja, klar.«

Er gab mir Kleingeld, und ich ging zum Telefon. Er setzte sich wieder hin und nahm seine Zeitschrift in die Hand, trotzdem beobachtete er mich unablässig.

Ich wählte Alices Telefonnummer, warf die erforderlichen Münzen ein und wartete darauf, daß sie abnahm. Beim zweiten Läuten ging sie dran.

»Alice, hier ist Melody.«

»Wo steckst du? Ich habe nach der Schule ein paar Mal versucht, dich anzurufen.«

»O Alice, ich weiß nicht, wo ich bin. Irgendwo in der Nähe von Richmond, Virginia.«

»Richmond, Virginia?«

Ich sah den Mann hinter dem Schalter an. Er tat inzwischen noch nicht einmal mehr so, als gelte sein Interesse etwas anderem als mir.

Ich drehte mich um und kehrte ihm den Rücken zu. Dann sprach ich so leise wie möglich. »Wir sind fortgegangen, Alice. Mommy hatte alles schon geplant. Als ich nach Hause kam, war sie am Packen. Wir sind mit Archie Marlin unterwegs«, stöhnte ich.

»Was? Wohin wollt ihr überhaupt?«

»Nach Provincetown, Cape Cod, zumindest für den Anfang. Wohin wir dann gehen, weiß ich nicht. Mommy möchte sich nach einen Ort umsehen, an dem sie ein neues Leben beginnen kann.«

»Ihr seid endgültig von hier fortgegangen?« fragte Alice ungläubig.

»Ja.« Meine Augen waren voller Tränen. »Könntest du dich in meinem Namen von allen verabschieden, und besonders von Mr. Kile?« Das war mein Lieblingslehrer.

»Aber woher soll ich wissen, wo ich dich erreichen kann?«

»Ich schreibe dir, sowie wir uns entschieden haben, wo wir bleiben werden. Ach, ja, und noch etwas, ehe ich es vergesse. Ich habe meine Schulbücher und die Bücher aus der Leihbücherei im Wohnwagen auf den Küchentisch gelegt. Mama Arlene weiß Bescheid. Wärst du so nett, bei Gelegenheit dort vorbeizuschauen, die Bücher zu holen und sie zurückzubringen?«

»Ja, klar. Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir zumute ist. Du weißt ja, wie sehr ich Archie Marlin hasse«, sagte ich. Die Dame von der Telefonzentrale unterbrach uns, um zu sagen, ich müsse weitere Münzen einwerfen, doch ich hatte nur noch fünf Cent. »Auf Wiedersehen, Alice. Ich danke dir dafür, daß du meine beste Freundin bist.«

»Melody!« schrie sie, als entschwebte ich wie ein Gespenst.

Die Verbindung riß ab. Ich stand mit dem stummen Hörer in der Hand da und fürchtete mich davor, mich umzudrehen und den Motelangestellten meine Tränen sehen zu lassen. Dann holte ich tief Atem, wischte mir mit dem Handrücken das Gesicht ab und hing den Hörer auf.

»Draußen regnet es ganz gewaltig«, bemerkte der Motelangestellte.

»Ja.«

»Kommt ihr von weither?«

»Aus Sewell.«

»Das ist ja gar nicht mal so weit.«

Ich wollte mich auf den Rückweg machen.

»Du hast dein Tonic vergessen«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf die Dose, die ich neben dem Telefon hatte stehen lassen.

»Oh, vielen Dank.« Ich ging noch einmal zurück, um sie zu holen, und dann blieb ich auf dem Weg zur Tür doch noch einmal stehen. »Sind Sie heute nacht komplett ausgebucht?«

»Ausgebucht?« Er lachte leise, und seine Schultern bebten. »Das kann man wohl kaum behaupten.«

»Das dachte ich mir doch gleich«, murmelte ich vor mich hin und ging.

Als ich in unser Zimmer zurückkehrte, tanzten Mommy und Archie zu der Musik, die aus dem Radio drang. Mommy schien im ersten Moment verlegen zu sein, doch dann lächelte sie. »Richard kann sogar in den trostlosesten Situationen seine gute Laune bewahren.«

»Hier ist Ihr Tonic.« Ich hielt ihm die Dose hin.

»Danke, Prinzessin«, sagte Archie. »Hast du Wechselgeld bekommen?«

Ich reichte ihm die fünf Cent.

»Ich mußte Alice anrufen, um ihr zu sagen, daß sie meine Bücher aus dem Wohnwagen holt«, sagte ich. »Wir schulden Ihnen fünfundneunzig Cent.«

»Plus Zinsen«, sagte er und zwinkerte Mommy zu. Dann öffnete er die Dose und goß Mommy und sich etwas ein.

»Es sind noch andere Zimmer frei«, sagte ich.

Archie sah mich höchst erstaunt an. »Im Ernst? Da hat mir der Kahlkopf am Empfang aber etwas ganz anderes erzählt. Was soll man denn davon halten? Ich wette, er wollte uns nur ein teureres Zimmer aufdrängen.«

»Wäre es nicht besser für ihn, wenn er zwei Zimmer vermieten kann?« schnaubte ich entrüstet.

»Nee. Dieses Zimmer hier kostet mehr als zwei Zimmer«, behauptete er.

»Was macht das denn jetzt noch für einen Unterschied?« sagte Mommy.

»Ich bin müde.«

»Dann leg dich schlafen. Wir drehen auch das Licht für dich herunter«, sagte sie und tat es. Dann stellte sie das Radio leiser.

Als ich sah, daß mir nichts anderes übrig blieb, kehrte ich ihnen den Rücken zu, knöpfte meine Bluse auf und zog sie aus. Dann trat ich mir die Schuhe von den Füßen, stieg aus meinem Rock und schlüpfte schnell unter die Decke. Sie roch, als sei sie in einer Kiste voller Mottenkugeln eingelagert gewesen.

Ich kehrte den beiden den Rücken zu, aber ich wußte, daß sie weiterhin tanzten, ihren Gin tranken und miteinander flüsterten. Ich betete darum, daß ich schon bald einschlafen würde, und wundersamerweise kam es auch so – vielleicht lag es daran, daß ich restlos erschöpft war.

Stunden später riß ich abrupt die Augen auf. Ich hörte ein leises Stöhnen und ein gedämpftes Kichern und kurz darauf die Geräusche der quietschenden Sprungfedern. Sie glaubten, ich schliefe, deshalb drehte ich mich nicht um. Ähnliche Geräusche hatte ich schon früher durch die dünnen Wände unseres Wohnwagens gehört. Schon damals wußte ich, was das zu bedeuten hatte, und auch jetzt wußte ich es.

Wie konnte Mommy es bloß zulassen, daß schon so kurz nach Daddys Tod ein anderer Mann sie anfaßte und derart intim mit ihr war? fragte ich mich. Sah sie denn etwa nicht mehr Daddy vor ihren Augen? Hörte sie etwa nicht mehr seine Stimme und erinnerte sich daran, wie seine Lippen sich auf ihren angefühlt hatten? Und dann kam noch dazu, daß Archie Marlin sich so sehr von Daddy unterschied. Er war ein Schwächling. Konnte Mommy denn nicht warten, bis ihr jemand begegnete, in den sie sich wirklich verlieben konnte?

Sie war wohl einfach nur verwirrt und frustriert und fürchtete sich davor, allein zu sein, sagte ich mir. Vielleicht würde sich all das ändern, wenn wir erst einmal einen Ort gefunden hatten, an dem wir leben wollten, denn dann würde sie gewiß zufriedener mit sich selbst und ihrem Leben sein. Sie wollte bestimmt nicht den Rest ihres Lebens mit einem Mann wie Archie Marlin verbringen.

Ich kniff die Lider fest zusammen, preßte mein Ohr auf das Kissen und bemühte mich, an etwas anderes zu denken, doch das schwere Atmen der beiden wurde immer lauter. Mommy stöhnte, und dann verstummten sie. Wenige Momente später schlüpfte Mommy zu mir ins Bett.

Zumindest für den Augenblick mußten wir alle so tun, als hätte ich nichts gehört und wüßte von gar nichts. Am Morgen würde sie hier bei mir im Bett liegen, und Archie Marlin würde in seinem Bett schlafen.

Das war ein trauriger Beginn eines neuen Lebens… einander zu belügen und sich etwas vorzumachen.

Wir verließen das Motel am nächsten Morgen, sobald wir alle gewaschen und angekleidet waren. Bei Tageslicht machte das Motel einen noch schäbigeren Eindruck. Sogar Mommy konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. Archie tat das mit einem Lachen ab und sagte: »Wenn es stürmt, ist einem jeder Hafen recht. Ich habe schon unter viel schlimmeren Bedingungen geschlafen.«

»Das glaube ich sofort«, murmelte ich vor mich hin. Falls einer von beiden etwas gehört haben sollte, reagierten sie jedenfalls nicht darauf. Wir hielten an der 95er nördlich von Richmond an, um zu frühstücken, und fuhren dann weiter. Ich sah das Kapitol von der Schnellstraße aus in der Ferne aufragen, wir hielten nicht in Washington, D. C. an, um dort die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, wie Mommy es mir versprochen hatte. Ebensowenig sahen wir uns Baltimore oder irgendeine andere Stadt an, die auf dem Weg lag. Es war ganz deutlich zu erkennen, daß Mommy und Archie Marlin so schnell wie möglich nach Provincetown gelangen wollten. Ich fing an, mir Gedanken über die Familie zu machen, der ich dort begegnen würde.

Ich wußte natürlich nicht allzuviel über sie, aber Daddy hatte mir erzählt, daß er einen jüngeren Bruder hatte, der mit seiner Familie auf dem Cape lebte, und daß Daddys Familie lange mit Hummer gehandelt hatte. Daddys Vater hatte sich zur Ruhe gesetzt, und er und meine Großmutter wohnten in einem Haus, das für die beiden allein zu groß war. Das war alles. Als ich Mommy fragte, wie viele Kinder Daddys jüngerer Bruder hätte, antwortete Mommy, sie könne sich nur an die Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen, erinnern. Sie hatten ein weiteres Kind bekommen, nachdem sie und Daddy Provincetown verlassen hatten. Sie wußte nicht mehr, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, aber sie sagte, die Zwillinge müßten etwa in meinem Alter sein, vielleicht ein Jahr älter.

»Daddys Bruder hat schon vor Daddys Heirat mit dir geheiratet?« fragte ich.

»Ja, ich glaube schon. Es kann gut sein. So genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Bitte, Melody, überschütte mich nicht mit Fragen, die ich nicht beantworten kann. Du wirst all deine Antworten bekommen, wenn wir erst einmal in Provincetown sind.«

»Aber… ich meine, wieviel jünger als Daddy ist sein Bruder denn?«

»Etwa ein Jahr«, sagte sie. »Er ist ganz anders«, fügte sie dann hinzu.

»Wie meinst du das?«

»Du wirst es ja selbst sehen«, sagte sie und bestand darauf, es für den Augenblick dabei zu belassen.

Angesichts all dieser Familiengeheimnisse, die mich erwarteten, war ich tatsächlich ein wenig nervös. Mommy hatte Daddys Familie also offensichtlich über seinen Tod informiert.

Sollte sich der Groll seiner Eltern etwa gelegt haben? Wie kam es, daß wir nach all diesen Jahren endlich hinfuhren, um die Familie zu besuchen.

Als ich Mommy einfach nicht damit in Ruhe ließ, warum wir ausgerechnet jetzt endlich Daddys Familie aufsuchten, seufzte sie tief und sagte: »Weil ich ganz sicher bin, daß dein Vater es so gewollt hätte.«

Das leuchtete mir ein, deshalb nahm ich mir vor zu tun, was ich konnte, damit zwischen uns allen wieder Frieden herrschte.

»Wißt ihr was?« sagte Archie Marlin, als wir nach Massachusetts kamen. »Mir ist gerade aufgefallen, daß ich noch nie auf dem Cape gewesen bin.«

»Wie ist das nur möglich?« fragte ich trocken.

Mommy funkelte mich wütend an, doch Archie strahlte über das ganze Gesicht. »Ich habe eben mit dem Segeln und dem Angeln nichts im Sinne«, sagte er.

»Aber ich dachte, Sie seien mit einem Floß auf Wildbächen gefahren«, warf ich schnell ein.

»Das hat doch nichts mit Segeln oder Angeln zu tun. Es ist ganz einfach faszinierend«, erwiderte er.

»Cape Cod hat seinen ganz eigenen Reiz«, sagte Mommy, »aber die Leute können dort sehr hart sein. Das kommt von der Nähe des Meeres.«

»Dich hat das Meer nicht hart gemacht«, sagte Archie anzüglich.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Landschaft zu, die draußen vorüberzog. In dieser Nacht schliefen wir in einem wesentlich netteren Motel. Wir nahmen eine Suite, und ich hatte eine Schlafcouch ganz für mich allein. Ich konnte ungestört duschen und mein Haar waschen. Wir aßen im Motel zu Abend, und ich kehrte in die Suite zurück, während Mommy und Archie noch im Foyer saßen, Musik hörten und tranken. Stunden später kamen sie kichernd hereingewankt und flüsterten miteinander. Ich stellte mich schlafend, als sie sich ungelenk zum Schlafzimmer vortasteten und die Tür hinter sich schlossen.

Trotz der weitaus besseren Bedingungen bereitete mir das Einschlafen größere Schwierigkeiten. Da ich jetzt wußte, daß wir schon am nächsten Tag Provincetown erreichen und dort Daddys Familie treffen würden, war ich ein wenig angespannt. Wo würde ich wieder ein Zuhause finden? Ich kam mir vor wie ein Luftballon, der ziellos durch die Lüfte trieb und von launischen Winden in Form von Mommys und Archie Marlins Wünschen in diese und jene Richtung geschubst wurde. Es mochte ja sein, daß wir in Sewell nicht gerade viel aufgegeben hatten, doch jetzt hatte ich gar nichts mehr: nicht eine einzige Freundin war mir geblieben, nicht ein einziger vertrauter Anblick, niemand, mit dem ich richtig reden konnte. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich derart allein gefühlt. Ich konnte die Augenlider so fest zudrücken, daß sie schmerzten, doch ich konnte die Ängste nicht von mir fernhalten, die mich stundenlang wachhielten, bis ich irgendwann vor Erschöpfung einschlief, um dann von einem Alptraum in den nächsten zu fallen, bis das erste Licht des frühen Morgens durch die Vorhänge des Motelzimmers strömte.

Mommy und Archie schliefen sehr lange. Ich wusch und zog mich an. Während ich einen Reiseführer las, fragte ich mich, ob wir uns jetzt wenigstens endlich etwas ansehen würden. Nach einer Weile hatte ich es satt, in dem stickigen Zimmer eingesperrt zu sein, und unternahm einen kurzen Spaziergang in der näheren Umgebung des Motels. Als ich zurückkam, waren Mommy und Archie aufgewacht. Wir gingen frühstücken. Beide waren äußerst wortkarg und gedämpfter Stimmung.

»Schauen wir uns heute ein paar Sehenswürdigkeiten an, ehe wir nach Provincetown weiterfahren?«

Archie stöhnte.

»Auf dem Rückweg«, sagte Mommy eilig. »Wir wollen heute so früh wie möglich das Cape erreichen.«

»Ich dachte, wir wollten neue Orte ansehen«, murrte ich.

»O Melody, bitte. Verschone mich heute ausnahmsweise einmal mit deinen Klagen. Ich fürchte, ich habe gestern abend ein klein wenig zuviel getrunken«, sagte sie.

Ich sagte nichts dazu. Nach dem Frühstück luden wir stumm unsere Sachen wieder in den Wagen und stiegen ein, um weiterzufahren. Häufig bot sich mir ein schöner Ausblick auf den Ozean, vor allem, als wir den Cape Cod Canal überquerten. Es war ein wunderschöner, warmer Tag. Die Segelboote und die Schleppnetze sahen aus, als seien sie auf das blaue Wasser gemalt. Als ich die salzige Luft roch, beschlich mich das ganz seltsame Gefühl, tatsächlich heimzukehren. Vielleicht empfand ich das, was Daddy jetzt gefühlt hätte, wenn er noch am Leben gewesen wäre und diese Reise gemeinsam mit mir unternommen hätte. Ich würde mehr über ihn erfahren, indem ich mich genau hier umsah. Allmählich überwand ich meine Nervosität und meine Angst. Daddy würde mich überall begleiten.

Mommy schlief ein, als wir unsere Reise auf der Route 6 fortsetzten. Die Meilen glitten wie ein endloses Band an uns vorüber. Als die Straßenschilder darauf hinwiesen, daß wir Provincetown jetzt wirklich näherkamen, spürte ich, wie plötzlich Spannung und Aufregung in mir aufkamen. Wie konnte Mommy diese Fahrt bloß verschlafen? Immerhin kehrte auch sie nach langer Zeit nach Hause zurück. Schließlich kündigte Archie, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, an, wir kämen gleich nach Provincetown, auf der Spitze von Cape Cod. Mommy schlug die Augen auf und streckte sich.

Ich sah die ersten Sanddünen. »Hier sieht es aus wie in der Wüste.«

Dann kam das Denkmal der Pilgerväter in Sicht, und Mommy erklärte mir, was es damit auf sich hatte.

»Hier sind die Pilgerväter angeblich zuerst gelandet«, sagte Mommy. »Die alteingesessenen Familien machen einen gewaltigen Wirbel darum.«

»Die alteingesessenen Familien?« fragte ich.

»Die Leute, die ihre Familiengeschichte bis zur Mayflower zurückverfolgen können. Zum Beispiel die Familie deines Vaters«, fügte sie geringschätzig hinzu. »Sie halten sich für etwas Besseres als alle anderen.«

»Seid ihr deshalb von hier fortgegangen, Daddy und du?«

»Unter anderem«, sagte Mommy und preßte die Lippen zusammen.

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Archie.

»Bieg nach links ab«, wies ihn Mommy an.

»Werden wir heute dort erwartet, Mommy?«

»Ja«, sagte sie. »Jacob sollte zuhause sein. Wie ich sehe, ist die Flut schon gestiegen.«

»Woran kannst du das erkennen?« fragte ich.

»Die Wellen brechen sich auf dem Strand, hoch oben, wo auf den Dünen Gras wächst. Siehst du es?«

Ich nickte.

»Die Fischerboote laufen mit der Flut aus und kehren mit der Flut zurück. Daran kann ich mich noch erinnern, aber viel mehr darfst du mich jetzt nicht fragen«, erklärte Mommy. Es war, als seien die Erinnerungen sehr schmerzlich für sie.

Archie befolgte ihre Anweisungen. Wir fuhren langsam durch die beidseits von kleinen Souvenirläden, Boutiquen und Restaurants gesäumten Gassen, wo überall frischer Hummer angepriesen wurde. Zwischen den Lücken befanden sich Tavernen, die Namen trugen wie »Der Freibeuter« und »Der Masttopp«. Die Häuser, die teilweise sehr alt wirkten, waren mit grauen Zederschindeln verkleidet. Vor sämtlichen Hotels und Pensionen schwankten die Schilder mit der Aufschrift »Zimmer frei« in der Brise.

Mommy erklärte, die Saison hätte noch nicht begonnen, deshalb seien noch nicht viele Touristen da. »Im Sommer treiben sich in diesen schmalen Gassen so viele Leute herum, daß sich die Masse wie eine Mauer voranbewegt.«

»Ja, genau wie im Zentrum von Las Vegas«, mischte sich Archie ein.

»Hier mußt du abbiegen«, wies ihn Mommy an. Wir fuhren nach Osten, auf einer noch schmaleren Straße, die beidseits von den für diese Gegend so typischen Häusern mit ihren winzigen Vorgärten gesäumt war. Meistens handelte es sich um reine Rasenfläche, aber in manchen Gärten waren auch Blumen angepflanzt. Ich sah einen Garten mit einem lila Strauch, der so hoch wie der Dachfirst aufragte. Während wir im Schrittempo weiterfuhren, hörte ich Mommy murmeln: »Es kommt mir vor, als seien hundert Jahre vergangen, und doch hat sich nicht viel verändert.«

Plötzlich hörten die Häuser auf, und wir fuhren nur noch zwischen Dünen hindurch. Ich dachte, wir würden anhalten, doch Mommy sagte Archie, er solle einfach nur der Straße folgen, die jetzt nach Norden führte. Schließlich tauchte ein paar hundert Meter vor uns auf der rechten Straßenseite ein Haus auf. Ich konnte den Strand und das Meer in der Nähe sehen. Ein Schwarm von Seeschwalben kreiste über etwas, was auf dem Sand lag.

»Da wären wir«, sagte Mommy und wies mit einer Kopfbewegung auf das Haus. Ein hellbrauner offener Laster war auf dem Kies der Einfahrt geparkt, und davor stand eine dunkelblaue viertürige Limousine, deren hinteres rechtes Ende mit einem Wagenheber angehoben war. Ein großer, schlanker Mann mit Daddys Haarfarbe war über einen Reifen gebeugt. Er sah selbst dann nicht zu uns auf, als wir vor der Einfahrt anhielten.

»Das ist dein Onkel Jacob«, sagte Mommy leise.

Schließlich sah er herüber. Ich konnte gewisse Ähnlichkeiten in seinem Gesicht erkennen, vor allem im Schnitt des Kinns und der Wangenknochen, doch er war wesentlich schmaler gebaut und wirkte keinesfalls jünger als Daddy, sondern älter. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich tiefe Falten in seinen Augenwinkeln sehen. Sein Teint war wesentlich dunkler als Daddys Haut. Er starrte uns einen Moment lang an, und dann wandte er sich wieder seinem Reifen zu, als interessierte es ihn nicht im entferntesten, wer wir waren oder was wir hier zu suchen hatten.

»Soll ich hier abbiegen?« fragte Archie.

»Ja«, erwiderte Mommy mit einem tiefen Seufzer. »Tja, Melody, jetzt ist es wohl an der Zeit, daß du endlich deine Familie kennenlernst.«

Melody

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