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2.

Das Grab eines Bergarbeiters

An dem Tag, als wir Daddy begruben, schneite es, doch ich nahm weder die kalten Flocken wahr, die in mein Gesicht trieben, noch den Wind, der mein Haar auf dem Weg zur Kirche und zum Friedhof zerzauste, als wir hinter den Särgen hergingen.

Die Särge von Daddy und den beiden anderen Bergarbeitern standen nebeneinander vor der Kirche und ließen sich nicht voneinander unterscheiden, obwohl ich wußte, daß Daddy der größte der drei Männer und zudem auch noch der jüngste gewesen war. In der Kirche drängten sich Bergarbeiter und ihre Familien, Ladenbesitzer und Mommys Freundinnen und Kolleginnen aus Francines Salon und einige meiner Schulfreunde. Bobby Lockwood schien sich äußerst unbehaglich zu fühlen. Er wußte nicht, ob er mich anlächeln sollte oder ob er einfach nur traurig dreinblicken sollte. Er ruckelte auf seinem Sitz herum, als säße er auf einem Ameisenhügel. Ich schenkte ihm ein winziges Lächeln, und er schien mir dankbar dafür zu sein.

Um mich herum hörte ich, wie die Leute schluchzten und sich die Nase putzten. Ganz hinten in der Kirche weinte ein Säugling. Das kleine Mädchen schluchzte während des ganzen Gottesdienstes. Mir erschien das angemessen.

Papa George sagte, es hätten mehr Vertreter der Bergwerksgesellschaft erscheinen sollen, außerdem hätte man das Bergwerk zu Ehren der Toten für ein paar Tage schließen müssen. Er und Mama Arlene gingen neben Mommy und mir her, als wir den Särgen zum Friedhof folgten. Bis auf das knirschende Geräusch, das die Schritte der Trauernden auf dem Schnee verursachten, und das ferne Wimmern eines Zuges, der die Kohle abtransportierte, herrschte eine bedrückende Stille. Der Schwall an Klagen, den Papa George vorbrachte, war mir wahrhaftig willkommen.

Er sagte, wenn es nicht zu einem Ölembargo gekommen wäre, das nur dazu diente, Druck auf die Bergarbeiter auszuüben, dann wäre mein Daddy nicht ums Leben gekommen.

»Die Bergwerksgesellschaft hat die Dollarzeichen zu deutlich vor Augen gesehen«, sagte er vorwurfsvoll, »und deshalb haben sie die Bergarbeiter zu weit getrieben. Aber das ist nicht das erste Mal, und ich bin sicher, daß es auch nicht das letzte Mal sein wird.« Wir schritten durch den Granitbogen, der den Friedhofseingang bildete. Engel waren in den Stein gemeißelt.

Mommy hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und hielt die Augen niedergeschlagen. In regelmäßigen Abständen stieß sie tiefe Seufzer aus und wiederholte: »Ich wünschte, es wäre schon vorüber. Was soll ich zu all diesen Leuten sagen?«

Mama Arlene hing sich bei Mommy ein, tätschelte behutsam ihre Hand und murmelte ihr zu: »Aber, aber, du mußt jetzt stark sein, Haille. Sei stark.«

Papa George blieb an meiner Seite, als wir die Grabstätte erreicht hatten. Tränen traten in seine gesprenkelten braunen Augen, ehe er den Kopf senkte, auf dem zwar inzwischen schneeweißes, aber immer noch dichtes Haar wuchs. Die beiden anderen Bergarbeiter, die mit Daddy zusammengewesen waren, als der Stollen eingestürzt war, wurden am nördlichen Ende desselben Friedhofs in Sewell begraben. Wir konnten hören, wie die Trauergäste Kirchenlieder sangen, denn ihre Stimmen wurden von demselben kalten Februarwind davongetragen, der die Hügel von Virginia und die Bretterbaracken unter dem grauen Himmel mit Schneeflocken überzog.

Wir hoben die Köpfe, als der Geistliche sein Gebet beendet hatte. Er eilte davon, um ein weiteres Gebet am Grab der beiden anderen Bergarbeiter zu sprechen. Mama trug Schwarz und war ungeschminkt, und trotzdem sah sie hübsch aus. Die Traurigkeit hatte schlicht und einfach eine andere Kerze in ihren Augen entzündet. Ihr üppiges kastanienbraunes Haar war zurückgesteckt. Das schlichte schwarze Kleid hatte sie eigens für das Begräbnis gekauft, und darüber trug sie ein Cape mit Kapuze. Der Saum des Kleides reichte nur wenige Zentimeter über ihre Knie, doch ihr schien nicht kalt zu sein, obwohl der Wind den Rock um ihre Beine peitschte. Ihre Benommenheit saß wesentlich tiefer als meine. Ich hielt ihre Hand viel fester umfaßt als sie die meine.

Ich stellte mir vor, wenn Mama Arlene und ich Mommys Arme losgelassen hätten, hätte der Wind sie einfach mit sich getragen, wie einen Drachen, dessen Schnur gerissen war. Ich wußte, wie sehr sich Mommy wünschte, überall auf der Welt zu sein, bloß nicht hier. Traurigkeit war ihr verhaßt. Wenn etwas geschah, was sie unglücklich machte, goß sie sich sonst immer ein Glas Gin-Tonic ein und spielte ihre Musik noch lauter, als könnte sie die Melancholie damit übertönen.

Ich warf einen letzten Blick auf Daddys Sarg, und es fiel mir immer noch schwer zu glauben, daß er tatsächlich darin lag. Schon bald, jeden Moment sogar, würde der Deckel aufspringen, und Daddy würde sich lachend aufrichten und uns erzählen, er hätte sich nur einen kleinen Scherz mit uns erlaubt. Fast hätte ich laut gelacht, als ich mich dieser Hoffnung hingab. Doch der Sarg blieb geschlossen, und die Schneeflocken tanzten über seine schimmernde Oberfläche. Einige blieben auch daran haften und schmolzen zu Tränen. Die Trauergäste defilierten an uns vorbei, und manche umarmten Mommy und mich. Andere gaben uns nur die Hand und schüttelten den Kopf. Alle sagten dasselbe: »Es tut uns leid für euch.« Mommy stand die meiste Zeit über mit gesenktem Kopf da, deshalb mußte ich die Beileidsbekundungen entgegennehmen und mich bei den Leuten bedanken. Als Bobby mir die Hand drückte, umarmte ich ihn schnell. Diese Geste schien ihn verlegen zu machen, denn er murmelte etwas vor sich hin und eilte mit seinen Freunden davon. Ich konnte es ihm nicht vorwerfen, trotzdem fühlte ich mich wie eine Aussätzige. Mir fiel auf, daß sich die meisten Leute unbeholfen und distanziert benahmen, ganz so, als sei eine Tragödie etwas Ansteckendes, also mied man lieber den Kontakt mit den Betroffenen, um so dieser Krankheit möglichst zu entgehen.

Auf dem Rückweg vom Friedhof schneite es noch heftiger, und da das Begräbnis vorüber war, spürte ich plötzlich, wie sich die Kälte bis in meine Knochen schnitt.

Die Freunde und Angehörigen der beiden anderen Bergleute versammelten sich alle zu einem gemeinsamen Essen. Mama Arlene hatte einen Rostbraten zubereitet, weil sie davon ausgegangen war, daß wir bei ihr essen würden, aber Mommy wollte nichts davon wissen.

»Ich ertrage es keinen Moment länger, traurige Gesichter um mich herum zu sehen«, jammerte sie und schüttelte den Kopf.

»In solchen Momenten braucht man Menschen um sich«, erklärte Mama Arlene.

Daraufhin schüttelte Mommy nur wieder den Kopf und beschleunigte ihre Schritte. Plötzlich war Archie Marlin neben ihr. Er trug Lackschuhe aus Kunstleder und einen grauschillernden Anzug. Sein leuchtend rotes Haar war in der Mitte gescheitelt.

»Ich fahre dich gern nach Hause, Haille«, erbot er sich.

Mommys Augen begannen zu leuchten, und ihr Gesicht bekam wieder etwas Farbe. Nichts konnte sie so schnell aufheitern wie die Aufmerksamkeit eines Mannes. »Danke, Archie. Das ist wirklich sehr nett von dir.«

»Nicht der Rede wert. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun«, bemerkte er und lächelte mich strahlend an.

Ich sah, daß die runden Augen von Alice, die hinter uns herlief, noch größer wurden.

»Komm schon, Schätzchen.« Mommy wollte mich an der Hand nehmen, doch ich wich zurück.

»Ich gehe mit Alice zu Fuß nach Hause«, sagte ich zu ihr.

»Das ist doch albern, Melody. Es ist kalt.«

»Mir ist nicht kalt«, sagte ich, mühsam das Klappern meiner Zähne unterdrückend.

»Tu, was du willst«, sagte Mommy und stieg in Archies Wagen, an dessen Rückspiegel zwei große Stoffwürfel hingen. Die Sitze hatten flauschige weiße Schonbezüge aus Kunstfaser, die stark haarten. Die krausen Fäden würden gewiß an Mommys schwarzem Kleid haften bleiben, doch das schien sie nicht zu stören. Ehe wir uns auf den Weg zur Kirche gemacht hatten, hatte sie zu mir gesagt, sie würde das Kleid sowieso in die Mülltonne werfen, sobald das alles hier vorbei war. »Ich habe nicht die Absicht, wochenlang zu trauern und schwarz zu tragen«, verkündete sie. »Traurigkeit macht alt und bringt die Toten nicht zurück. Und außerdem kann ich in diesem schwarzen Ding schließlich nicht zur Arbeit gehen.«

»Wann wirst du denn wieder arbeiten gehen, Mommy?« fragte ich erstaunt. Ich glaubte, die Welt würde aufhören, sich zu drehen, nachdem Daddy gestorben war. Wie konnte unser Leben weitergehen?

»Morgen«, sagte sie. »Mir bleibt doch gar nichts anderes übrig. Schließlich haben wir jetzt niemanden mehr, der für uns sorgt, stimmt’s? Was nicht etwa heißen soll, daß er uns eine große Stütze gewesen wäre«, murrte sie.

»Soll ich etwa gleich wieder zur Schule gehen?« fragte ich, und meine Frage entsprang viel mehr meiner Wut als dem Verlangen, die Schule wieder zu besuchen.

»Ja, selbstverständlich. Was willst du denn sonst den ganzen Tag über hier anfangen? Es macht einen nur verrückt, ständig diese vier Wände anzustarren.«

Damit hatte sie nicht ganz unrecht, trotzdem erschien es mir irgendwie nicht richtig, unser Leben einfach so weiterzuführen, als wäre Daddy noch da. Nie wieder würde ich sein Lachen hören oder ihn lächeln sehen. Wie hätte der Himmel jemals wieder blau sein können? Und wie hätte jemals wieder etwas einen süßen Geschmack haben oder schön sein können? Es würde mich nie wieder interessieren, ob ich in einer Arbeit eine Eins schrieb und wie ich mein neuerrungenes Wissen an den Mann bringen konnte. Daddy war ohnehin der einzige gewesen, der sich dafür interessierte, der einzige, der stolz auf mich war. Mommy machte auf mich den Eindruck, als hielte sie Bildung für unwichtig. Sie war der festen Überzeugung, wenn ein Mädchen erst einmal alt genug war, um sich einen Mann zu angeln, dann zählte sowieso nichts anderes mehr.

Als ich mit Alice vom Friedhof nach Hause ging, hatte ich das Gefühl, mein Herz sei zu einem dieser großen Kohlebrocken geworden, die Daddy früher tief unter der Erdoberfläche aus den Wänden der Stollen gehackt hatte: Die Kohle war es, die ihm den Tod gebracht hatte. Alice und ich sprachen unterwegs kaum ein Wort miteinander. Wir mußten die Köpfe gesenkt halten, weil die Schneeflocken, die von dem grauen Himmel fielen, in unsere Augen wehten.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Alice. Ich nickte. »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn wir auch in Archie Marlins Wagen mitgefahren wären«, fügte sie kläglich hinzu. Der Wind heulte durchdringend.

»Lieber würde ich durch einen Sturm laufen, der zehnmal schlimmer ist als dieser hier, ehe ich in seinen Wagen steige«, gab ich hitzig zurück.

Als wir Mineral Acres erreichten, sahen wir Archie Marlins Wagen, der vor unserem Wohnwagen geparkt war. Und als wir näherkamen, hörten wir meine Mutter lachen.

Alice schien peinlich berührt zu sein. »Vielleicht sollte ich besser doch nach Hause gehen.«

»Ich wünschte, du könntest noch bleiben«, sagte ich. »Wir gehen in mein Zimmer und machen die Tür hinter uns zu.«

»In Ordnung.«

Als ich die Tür öffnete, fanden wir Mommy und Archie in der Eßecke vor. Auf dem Tisch standen zwei Gläser, eine Flasche Gin und ein Behälter mit Eiswürfeln.

»Bist du immer noch froh darüber, daß du zu Fuß nach Hause gelaufen bist und dir die Füße abgefroren hast?« fragte Mommy. Sie hatte das schwarze Kleid bereits ausgezogen und trug einen Morgenmantel aus blauer Seide. Das Haar fiel ihr gelöst auf die Schultern. Sie hatte Lippenstift aufgetragen.

»Ich habe diesen Spaziergang gebraucht«, sagte ich. Archie sah Alice und mich mit einem breiten Grinsen an.

»Auf dem Herd steht Wasser, falls ihr euch Tee oder eine heiße Schokolade machen wollt«, sagte Mommy.

»Nein, danke, ich möchte im Moment gar nichts.«

»Vielleicht möchte Alice etwas trinken.«

»Nein, danke, Mrs. Logan.«

»Du kannst deiner Mutter ausrichten, daß in meinem Haushalt alles sauber ist«, fauchte Mommy. Alice sah sie ratlos an.

»Sie hat mit keinem Wort das Gegenteil behauptet, Mommy.«

»Nein, wirklich nicht, Mrs. Logan, ich…«

»Schon gut«, sagte Mommy mit einem nervösen kleinen Lachen. Archie lächelte und füllte die beiden Gläser nach.

»Wir gehen in mein Zimmer«, sagte ich.

»Vielleicht hättest du doch zum Leichenschmaus gehen sollen, Melody. Verstehst du, ich habe nichts zum Abendessen im Haus.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich. Ich ging durch den kurzen Flur zu meinem Zimmer, und Alice folgte mir. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, warf ich mich auf das Bett und vergrub mein Gesicht im Kissen, um nicht nur mein Schluchzen zu ersticken, sondern auch die Wut, die sich in meiner Brust angestaut hatte.

Alice setzte sich auf das Bett. Sie war so verblüfft und entsetzt, daß sie kein Wort herausbrachte. Kurze Zeit später hörten wir, wie Mommy das Radio einschaltete und einen Sender mit flotter Musik fand.

»Das tut sie nur, weil ihr das Weinen inzwischen unerträglich geworden ist«, erklärte ich. Alice nickte, doch ich sah ihr an, wie unbehaglich sie sich fühlte. »Sie sagt, ich soll gleich morgen wieder in die Schule gehen.«

»Wirklich? Wahrscheinlich ist es das Beste«, fügte sie hinzu und nickte.

»Du hast leicht reden. Dein Daddy ist nicht tot.« Ich bereute meine Worte augenblicklich. »Es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint.«

»Schon gut.«

»Mir ist klar, daß ich mich nicht ganz so elend fühlen werde, wenn ich so weiterlebe, als sei nichts passiert. Aber was soll ich bloß tun, wenn es an der Zeit ist, daß Daddy vom Bergwerk nach Hause kommt? Ich weiß, daß ich Tag für Tag draußen vor der Tür stehen, auf die Straße hinausschauen und darauf warten werde, daß er wie gewohnt über den Hügel kommt.«

Alices Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich sage mir immer wieder, wenn ich lange genug dort stehe, mich genügend darauf konzentriere und all meine Hoffnungen darauf setze, dann wird mir alles nur wie ein böser Traum erscheinen, und alles wird wie früher sein.«

»Nichts wird ihn jemals wieder zurückbringen, Melody«, sagte Alice betrübt. »Seine Seele ist jetzt im Himmel.«

»Warum hat Gott ihn in den Himmel geholt?« fragte ich erbost und trommelte mit den Fäusten auf meine Oberschenkel. »Weshalb bin ich überhaupt geboren worden, wenn ich dann, wenn ich ihn am allermeisten brauche, keinen Daddy haben kann? Ich werde nie mehr in die Kirche gehen!« gelobte ich.

»Es ist albern zu glauben, man könnte Gott etwas heimzahlen«, sagte Alice.

»Das ist mir egal!«

Ihr Gesichtsausdruck besagte deutlich, daß sie mir kein Wort glaubte.

Aber es war mir ernst damit, todernst sogar. Ich holte tief Atem, als die Vergeblichkeit meiner Ausbrüche und die Sinnlosigkeit meiner Wut wie eine Woge über mich hinwegspülten. »Ich weiß nicht, wie wir ohne ihn weiterleben sollen. Vielleicht muß ich jetzt von der Schule abgehen und mir Arbeit suchen.«

»Das kannst du nicht tun!«

»Möglicherweise muß es sein. Mommy verdient nicht viel Geld mit ihrer Arbeit im Kosmetiksalon.«

Alice dachte einen Moment lang darüber nach.

»Aber ihr habt noch die Rente für Bergarbeiter und die Sozialversicherung.«

»Mommy sagt, es wird nicht reichen.«

Wir hörten, wie Mommy und Archie Marlin gleichzeitig in lautes Gelächter ausbrachen.

Alice schnitt eine Grimasse. »Mein Vater begreift nicht, daß Archie Marlin nicht längst im Gefängnis sitzt. Daddy sagt, er verdünnt den Whiskey in der Bar mit Wasser.«

»Mommy versucht nur, gegen ihre Traurigkeit anzukämpfen«, sagte ich. »Im Moment wäre ihr jede Gesellschaft lieb. Es ist reiner Zufall, daß er es ist.«

Alice nickte, schien jedoch nicht recht überzeugt zu sein.

Ich nahm meine Fiedel in die Hand und zupfte die Saiten.

»Daddy hat mir immer so gern zugehört, wenn ich gespielt habe«, sagte ich und lächelte bei dieser Erinnerung.

»Du spielst besser als jeder andere, den ich kenne«, behauptete Alice.

»Ich werde aber nie mehr Fiedel spielen.« Ich warf die Fiedel auf das Bett.

»Natürlich wirst du weiterspielen. Dein Daddy würde doch gewiß nicht wollen, daß du es aufgibst, oder?«

Ich dachte darüber nach. Sie hatte zwar recht, aber ich war im Moment nicht dazu aufgelegt, irgend jemandem in irgendeinem Punkt zuzustimmen, ganz gleich, worum es ging. Wieder drang Archie Marlins sprudelndes Gelächter in unsere Ohren.

»Dieser Wohnwagen hat Wände aus Pappkarton«, sagte ich und preßte mir die Hände auf die Ohren.

»Du kannst gern mit zu mir kommen«, sagte Alice. »Bis auf meinen Bruder ist niemand zuhause.«

Alice wohnte in einem der schönen Häuser von Sewell. Normalerweise ging ich schrecklich gern zu ihr, aber im Moment erschien es mir als eine Sünde, etwas zu tun, was mir Spaß machte.

Plötzlich hörten wir, daß Mommy und Archie eines der Lieder im Radio mitsangen, und dann ertönte wieder das Lachen der beiden.

Ich stand auf und nahm meinen Mantel. »In Ordnung. Laß uns von hier verschwinden.«

Alice nickte. Sie folgte mir aus meinem Zimmer und durch den kurzen Korridor. Mommy räkelte sich jetzt auf dem Sofa, und Archie stand zu ihren Füßen und hielt seinen Drink in der Hand. Sie sagten kein Wort. Dann streckte Archie einen Arm nach dem Radio aus, um die Lautstärke herunterzudrehen.

»Ich gehe zu Alice.«

»Eine gute Idee, Schatz. Daddy wäre es gar nicht recht, daß du hier im Wohnwagen herumsitzt und Trübsal bläst.«

Am liebsten hätte ich gesagt, es wäre ihm auch nicht recht, daß du mit Archie Marlin lachst und singst und trinkst, doch ich verkniff mir diese Bemerkung und stapfte energisch über den dünnen Läufer zur Tür.

»Komm nicht zu spät nach Hause«, rief Mommy mir nach. Ich gab keine Antwort. Alice und ich setzten uns in Bewegung. Wir hörten, wie die Musik im Radio hinter uns wieder lauter gedreht wurde. Keine von uns beiden sagte auch nur ein Wort, ehe wir die Straßenbiegung hinter uns zurückgelassen hatten und in Richtung Hickory Hill liefen. Die Morgans wohnten ganz oben auf dem Hügel, und die Fenster ihres Wohnzimmers und ihres Eßzimmers boten einen Ausblick auf das Tal und die eigentliche Ortschaft.

Alices Mutter war sehr stolz auf ihr Haus, von dem sie mir mehr als nur einmal erzählt hatte, es handelte sich dabei um einen sanierten Kolonialbau, ein Haus mit historischer Architektur. Es hatte insgesamt zwölf Zimmer auf zwei Stockwerken und eine Veranda vor der Haustür. Sie hatten eine Garage angebaut. Das Wohnzimmer schien größer als unser ganzer Wohnwagen zu sein, Alices Zimmer war gewiß mindestens doppelt so groß wie meines, und das Zimmer ihre Bruders Tommy war sogar noch größer. Als ich ein einziges Mal einen Blick in das Schlafzimmer ihrer Eltern und das dazugehörige Bad geworfen hatte, hatte ich geglaubt, ich sei in einem Palast.

Tommy war in der Küche, als wir das Haus betraten. Er saß auf einem Hocker, schmierte Erdnußbutter auf eine Scheibe Brot und hatte den Telefonhörer zwischen einem Ohr und einer Schulter eingeklemmt. In dem Moment, als er mich sah, wurden seine Augen groß, und er zog die Augenbrauen hoch. »Ich rufe dich später wieder an, Tina«, sagte er und legte den Hörer auf. »Das mit deinem Vater tut mir leid. Er war wirklich ein netter Kerl.«

»Danke.«

Er sah Alice an und erwartete eine Erklärung dafür, was wir hier zu suchen hatten und weshalb sie mich nach Hause mitgenommen hatte. Alle gaben mir das Gefühl, eine ansteckende Krankheit zu haben. Niemand wollte mit einem so tiefen Kummer wie dem meinen in Berührung kommen.

»Wir gehen rauf in mein Zimmer«, sagte Alice zu ihm.

Er nickte. »Wollt ihr etwas essen? Ich dachte, ich gönne mir einen Happen zwischendurch.«

Ich hatte seit Tagen keine richtige Mahlzeit mehr zu mir genommen, und dieser Vorschlag ließ meinen Magen knurren.

»Vielleicht sollte ich tatsächlich eine Kleinigkeit essen.«

»Ich mache uns ein paar belegte Brote zurecht. Wir können sie in mein Zimmer mitnehmen«, sagte Alice.

»Mutter mag es nicht, wenn du in deinem Zimmer ißt, Alice«, rief ihr Tommy ins Gedächtnis zurück.

»Diesmal wird sie eine Ausnahme machen«, erwiderte Alice. Ihre finstere Miene und die Wut, die in ihren Augen funkelte, ließen ihren älteren Bruder zurückschrecken.

»Ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen«, sagte ich leise.

»Es wird schon keinen Ärger geben, wenn ihr nicht zuviel Dreck macht«, ließ sich Tommy erweichen. »Wie geht es deiner Mutter?«

»Es geht ihr gut«, sagte ich zögernd. Er nickte und warf einen Blick auf Alice, die ihn immer noch herausfordernd ansah, und dann biß er in sein Brot.

»Laß uns erst in mein Zimmer gehen«, schlug Alice vor und machte auf dem Absatz kehrt. Sie nahm mich an der Hand, und ich folgte ihr.

Wir liefen schnell die Stufen der geschwungenen Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.

»Es tut mir leid, daß mein Bruder ein solcher Trottel ist«, sagte sie. »Wir streiten uns ständig, weil er so herrisch ist. Wenn du willst, kannst du dich hinlegen«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf ihr breites Bett mit den flauschigen Kissen und der Steppdecke. Es war ein Himmelbett mit rosa Pfosten und einem gekräuselten rosa Betthimmel. Das Kopfende war herzförmig. Es war mein Traum, anstelle der einfachen Matratze auf einem Sprungfederrahmen, die in meinem Zimmer stand, ein solches Bett zu besitzen.

Ich zog meinen Mantel aus und setzte mich auf das Bett.

»Ich dachte, Bobby Lockwood würde zu euch nach Hause kommen«, sagte Alice.

»Ich wußte gleich, daß er nicht kommt. In der Kirche und auf dem Friedhof schien es ihm zu grausen.«

»Ich weiß, daß du ihn magst, aber ich halte ihn nicht für besonders reif«, bemerkte Alice.

»Niemand ist besonders reif, wenn es um solche Dinge geht. Ich kann es ihm nicht übelnehmen, daß er vor mir davonläuft.«

»Wenn er dich wirklich mögen würde, dann wäre er jetzt hier, um dir zu helfen.«

Ich wußte, daß Alice den Gedanken haßte, ich könnte einen Freund haben, denn dann hätte sie weniger von mir.

»Im Moment mache ich mir nicht besonders viel aus Jungen«, sagte ich.

Sie nickte erfreut.

»Ich laufe schnell nach unten und schmiere uns belegte Brote. Dann bringe ich sie nach oben, und Milch bringe ich auch mit. Einverstanden?«

»Ich will aber nicht, daß du meinetwegen Ärger kriegst.«

»Ich kriege schon keinen Ärger. Ruh dich einfach aus oder lies etwas. Wenn du willst, kannst du auch den Fernseher anstellen. Tu einfach das, worauf du Lust hast«, bot sie mir an.

»Danke.«

Nachdem sie gegangen war, lehnte ich mich zurück und schloß die Augen. Ich sollte jetzt bei Mommy sein, und sie hätte den Wunsch verspüren sollen, mit mir zusammenzusein und nicht mit Archie Marlin. Wenn er fortgeht und sie allein im Wohnwagen sitzt, wird es ihr leid tun, dachte ich, also beschloß ich, nicht allzu lange hierzubleiben. Immer wieder hörte ich Daddys Stimme. Er bemühte sich, mir ihr Handeln zu erklären, und er überredete mich, Verständnis für ihre Schwächen aufzubringen. Er hatte immer mehr Mitleid mit ihr als mit sich selbst gehabt. Ich war ganz sicher, daß es sich auch jetzt noch so verhielt, obwohl er und nicht etwa sie derjenige war, der in einem Sarg lag.

Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis meine Freunde aufhören würden, mich seltsam anzusehen. Es würde mir schwerfallen, wieder in die Schule zu gehen, dachte ich: all diese mitleidigen Blicke, die sich auf mich richten würden. Ich malte mir aus, daß sogar meine Lehrer mich bekümmert ansehen und in leisem und betrübtem Tonfall mit mir reden würden.

Vielleicht hatte Mommy recht. Vielleicht war es tatsächlich das Beste, so zu tun, als sei nichts vorgefallen. Dann würden sich andere weniger unwohl in unserer Gegenwart fühlen. Aber bedeutete das denn nicht, das Andenken an Daddy schimpflich zu mißachten? Irgendwie mußte ich einen Weg finden, meinen Kummer für mich zu behalten und mein Leben weiterzuführen, wenn es mir jetzt auch noch so leer erschien.

Wenn ich, wie Alice, einen Bruder hätte, würde ich mich nicht ständig mit ihm streiten, dachte ich. Im Moment wäre es sehr schön, einen Bruder zu haben. Er würde mir dabei helfen, mit Mommy umzugehen, und wir könnten einander trösten. Wenn er älter als ich wäre, wäre er gewiß wie Daddy. Ich verabscheute Mommy dafür, daß sie zu schwach und zu selbstsüchtig gewesen war, um ein zweites Baby zu bekommen. Es hätte zwar nicht gleich ein ganzer Wurf sein müssen, aber sie hätte wenigstens bedenken können, wie dringend ich einen Gefährten brauchte.

Ich mußte weitaus müder gewesen sein, als mir bewußt war, denn ich hörte Alice nicht zurückkommen. Sie stellte den Teller mit den belegten Broten und die Milch auf dem Nachttisch neben dem Bett ab, setzte sich hin und las den Text, den man uns in Geschichte aufgegeben hatte, während sie darauf wartete, daß ich die Augen wieder aufschlug. Die Dämmerung war bereits angebrochen, als ich endlich aufwachte. Das Licht brannte.

»Was ist passiert?« fragte ich und rieb mir die Wangen mit den Händen, während ich mich aufsetzte.

»Du bist eingeschlafen, und ich wollte dich nicht wecken. Die Milch ist nur noch lauwarm, aber die Brote sind noch gut.«

»Oh. Das tut mir leid.«

»Mach schon, iß etwas. Du kannst es dringend gebrauchen, Melody.«

Neben ihr standen ein leerer Teller und ein leeres Glas, und daher wußte ich, daß sie bereits etwas gegessen hatte. Ich holte tief Atem und biß in das Brot. Ich fürchtete mich davor, wie mein Magen reagieren könnte, wenn ihm wieder feste Nahrung zugeführt wurde. Er gluckerte und rumorte, doch das Brot schmeckte gut, und ich aß es schnell auf.

»Du mußt sehr hungrig gewesen sein.«

»Ja, vermutlich. Danke. Wie spät ist es?« Ich warf einen Blick auf die Uhr über der Kommode. »Oh. Ich sollte jetzt besser nach Hause gehen.«

»Du brauchst nicht zu gehen. Wenn du willst, kannst du sogar hier übernachten.«

»Nein. Ich sollte wirklich nach Hause gehen«, beharrte ich. »Meine Mutter braucht mich. Es tut mir leid, daß ich dir keine gute Gesellschaft war.«

»Das ist schon in Ordnung. Gehst du morgen zur Schule?«

»Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich werde wenigstens einen Tag zuhause bleiben«, sagte ich energisch.

»Ich bringe dir die Hausaufgaben und erzähle dir, was wir durchgenommen haben.«

»Danke.« Ich dachte einen Moment lang nach und lächelte sie dann an. »Ich danke dir dafür, daß du meine beste Freundin bist, Alice.«

Meine Worte ließen Tränen in ihre Augen treten, und sie lächelte zurück. Dann folgte sie mir die Treppe hinunter. Im ganzen Haus herrschte Stille.

»Meine Eltern duschen gerade und ziehen sich zum Abendessen um«, erklärte sie. »Das tun sie immer, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen. Bei uns zieht man sich für das Abendessen fein an.«

»Das ist eine schöne Angewohnheit«, sagte ich und blieb in der Haustür stehen, um noch einen letzten Blick in das überwältigende Haus zu werfen. »Es ist schön, wenn sich die ganze Familie versammelt und alle um einen Tisch herumsitzen. Du kannst dich glücklich schätzen.«

»Nein, ganz und gar nicht«, entgegnete sie mit scharfer Stimme. »Wir mögen zwar reich sein, und ich bringe die besten Noten aus der Schule nach Hause, aber du bist wesentlich besser dran als ich.«

»Was?« Fast hätte ich gelacht. Wie kann sie ausgerechnet heute so etwas zu mir sagen? dachte ich.

»Du bist das hübscheste Mädchen in der ganzen Schule, und alle mögen dich, und eines Tages wirst du glücklicher werden als wir alle miteinander.«

Ich schüttelte den Kopf, als hätte sie gerade etwas sehr Dummes gesagt, doch der Ausdruck von Entschlossenheit wich nicht von ihrem Gesicht.

»So wird es kommen, ganz bestimmt.«

»Alice«, rief eine Stimme aus dem oberen Stockwerk. Es war ihre Mutter. »Hast du etwas zu essen mit in dein Zimmer genommen?«

»Ich sollte jetzt lieber gehen«, sagte ich eilig. »Und noch mal vielen Dank.«

»Wir sehen uns dann morgen«, murmelte sie und schloß die Tür hinter mir. Ich weiß nicht, wie es kam, aber irgendwie tat sie mir in dem Moment mehr leid als ich mir selbst.

Als ich zum Wohnwagen zurückkehrte, stand Archie Marlins Wagen nicht mehr da. Alles war dunkel, nur im Wohnzimmer brannte eine kleine Lampe. Die Gläser und die nahezu leere Ginflasche standen noch auf dem Couchtisch. Ich sah mich um, lauschte und lief dann leise durch den Korridor zu Mommys Schlafzimmer. Die Tür stand einen Spaltweit offen, also lugte ich hinein und sah sie auf dem Bauch liegen. Ihr Morgenmantel war bis zu den Kniekehlen hochgerutscht, und ihre Arme hingen über die Bettkante.

Ich trat ein und betrachtete ihr Gesicht. Sie lag im Tiefschlaf und atmete schwer durch den geöffneten Mund. Ich deckte sie mit einer Decke zu und ging hinaus, um den Wohnwagen aufzuräumen. Als ich gerade zu Bett gehen wollte, hörte ich ein leises Klopfen an der Tür. Es war Mama Arlene.

»Wie geht es dir, Schätzchen?« fragte sie, als sie eintrat.

»Mir geht es gut«, sagte ich. »Mommy schläft.«

»Das ist gut so. Ich habe euch etwas vom Leichenschmaus mitgebracht.« Sie stellte die bedeckten Teller in unseren Kühlschrank. »Es wäre dumm, das gute Essen verkommen zu lassen.«

»Danke.«

Sie kam auf mich zu und nahm meine Hände in ihre. Mama Arlene war eine kleine Frau, zwei oder drei Zentimeter kleiner als ich, aber Papa George sagte immer, daß sie ein Rückgrat aus gehärtetem Stahl besaß. Wenn sie auch noch so schmächtig war, schien es doch, als könnte sie die Sorgen aller anderen auf ihren schmalen Schultern tragen.

»Jetzt kommen harte Zeiten auf dich zu, aber denk immer daran, daß wir gleich nebenan sind. Du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du uns brauchst, Melody.«

»Danke«, sagte ich mit brüchiger Stimme. Die Tränen brannten unter meinen Lidern.

»Sieh zu, daß du eine Weile schlafen kannst, meine Süße.« Sie zog mich an sich, und ich schlang die Arme eng um sie. Das ließ den Damm brechen, und ich schluchzte heftig, während die Tränen zu fließen begannen.

»Schlaf«, sagte sie liebevoll, »ist das beste Heilmittel. Schlaf, und die Zeit, die alle Wunden heilt.«

Ich holte tief Atem und ging in mein Zimmer. Ich hörte, wie sie die Tür hinter sich schloß, und dann trat Stille ein. In der Ferne hallte das klagende Pfeifen einer Lokomotive durch das Tal. Es könnte durchaus sein, dachte ich, daß Daddy einen Teil der Kohle in diesen Waggons abgebaut hat, ehe er… ehe er…

Irgendwo hoch oben im Norden würde jemand die Kohle in einen Ofen schaufeln und es eine Zeitlang warm haben. Ich erschauerte und fragte mich, ob mir wohl jemals wieder warm werden würde.

Ich fragte mich, ob Mama Arlene recht hatte, was die Macht der Zeit anging. In den Tagen und Wochen, die vergingen, schwächte sich der Schmerz in meinem Herzen zu einer Art Taubheit ab. Aber jedesmal, wenn ich an Daddy dachte oder mich etwas an ihn erinnerte, beispielsweise der Klang einer Stimme, setzte der Schmerz erneut ein. Einmal glaubte ich sogar, ihn auf der Straße näherkommen zu sehen. Ich haßte es, am Bergwerk vorbeizugehen oder die anderen Bergleute zu sehen. Bei ihrem Anblick schnürte sich mein Magen zusammen, und der Schmerz bohrte sich tief in mein Herz.

Mommy ging nie wieder auf den Friedhof, im Gegensatz zu mir – in den allerersten Wochen war ich fast täglich dort und dann etwa jeden zweiten Tag. In den allerersten Tagen nach meiner Rückkehr behandelten mich in der Schule alle anders als sonst, doch schon bald sprachen meine Lehrer wieder genauso mit mir wie mit den anderen auch, und meine Freunde begannen, sich wieder länger in meiner Nähe aufzuhalten, mehr mit mir zu reden und in meiner Gegenwart ungeniert zu lachen.

Bobby Lockwood entfernte sich jedoch immer mehr von mir und schien sich für Helen Christopher zu interessieren, ein Mädchen aus der neunten Klasse, das eher wie eine Schülerin der elften Klasse aussah. Alice, der es manchmal gelang, den ganzen Tag über Gespräche zu belauschen, berichtete mir, Helen sei noch promiskuitiver als die berüchtigte Beverly Marks. Alice unkte, es sei eine reine Zeitfrage, bis auch sie schwanger werden würde.

Doch das war nicht wichtig für mich. Ich vergoß keine einzige Träne über Bobbys Verrat. Dinge, die mir früher viel bedeutet hatten, erschienen mir jetzt geringfügig und belanglos. Daddys Tod hatte mich auf einen Schlag heranreifen lassen. Unglücklicherweise wurde Mommy jetzt, nachdem Daddy nicht mehr da war, noch flatterhafter. Die größte Wirkung, die Daddys Tod auf sie auszuüben schien, war die, daß ihr jetzt noch mehr vor dem Altern graute. Sie verbrachte noch mehr Zeit als früher vor ihrer Frisierkommode und brauchte Stunden, um mit Schminke zu experimentieren und sich das Haar zu richten. Laufend sah sie ihre gesamte Garderobe durch und klagte darüber, wie alt und unmodisch all ihre Kleidungsstücke waren. Sie redete nur noch über sich selbst: die Länge und der Farbton ihres Haars, eine minimale Schwellung in ihren Wangen oder Augen, der Verlust an Festigkeit, den ihre Beine aufwiesen, und wie dieser oder jener BH an ihr aussah.

Sie erkundigte sich nie nach meinen Schularbeiten, und sie kochte nicht eine einzige Mahlzeit, sondern überließ es mir oder Mama Arlene, für uns zu sorgen. Tatsächlich kam sie nur selten zum Abendessen nach Hause. Unter dem Vorwand, sie würde sonst zu dick, ließ sie mich mit schöner Regelmäßigkeit meine Mahlzeiten allein einnehmen.

»Ich kann nicht soviel fettes Essen vertragen wie du, Melody«, sagte sie zu mir. »Warte nicht auf mich. Fang einfach an zu essen, wenn ich um sechs Uhr nicht zuhause bin«, ordnete sie an. Es kam soweit, daß sie nur noch ein- oder zweimal in der Woche zum Abendessen nach Hause kam. Meistens aß ich gemeinsam mit Mama Arlene und Papa George. Mama machte sich zwar Sorgen um ihren Teint und um ihre Figur, doch sie trank weiterhin Gin und rauchte. Als ich ihr das sagte, wurde sie sehr wütend und fuhr mich an, schließlich sei das ihr einziges Laster, und ein kleines Laster bräuchte jeder.

»Vollkommene Menschen enden im Kloster und verlieren mit der Zeit den Verstand«, erklärte sie mir. »Da dein Vater jetzt nicht mehr da ist, stehe ich unter großem Druck. Ich muß mich unbedingt entspannen, und deshalb darfst du mir nicht noch zusätzliche Probleme bereiten«, befahl sie mir. Ich wußte, daß das schlicht und ergreifend hieß: »Laß mich in Ruhe.«

Genau das tat ich auch.

Ich hätte mich liebend gern über einige Dinge beschwert: darüber, wie oft sie sich mit Archie Marlin traf, und darüber, wie oft er zu uns nach Hause kam. Doch ich verschloß meine Lippen und schluckte meine Worte. Im Augenblick erforderte es nur eine Kleinigkeit, um Mommy in Rage zu bringen, und nachdem sie einen ihrer Koller hatte – sie schrie und schlug wild um sich – brach sie zusammen und weinte, und ich fühlte mich noch elender. Es ging soweit, daß sich bei mir das Gefühl einstellte, ich sei ihre Mutter und sie sei meine Tochter.

Unsere Rechnungen stapelten sich ganz einfach deshalb, weil sie nie dazu kam, sich um sie zu kümmern. Zweimal drohte die Telefongesellschaft damit, uns das Telefon abzustellen, und einmal kam jemand vom Elektrizitätswerk zu uns und klebte eine Warnung an unsere Tür. Mommy unterliefen ständig Fehler mit unserem Girokonto. Ich mußte die Buchführung übernehmen, die Lebensmittel für uns einkaufen und unseren Wohnwagen instand halten. Dabei half mir Papa George, doch Daddys Tod war auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Er wirkte plötzlich älter, kränklicher und ständig müde. Mama Arlene setzte ihm laufend zu, er solle sich schonen, doch er wollte das Rauchen nicht aufgeben und gewöhnte sich sogar an, am späten Nachmittag einen kleinen Whiskey zu trinken.

Es gab Nächte, in denen ich vom Klang von Mommys Gelächter aufwachte und Archie Marlins Stimme hörte. Schon bald drang dieses Lachen aus Mommys Schlafzimmer. Ich preßte mir die Hände auf die Ohren, aber ich konnte die Geräusche nicht von mir fernhalten, Geräusche, von denen ich wußte, was sie zu bedeuten hatten – die beiden liebten sich heftig.

Als ich das zum ersten Mal hörte, drehte sich mir der Magen um, so daß ich ins Badezimmer laufen und mich übergeben mußte. Mommy hörte mich noch nicht einmal und fragte auch nicht nach, was mit mir los war. Normalerweise war Archie schon gegangen, wenn ich morgens aufstand, und wenn ich ihn doch noch in der Küche oder im Wohnzimmer hantieren hörte, zögerte ich das Aufstehen so lange wie möglich hinaus.

Es ging einfach viel zu schnell – sogar zu schnell für den Geschmack der meisten Leute in Sewell. Ich wußte, daß über uns geredet wurde. Eines Abends kam Mommy entrüstet von der Arbeit heim. Sie hatte sich mit Mrs. Sampler überworfen, die immer eine ihrer besten Kundinnen gewesen war. Der Streit war entflammt, weil Mrs. Sampler eine Bemerkung darüber gemacht hatte, daß Mommy keine respektvolle Trauerzeit verstreichen lassen wollte. Nach allem, was mir hinterher zu Ohren kam, war Mommy außer sich geraten und in derart schrille Schreie ausgebrochen, daß Francine sie bitten mußte, das Geschäft zu verlassen.

Sie war außer sich vor Wut und fing an zu trinken, während sie mir von dem Streit berichtete. »Was bildet sie sich ein, mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Weiß sie etwa, wie schwer mein Leben ist? Und wieviel ich gelitten habe? Sie wohnt in ihrem schönen Haus und sieht auf mich herab, verurteilt mich für das, was ich tue. Wer hat ihr erlaubt, ein Urteil über mich zu fällen?«

Mommy unterbrach sich ab und zu, um sich zu vergewissern, daß ich voll und ganz hinter ihr stand. Ich wußte, daß es das Beste war, sie nicht in noch größere Wut zu versetzen, also nickte ich jedesmal, wenn sie mich aus zusammengekniffenen Augen ansah, enthusiastisch und gab mich empört über jemanden, der sie offen kritisierte, soweit es mir nur irgend möglich war.

»Ich hasse diese Leute. Sie bilden sich ein, bloß weil sie Geld haben, können sie uns Vorschriften machen. Sie sind so engstirnig. Sie sind so…« Sie suchte nach dem richtigen Wort und sah mich fragend an.

»Provinziell?«

»Ja. Was bedeutet das überhaupt?« fragte sie.

»Das heißt ganz einfach, sie haben nicht genug von der Welt gesehen, um sich ein umfassenderes Bild zu machen«, antwortete ich. Das gefiel ihr.

»Du bist gescheit. Das ist gut. Und recht hast du auch. Archie sagt das auch immer. Ihm ist diese Stadt ebenso sehr verhaßt wie mir. Und dir«, fügte sie hinzu.

»Sie ist mir nicht verhaßt, Mommy.«

»O doch, natürlich haßt du sie. Was hast du hier schon zu erwarten?« Sie leerte ihr Glas und ging dann zum Telefon, um Archie anzurufen und ihm zu erzählen, was passiert war.

Erst Tage später, als ich früher von der Schule nach Hause kam und Mommy auf dem Sofa vor dem Fernseher liegen sah, wurde mir klar, wie schwerwiegend der Vorfall im Kosmetiksalon gewesen sein mußte. Ganz offensichtlich hatte sie sich an diesem Tag noch gar nicht angezogen. Ich brauchte sie noch nicht einmal zu fragen. Sie sah meinen Gesichtsausdruck und beantwortete meine Frage, ehe ich sie auch nur stellen konnte.

»Ich arbeite nicht mehr für Francine«, sagte sie.

»Was? Wieso denn das?«

»Wir haben uns zerstritten. Nach all den Jahren sollte man doch glauben, daß sie zu mir hält. Ich habe mich für sie abgerackert und ihr alle erdenklichen Gefälligkeiten erwiesen. Eine himmelschreiende Undankbarkeit. Undankbar, genau das ist sie. Das sind sie alle.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Darüber mache ich mir im Moment noch keine Gedanken. Ich bin viel zu wütend«, sagte sie und zog einen Schmollmund. »Was gibt es zum Abendessen?«

»Wir haben noch Huhn von gestern, das wir aufwärmen können, und ich kann Kartoffeln und grüne Bohnen kochen.«

Sie verzog das Gesicht.

»Wenn das alles ist, was wir im Haus haben, dann bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig«, sagte sie und schloß die Augen.

Mit zitternden Händen bereitete ich unser Abendessen zu. Was sollten wir jetzt tun? Wer würde Mommy eine Stellung geben? Welche Form von Arbeit konnte sie überhaupt leisten? In Sewell gab es nur einen einzigen Kosmetiksalon. Vielleicht würde sich das, was ich zu Alice gesagt hatte, doch noch als wahr erweisen: Ich würde von der Schule abgehen und mir selbst Arbeit suchen müssen.

Daddy hatte keine ausreichende Lebensversicherung abgeschlossen, und das, was wir von der Sozialversicherung bekamen, genügte nicht. Und außerdem hatte Mommy einen großen Teil dieses Geldes für neue Kleider ausgegeben.

Sie schien sich jedoch keine Sorgen zu machen. Nachdem ich das Essen zubereitet hatte, änderte sie ihre Meinung und beschloß, es doch zu mögen. Sie aß und trank und redete ohne Punkt und Komma über dieses neue Ensemble, das sie sich besorgen würde, mit passenden Schuhen. Nach dem Abendessen begab sie sich in ihr Schlafzimmer, während ich den Tisch abräumte und das Geschirr spülte, und plötzlich tauchte sie in einem neuen Rock, in einer neuen Bluse und mit neuen Ohrringen wieder auf. All das führte sie mir vor wie ein Mannequin, und ich mußte zugeben, daß sie wirklich wunderschön darin aussah. Vielleicht könnte sie ein professionelles Mannequin werden, dachte ich mir, und beging den Fehler, meinen Gedanken laut auszusprechen. Leider führte es nur dazu, daß sie in Form eines Wutanfalls über eines ihrer Lieblingsthemen wetterte.

»Genau das hätte ich werden sollen. Aber ich bin eben nicht richtig beraten worden, und ich hatte auch niemanden, der raffiniert genug war, um mich in den richtigen Kreisen einzuführen. Und was habe ich denn schon gewußt? Man braucht eben jemanden, der etwas von der Welt gesehen hat, der sich auskennt und einem hilft, der einem weise Ratschläge erteilt. Und genau deshalb ist die Wahl des Mannes, den man heiratet und liebt, so wichtig. Man darf nicht einfach seinem Herzen folgen. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät für mich«, fügte sie hinzu und sah zufrieden in den Spiegel.

Diese Möglichkeit heiterte sie auf.

»Ich muß mich eben an den richtigen Orten bewegen und die richtigen Leute treffen«, sagte sie zu mir. Sie schlug die Hände zusammen und nickte. »Ja, genau das muß ich tun.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. Dann eilte sie wieder in ihr Schlafzimmer, als würde sie dort schon von der richtigen Person erwartet.

Ich spürte, wie mein Herz flatterte. Furcht kitzelte meine Brust von innen wie eine Feder. Ab und zu konnte man es sich leisten, zu träumen und sich etwas zu wünschen. Daddy hatte mir beigebracht, die Hoffnung nicht aufzugeben und jedem neuen Tag freudig entgegenzusehen, aber wenn man in einer Welt voller Wünsche lebte und niemals die Realität des Jetzt und Hier sah und auch keine Lust hatte, Verantwortung zu tragen, dann war das etwas ganz anderes. Mommy entwickelte sich immer weiter in diese Richtung.

Nachdem ich das Geschirr abgewaschen hatte, setzte ich mich hin, um meine Hausaufgaben zu machen. Kurze Zeit später hörte ich, wie an meine Tür geklopft wurde, und Mommy tauchte in der Tür auf. Sie trug noch ihren neuen Rock und ihre neue Bluse.

»Ich gehe aus«, sagte sie. »Schließ die Tür nicht ab.«

Eine Hupe ertönte, und schon war sie fort. Ich brauchte nicht zweimal zu raten, mit wem sie ausging.

Was wird bloß aus uns werden? fragte ich mich.

Zwei Tage später bekam ich die Antwort darauf. Sie war noch schockierender als alles, womit ich gerechnet hätte.

Melody

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