Читать книгу Melody - V.C. Andrews - Страница 9
Оглавление3.
Ein trauriger, schöner Träumer
An jenem Nachmittag verspürte ich auf dem Heimweg von der Schule ein solches Gefühl von Leere, daß meine Brust mir regelrecht hohl erschien. Ein Fuß folgte mechanisch dem anderen, und meine Schuhsohlen hoben sich kaum vom Boden. Eine Schar Kinder, die die Grundschule besuchten, rannte an mir vorbei. Ihr Gelächter hatte den klirrenden Klang von Porzellan und trieb frisch und melodisch in der klaren, kalten Luft. Ich erkannte, daß kleine Kinder nicht wirklich mit tiefer Traurigkeit zu kämpfen haben. Man schenkt ihnen ein neues Spielzeug oder verspricht ihnen etwas Schönes, und schon streifen sie ihre Traurigkeit einfach ab. Mit zunehmendem Alter jedoch erkennt man, daß es im Leben auch viele finstere Tage gibt. Die Tragödie hatte mich kopfüber in die Realität katapultiert. Vorher hatte ich die Dinge mit anderen Augen gesehen, und jetzt sah alles plötzlich ganz anders aus, sogar die Natur.
Der Schnee war geschmolzen. Die alten Eichen mit ihren breiten und stämmigen Ästen, die Buchen und die Pappeln, sie alle hatten Laub, das sich gerade saftig grün färbte. Flüchtig nahm ich die Vögel zur Kenntnis, die um mich herum von einem Ast zum anderen flatterten. Die trägen, milchig weißen Wolken über mir schienen an dem hellblauen Himmel festgeklebt zu sein, doch ich konnte in ihnen nicht mehr sehen als einfache weiße Kleckse. Ihre Formen hatten keine Ähnlichkeit mehr mit Kamelen oder Walfischen. Meine Phantasie war in einer dunklen Abstellkammer eingesperrt.
Gewöhnlich ließ der erste warme Kuß der Sonne freudige Erregung in mir aufkeimen. Dinge, die mich normalerweise betrübten oder unglücklich machten, nahmen sich gegen das Versprechen aufblühender Blumen oder das Gelächter kleiner Kinder, das die Luft zerriß, unbedeutend und belanglos aus.
Aber selbst der Frühling in all seiner Pracht würde mir meinen Daddy nicht zurückbringen. Mit jedem Tag, der verging, vermißte ich seine Stimme und sein Lachen immer mehr. Mama Arlene irrte sich: Die Zeit heilte die Wunde nicht. Sie verstärkte die Leere, die sich nach allen Seiten ausweitete, nur noch mehr.
Als ich mich mühselig nach Hause schleppte, trug ich meine Schulbücher in der dunkelblauen Stofftasche, die Daddy mir vor langer Zeit gekauft hatte. Ich mußte für zwei Arbeiten lernen und eine Menge Hausaufgaben machen, deshalb war die Tasche voll und schwer. Alice war nach dem Unterricht noch länger in der Schule geblieben, um einen freiwilligen Schülerkreis zu besuchen, der sich mit den aktuellen Ereignissen befaßte. Außerdem waren Proben für einen bunten Veranstaltungsabend angesetzt, auf dessen Programm auch ich mit meiner Fiedel stand. Schon vor Monaten hatte ich mich freiwillig zur Teilnahme bereit erklärt, doch seit Daddys Tod hatte ich meine Fiedel nicht ein einziges Mal zur Hand genommen. Ich verspürte nicht mehr den Wunsch zu spielen, außerdem mangelte es mir an Selbstvertrauen.
Alle anderen schienen etwas zu tun zu haben, sich mit Freunden zu treffen oder sich gemeinsamen Aktivitäten anzuschließen. Ein- oder zweimal bemühte ich mich, so etwas wie Begeisterung für Dinge aufzubringen, die mir vor Daddys Tod Spaß gemacht hatten, doch ein entscheidender Teil von mir war mit Daddy gemeinsam zu Grabe getragen worden. Ich wußte, daß meine Schulfreundinnen allmählich die Geduld mit mir verloren, sogar Alice. Nach einer Weile hatten sie aufgehört, zu betteln und zu flehen und mich dazu zu ermuntern, daß ich etwas mit ihnen unternahm, und inzwischen kam ich mir nur noch wie ein Schatten meiner selbst vor. Sogar meine Lehrer hatten begonnen, mich wie eine Fensterscheibe zu behandeln. Sie schienen durch mich hindurch und andere anzusehen und riefen mich im Unterricht kaum noch auf, ganz gleich, ob ich mich meldete oder nicht. Nur selten war mir ein Lächeln zu entlocken. An das Geräusch meines eigenen Lachens konnte ich mich selbst nicht mehr erinnern. Mommy hatte sich schon bevor sie ihren Job verloren hatte über meine schlechte Laune beschwert. Jetzt klagte sie unablässig darüber.
»Wenn ich darüber hinwegkommen kann, dann kannst du es auch«, predigte sie mir. Dann behauptete sie: »Vielleicht ist er dort, wo er jetzt ist, glücklicher. Wenigstens braucht er nicht mehr gegen das Altern anzukämpfen. In deiner Erinnerung wird er immer jung bleiben. Und da, wo er jetzt ist, braucht er sich auch um das Geld keine Sorgen mehr zu machen.«
Ich sagte ihr, wie scheußlich ich es fand, daß sie so über ihn redete, doch sie lachte nur. »Tu, was dir paßt. Wenn du die ganze Zeit wie ein Miesepeter herumlaufen willst, dann kannst du das von mir aus tun. Bald wirst du keine Freundinnen mehr haben, und gutaussehende Jungen lockst du mit deinem langen Gesicht auch nicht an.«
»Das ist mir egal!« schrie ich sie an. Jungen und Parties, lange Gespräche am Telefon oder die Telefonnummer dieses oder jenen Jungen, die ich in mein Notizbuch kritzelte, all das hatte für mich seinen Reiz verloren. Warum konnte Mommy das nicht begreifen?
Ich wollte mich heute nicht schon wieder mit ihr streiten, doch da sie ihren Job bei Francine verloren und noch keinen anderen gefunden hatte, rechnete ich damit, sie bei meiner Heimkehr zuhause anzutreffen. Sie sagte, meine Gegenwart sei so deprimierend, daß sie den Appetit verloren hätte. In meinen Ohren klang das nur nach einem weiteren Vorwand, um mit Archie Marlin auszugehen. Heute würde es wieder genauso sein wie sonst auch. Ich wappnete mich auf eine weitere Strafpredigt.
Als ich die Tür des Wohnwagens öffnete, wurde ich jedoch nicht von ihrem gewohnten Tadel begrüßt. Statt dessen sah ich geöffnete Koffer, die auf dem Fußboden verstreut waren. Mommy lief eilig hin und her, faltete Kleidungsstücke zusammen und warf sie in eines der Gepäckstücke.
»Gut, daß du da bist«, sagte sie, als sie mich sah. »Du bist früh dran. Ich hatte schon befürchtet, wenn ich dich ausnahmsweise einmal sehen möchte, fällt es dir ein, etwas zu unternehmen.«
»Was tust du da, Mommy? Warum packst du diese Koffer?«
»Wir reisen ab«, sagte sie lächelnd. »Also, diese beiden Koffer dort sind deine«, wies sie mich an und deutete auf die beiden kleinsten Koffer, die vor dem Sofa lagen. »Es tut mir leid, daß du nicht mehr mitnehmen kannst, aber für noch mehr Gepäck ist im Moment kein Platz im Wagen. Such deine wichtigsten Sachen zusammen, und fang mit dem Packen an.«
»Wir reisen ab? Wohin fahren wir denn? Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« fragte ich verblüfft.
»Ich habe nicht viel Zeit, um es dir zu erklären, Melody.« Sie faltete die Hände und blickte wie zum Dank gen Zimmerdecke. »Die Gelegenheit hat sich geboten, und wir ergreifen sie. Beeil dich! Pack schnell deine besten Sachen zusammen, und denk daran, daß wir im Moment nicht genügend Platz für die anderen Sachen haben.«
»Ich begreife überhaupt nichts.« Ich blieb in der Tür stehen und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Was gibt es da schon zu begreifen? Wir gehen fort«, rief sie aus. »Wir werden Mineral Acres endlich verlassen! Du solltest dankbar dafür sein. Du solltest vor Dankbarkeit außer dir sein, meine Süße«, drängte sie mich.
»Aber weshalb gehen wir fort von hier?«
Sie streckte die Arme aus und sah von ihrer rechten Hand auf ihre linke, als stünde dort, direkt vor unseren Augen, die Antwort geschrieben. »Weshalb?« Sie lachte dünn. »Weshalb sollte ich wohl dieses trostlose Nest verlassen wollen, dieses Kaff, in dem es von aufdringlichen Leuten wimmelt, die sich in alles einmischen, von Menschen, die keinerlei Phantasie und keine Träume haben? Weshalb sollte ich wohl einen winzigen Wohnwagen in einer Rentnersiedlung verlassen wollen, in der die meisten Leute schon mit einem Fuß im Grab stehen? Weshalb wohl?« Sie lachte wieder, und dann verblaßte ihr Lächeln.
»Angeblich bist du eine kluge Schülerin. Deine Arbeiten werden ständig mit Einsern benotet, und du fragst mich, warum wir von hier fortgehen?«
»Aber wohin gehen wir denn, Mommy?«
»Das ist ganz gleich, solange wir bloß von hier fortgehen«, sagte sie. Einen Moment lang starrte sie mich an, dann zogen sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Wir werden uns ein wenig umsehen und einen Ort suchen, an dem es uns gefällt, einen Ort, an dem sich mir die Gelegenheit bietet, mehr aus meinem Leben zu machen, einen Ort, an dem ich mich nicht ständig unterdrückt und erstickt fühle. Nachdem dein Vater jetzt tot ist, gibt es keinen Grund mehr, weiterhin in einer Bergarbeitersiedlung zu leben, stimmt’s?«
Sie lächelte jetzt wieder, doch irgendwie kam mir dieses Lächeln unecht vor.
»Wir haben doch schon immer in Mineral Acres gelebt«, sagte ich matt.
»Aber doch nur, weil dein Vater im Kohlenbergwerk gearbeitet hat! Also, wirklich, Melody. Und außerdem«, fuhr sie fort, »habe ich bei meinen Bemühungen, mich nach dem Tod deines Vaters aufzuheitern, mehr Geld ausgegeben als alles, was wir auf dem Bankkonto haben. Das Geld von der Lebensversicherung ist aufgebraucht, und du weißt ja selbst, wie hoch unsere laufenden Kosten sind und daß wir jeden Monat nur mit Mühe und Not die Rechnungen bezahlen können. Du warnst mich doch ständig, wie hoch sie sind. Solange ich keinen Job habe, kann ich noch nicht einmal die Miete für diesen Wohnwagen bezahlen, und ich denke gar nicht daran, zu Francine zu gehen und zu betteln, damit sie mir meine Stellung wieder gibt, und andere Jobs gibt es hier nicht für mich. Und ebensowenig denke ich daran, als Kellnerin zu arbeiten. Sieh mich an!« sagte sie und breitete die Arme weit aus. »Sehe ich etwa so aus, als könnte ich hier in diesem Städtchen unseren Lebensunterhalt verdienen? Ich kann nicht tippen, und selbst wenn ich es könnte, würde ich lieber sterben als im Büro irgendeiner dieser Bergwerksgesellschaften eingesperrt zu sein. Wir haben gar keine andere Wahl. Ich muß einen guten Ort finden, ehe es zu spät ist!«
»Aber wie kommen wir dorthin?«
»Archie wird in zwanzig Minuten hier sein«, erwiderte sie. »Deshalb bleibt uns nicht mehr viel Zeit für dieses überflüssige Geschwätz.«
»Archie?«
»Er geht auch von hier fort. Im Grunde genommen war es sogar seine Idee«, fügte sie mit einem fröhlichen Lächeln hinzu. »Wir steigen in seinen Wagen, fahren los und…«
»Archie? Wir gehen mit Archie Marlin von hier fort?« fragte ich ungläubig.
»Es sieht eher so aus, daß er mit uns von hier fortgeht«, sagte sie und ließ ihren Worten ein nervöses kleines Lachen folgen. »Aber er wird uns trotzdem eine große Hilfe sein. Er hat Freunde in der Unterhaltungsindustrie. Er sagt, ich kann als Mannequin arbeiten.«
»O Mommy, er lügt! All diese Dinge erzählt er dir doch nur, damit du bei ihm bleibst.«
»Was? Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen!« Sie drohte mir mit dem Zeigefinger. »Archie ist ein einfühlsamer Mensch. Er macht sich viel aus uns. Außerdem hat er ja sonst auch niemanden. Also ist es doch ganz sinnvoll, daß wir alle gemeinsam von hier fortgehen. Bitte«, sagte sie und sah flehend zur Decke. »Pack jetzt deine Sachen.«
»Aber was ist mit meiner Schule und…«
»Du wirst alles, was du versäumst, in einer anderen Schule nachholen – in einer besseren Schule! O Schätzchen«, rief sie und klatschte in die Hände, »ist das nicht aufregend? Du kannst doch unmöglich etwas dagegen haben, daß wir versuchen, uns an einem anderen Ort ein neues Leben aufzubauen! Ich weiß doch genau, daß du hier nicht mehr glücklich bist, stimmt’s?«
»Das liegt aber nur an dem, was Daddy zugestoßen ist.«
»Genau. Und daran wird nichts etwas ändern. Weshalb also sollten wir hierbleiben? Das, was wir alle brauchen, ist ein Neubeginn – wir fangen einfach noch einmal ganz von vorn an. Aber das müssen wir tun, ehe es zu spät ist, Melody. Du willst doch nicht etwa, daß ich warte, bis ich zu alt bin und keine Chancen mehr habe? So ist es vielen Leuten ergangen, die jetzt hier festsitzen. Mir wird das jedenfalls nicht passieren«, sagte sie voller Entschlossenheit.
Dann lächelte sie wieder. »Ich habe noch eine andere Überraschung für dich. Eigentlich wollte ich sie mir aufheben, bis wir tatsächlich unterwegs sind und vor uns nichts anderes mehr liegt als eine bessere Zukunft«, sagte sie.
Ich starrte sie benommen an und fragte mich, womit sie mich jetzt wohl noch überraschen könnte.
»Willst du denn gar nicht wissen, was es ist?« fragte sie, als ich nichts sagte.
Ich schüttelte den Kopf und sah mich um. Der Anblick, der sich mir bot, war niederschmetternd. Die Koffer auf dem Fußboden, dieses ganze Durcheinander, Kleidungsstücke, die überall verstreut waren…
»Was ist es?« fragte ich schließlich.
»Unser erstes Reiseziel ist Provincetown, Cape Cod. Dort wirst du endlich die Familie deines Vaters kennenlernen. Nun, was ist?« fragte sie, als ich nichts darauf erwiderte. »Bist du denn gar nicht aufgeregt? Jahrelang hast du nach Daddys Familie gefragt. Jetzt bekommst du all deine Antworten.«
»Provincetown? Daddys Familie?«
»Ja. Findest du denn nicht, daß das eine großartige Idee ist?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Sie hatte recht: Damit hatte sie mich tatsächlich überrascht, und trotzdem kam es mir ganz so vor, als stimmte hier etwas nicht. Ich holte tief Atem. Mein Herz pochte heftig. Die Ereignisse überschlugen sich, und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
»Sollten wir all das nicht gründlicher planen, Mommy? Können wir uns nicht erst einmal hinsetzen, darüber reden und alles organisieren?«
»Nein, denn das läuft gewöhnlich nur darauf hinaus, daß wir überhaupt nichts unternehmen«, jammerte sie. »Wie Archie ganz richtig sagt: Wenn man die Dinge nicht dann in Angriff nimmt, wenn man den Drang dazu verspürt, wird man sie wahrscheinlich nie tun.«
»Warum müssen wir ausgerechnet mit ihm von hier fortgehen?« bohrte ich.
Ihr Gesicht spannte sich an, und sie kniff die Augen zusammen. »Ich mag Archie, Melody. Er bringt mich zum Lachen, und ich habe das Weinen und Klagen satt. Mir hängen die Leute zum Hals heraus, die mich ansehen, als sei ich eine Art Ungeheuer, weil mein Mann bei einem Grubenunglück ums Leben gekommen ist. Aber Archie ist anders.«
Sie setzte sich auf das Sofa und bedeutete mir, ich solle zu ihr kommen. Ich setzte mich neben sie, blieb jedoch weiterhin auf der Hut. Dann zog sie mich zum ersten Mal seit Daddys Tod in ihre Arme. Sie drückte mich eng an sich und begann mein Haar zu streicheln, und allmählich entspannte ich mich. Es tat so gut, meine Mommy wieder für mich zu haben. Sie hatte mir so sehr gefehlt. »Du wirst Archie mögen, wenn du ihn besser kennst. Er ist genau die Medizin, die ich brauche, und auch du brauchst diese Medizin, mein Schatz.« Sie unterbrach sich, strich mir jedoch weiterhin über das Haar. Ich hoffte, sie würde niemals damit aufhören. »Ich möchte dich nur um eines bitten«, sagte sie leise. »Sowie wir Sewell verlassen haben, darfst du ihn nicht mehr Archie nennen.«
»Und warum nicht?«
»Sein richtiger Name ist Richard. Archie ist nichts weiter als ein Spitzname.«
»Wie kommt es überhaupt, daß er so überstürzt von hier fortgehen kann? Er hat doch schließlich einen Job«, sagte ich und hoffte nur, sie würde nicht böse auf mich werden und mich loslassen. Vielleicht war er dabei ertappt worden, daß er den Whiskey mit Wasser verdünnte, wie Alices Vater es behauptet hatte.
»Das ist keine Art von Job, die ein Mann wie Arch… Richard für den Rest seines Lebens betreiben will. Und darum haben wir diesen Entschluß gefaßt. Und jetzt möchte ich, daß du deine Sachen packst. Aber denk daran, daß du nur zwei Koffer zur Verfügung hast.«
»Aber das heißt, daß ich furchtbar viele Sachen hier lassen muß«, protestierte ich.
»George und Arlene werden auf die Sachen aufpassen«, sagte sie. »Und nachdem wir uns an einem Ort niedergelassen haben, der uns gefällt, werden wir uns alles nachschicken lassen.«
»Mama Arlene«, murmelte ich und begriff in dieser Sekunde, daß ich sie nicht mehr sehen würde. »Hast du ihr schon erzählt, was du vorhast?«
»Genau das wollte ich gerade tun«, sagte Mommy, »aber da ich endlos und ewig mit dir herumdiskutieren mußte, ist meine Zeit jetzt knapp. Ich muß schließlich auch noch meine Sachen packen.«
»Aber muß ich denn nicht die Schule verständigen und…«
»Hör jetzt endlich auf zu schnattern, Melody, und pack deine Sachen! Es wird schon alles gut gehen. Wir sind schließlich nicht die ersten Menschen, die es wagen, von hier wegzuziehen, obwohl ich wetten würde, daß man diejenigen, die aus dieser Mausefalle hier entkommen sind, an einer Hand abzählen kann.«
Sie lächelte wieder und hastete in ihr Schlafzimmer.
Ich stand einfach nur da und sah mich um. Es fiel mir schwer zu glauben, daß wir Sewell für immer verlassen würden. Was war mit Daddys Grab? Ich wollte hingehen und mich von ihm verabschieden. Und was war mit Alice und meinen anderen Freundinnen? Ich mußte meine Bücher in die Bücherei zurückbringen! Und was würde mit unserer Post geschehen? Und mit den Rechnungen, die noch ausstanden – zur Bank würden wir doch gewiß gehen müssen. Es gab noch soviel zu tun.
Ich stellte meine Büchertasche ab und ging langsam durch den kurzen Korridor. Mommys Kleiderschrank stand offen, und all ihre Sachen lagen auf dem Bett verstreut. Jetzt stand sie nachdenklich mitten im Zimmer.
»Es ist mir ein Greuel, soviel zurückzulassen, aber ich kann mir schließlich neue Kleider kaufen, oder etwa nicht?« beschloß sie.
»Mommy bitte. Laß uns das alles in Ruhe besprechen, damit die Dinge ihre Ordnung haben.«
»Du bist immer noch nicht am Packen?« Sie drehte sich zornig zu mir um. »Ich warne dich, Melody. Sowie Archie kommt, gehen wir zu dieser Tür hinaus«, drohte sie mir. »Was du bis dahin gepackt hast, kommt mit. Was du bis dahin nicht gepackt hast, bleibt hier. Verstanden?«
Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle und dachte einen Moment lang nach. Verzweifelt versuchte ich, einen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich hatte ich eine Idee.
»Vielleicht sollte ich besser hierbleiben und bei Mama Arlene und Onkel George wohnen, bis du ein neues Zuhause für uns gefunden hast, Mommy.«
Sie schüttelte den Kopf. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber Papa George geht es ständig schlechter, und Mama Arlene hat ohnehin schon alle Hände voll mit ihm zu tun. Und außerdem gehören die beiden nicht wirklich zur Familie und können die Vormundschaft für dich nicht übernehmen. Das ist eine zu große Verantwortung, die man klapprigen alten Leuten nicht zumuten kann.«
»Die beiden sind nicht alt und klapprig«, beharrte ich.
»Melody, pack augenblicklich deine Sachen in diese Koffer!« Dann wurde ihre Stimme wieder milder. »Mach nicht alles noch schwerer, als es ohnehin schon ist, Schätzchen. Ich verlasse mich darauf, daß du ein großes Mädchen bist. Natürlich fürchte ich mich auch ein wenig. Jeder hat Angst davor, ein neues Leben zu beginnen. Ich brauche deine Unterstützung, Melody.« Sie schwieg, als ich mich immer noch nicht von der Stelle rührte. »Und außerdem weißt du selbst ganz genau, wie wichtig es Daddy wäre, daß du tust, was ich sage«, fuhr sie dann fort. »Oder etwa nicht?« Sie lächelte. »Das würde er sich doch sicher wünschen?«
»Ja«, gab ich widerstrebend zu.
Ich senkte den Kopf und wandte mich ab. Als ich mein kleines Zimmer betrat und mich umsah, erkannte ich, daß ich vor einer unmöglichen Aufgabe stand. Es gab so viele kostbare Erinnerungsstücke, vor allem Dinge, die Daddy mir gekauft hatte, zum Beispiel meine erste Puppe und all die Fotos. Die Koffer, die Mommy für mich bereitgestellt hatte, waren kaum groß genug, um ein Zehntel meiner Garderobe zu fassen, von Puppen und Stofftieren ganz zu schweigen. Und was war mit meiner Fiedel?
»Zehn Minuten!« rief Mommy mir aus ihrem Zimmer zu.
Mir blieben zehn Minuten Zeit, um zu entscheiden, was ich hier zurücklassen würde. Vielleicht für immer. Das konnte ich nicht schaffen. Ich fing an zu weinen.
»Melody! Ich kann dich immer noch nicht packen hören«, rief sie.
Langsam öffnete ich die Schublade der Kommode und holte Dinge heraus, von denen ich wußte, daß sie unbedingt notwendig waren – Unterwäsche, Socken und Schuhe. Dann trat ich vor den Kleiderschrank und wählte Röcke und Blusen, zwei Jeans und ein paar Pullover aus.
Die Koffer füllten sich schnell, doch ich packte so viele Fotografien wie möglich zusammen und stopfte sie unter die Kleidungsstücke. Dann versuchte ich, meine erste Puppe in einen der Koffer zu zwängen, meine Kate und meinen Teddybär und ein paar Geschenke von Daddy. Mommy kam und sah, wie voll meine Koffer waren und daß sie sich unmöglich richtig schließen ließen.
»Du kannst das nicht alles mitnehmen«, sagte sie.
»Kann ich nicht doch noch einen Koffer haben?«
»Nein. Arch… Richard braucht selbst Platz für seine Sachen, und ich muß vier Koffer mitnehmen. Ich brauche meine guten Kleider, damit ich hübsch aussehe, wenn ich zu Vorstellungsgesprächen gehe oder bei den richtigen Leuten vorspreche«, behauptete sie. »Ich habe dir doch schon gesagt, daß wir uns alles Übrige nachschicken lassen.«
»Aber ich brauche doch gar nicht viel mehr. Vielleicht noch einen kleinen Karton und…«
»Melody, wenn du nicht entscheiden kannst, was du hier zurückläßt, dann werde ich eben die Entscheidung für dich treffen«, sagte sie und bückte sich, um meine Stofftiere aus dem Koffer zu ziehen.
»Nein!« schrie ich. »Die Katze war das letzte Geschenk, das Daddy mir gemacht hat!«
»Entweder die Katze und dieser Teddybär oder ein Teil deiner Kleider bleiben hier. Entscheide selbst darüber. Du bist jetzt ein großes Mädchen. Du brauchst keine Spielsachen mehr«, fauchte sie und warf die Katze wieder auf die Kleidungsstücke in dem Koffer.
Ich zwängte meine Stofftiere unter die Kleider, und dann setzte ich mich auf den Koffer, damit er sich schließen ließ, und es gelang mir tatsächlich, die Schnallen zuschnappen zu lassen. Die Koffer waren ausgebeult und schwer, doch ich hatte es geschafft, die Dinge hineinzuzwängen, die ich unter gar keinen Umständen hier zurücklassen würde.
»Du brauchst nur diesen einen Mantel«, wies mich Mommy an, »und die Stiefel, die du trägst. Vergiß deine Handtasche nicht.«
»Ich nehme meine Fiedel mit«, sagte ich.
»Deine Fiedel? Melody, ich bitte dich. Das ist ein Instrument für Hinterwäldler.«
»Daddy hat mir schrecklich gern zugehört, wenn ich gespielt habe.«
»Aber jetzt kann er dich nicht mehr hören. Dort, wo du in Zukunft sein wirst, wirst du wohl kaum ein solches Instrument spielen, das verspreche ich dir. Vielleicht wirst du lernen, Gitarre zu spielen oder…«
»Ich komme nicht mit, wenn ich die Fiedel nicht mitnehmen darf, Mommy.« Ich verschränkte die Arme und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. »Ich komme nicht mit. Ich schwöre es dir.«
Sie seufzte.
»Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis du nicht mehr unter dem Einfluß dieses elenden Kaffs stehst. Tu, was du willst.« Sie stapfte durch den Korridor, um ihre letzten Kosmetikartikel einzupacken. Ich hatte meine eigenen Toilettenartikel vergessen und mußte einen der Koffer wieder öffnen, um sie hineinzuzwängen. Ich plagte mich immer noch damit ab, den Koffer wieder zu schließen, als Archie Marlin eintraf.
Er trug ein braunes sportliches Jackett, Hemd und Krawatte und eine braune Hose. Mir schien es, als sei er etwas besser gekleidet als sonst.
»Hallo«, sagte er, als er in mein Zimmer kam, ohne anzuklopfen. »Bist du soweit?«
»Nein«, sagte ich kläglich.
Daraufhin lächelte er nur. »Du bist bestimmt schon ganz aufgeregt, was?«
»Nein«, sagte ich mit fester Stimme.
»Du fürchtest dich wohl, was? Du brauchst dich aber nicht zu fürchten. Für mich ist das alles nichts Neues, und es besteht kein Grund zur Furcht.« Seine Stimme klang aufgeblasen und angeberisch.
»Ich fürchte mich nicht. Ich ärgere mich nur darüber, daß wir so überstürzt aufbrechen.«
»Wenn man sich etwas vornimmt, dann sollte man es am besten gleich tun.« Er schnalzte mit den Fingern. »Entweder man ist ein Tatmensch, oder man ist ein Schwätzer.« Er nahm seine Schultern zurück und drückte die Brust heraus. Ich wandte mich ab, damit er die Tränen nicht sehen konnte, die in meinen Augen glitzerten. »Haille!« rief er.
»Oh, du bist hier. Das ist gut.« Mommy kam in mein Zimmer. »Ich bin so gut wie fertig mit dem Packen. Du kannst schon anfangen, den Wagen vollzuladen, Richard.«
Er riß die Augen auf.
»Sie weiß, daß das dein richtiger Name ist und daß du nur mit Spitznamen Archie genannt wirst«, erklärte Mommy.
»Ach? Das ist gut. Ich konnte diesen Spitznamen noch nie leiden.« Archie-Richard zwinkerte mir zu und ging dann, um Mommys Gepäck zu holen.
»Bist du mit dem Packen fertig?« fragte sie mich.
»Die Koffer sind voll. Ich muß nur diesen einen hier noch zumachen.«
»Kein Problem.« Archie, der gerade die beiden größeren von Mommys Koffern über den Fußboden zog, ließ sie dort stehen und setzte sich auf meinen Koffer, um die Schnallen zuschnappen zu lassen. »Wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann, Melody, dann brauchst du es nur zu sagen«, sagte er zu mir. Ich schnaubte, denn mir war die Vorstellung verhaßt, ihn um etwas bitten zu müssen.
»Warum gehst du nicht zu Mama Arlene und verabschiedest dich von ihr, während wir die Sachen in den Wagen laden?« sagte Mommy.
Ich senkte den Kopf und zog meinen Mantel an. Dann nahm ich meinen Fiedelkasten und ging zur Tür. Archie beklagte sich darüber, wie schwer Mommys Koffer waren. Er schaffte es kaum, sie die Stufen hinunterzutragen.
»Sei bloß vorsichtig!« schrie Mommy. »In diesen Koffern sind meine edelsten Sachen.«
Daddy hätte die Koffer mit zwei Fingern hochheben können, dachte ich.
Ich klopfte an die Tür von Mama Arlenes Wohnwagen.
»Melody, Schätzchen, was ist passiert?« In dem Moment, als sie mir ins Gesicht sah, wußte sie, daß etwas nicht stimmte.
»O Mama Arlene. Wir gehen fort. Wir verlassen Mineral Acres für immer!« Ich stürzte mich in ihre Arme.
So schnell wie möglich berichtete ich ihr alles, und ich erzählte ihr auch von meinem Vorschlag, hierzubleiben und zu ihr und Papa George zu ziehen. Wir standen immer noch in der Tür, und ich hatte schon alles herausgesprudelt.
»Oh«, sagte sie und nickte. »Deshalb hat sie sich also bei mir nach Georges Gesundheitszustand erkundigt. Komm einen Moment rein«, sagte sie dann.
»Wo ist Papa George?« fragte ich, als ich ihn nicht auf seinem Lieblingsplatz sitzen sah, einem riesigen Sessel, wo er sonst vor dem Fernseher saß und rauchte. Ehe sie etwas darauf erwidern konnte, hörte ich seinen heiseren Husten aus dem Schlafzimmer dringen.
»Er fühlt sich heute nicht ganz auf der Höhe«, sagte sie. »Der Arzt wollte ihn ins Krankenhaus einliefern, aber du kennst ja Papa George. Er wollte nicht. Wie war das noch mal – wann brecht ihr auf?«
»Heute! Jetzt sofort!«
»Jetzt sofort? Aber sie hat mit keinem Wort erwähnt ... Jetzt sofort?« Diese Feststellung schockierte sie fast so sehr wie mich. Ihre kleinen Hände hoben sich flatternd wie zwei winzige Singvögel, dann schüttelte sie ungläubig den Kopf.
»Sie möchte, daß ihr unsere Sachen für uns aufhebt, bis wir sie uns nachschicken lassen«, erklärte ich.
»Ja, selbstverständlich tun wir das. Ich werde gut auf alles aufpassen. O Melody«, sagte sie, und jetzt flossen tatsächlich Tränen aus ihren Augen. »Wir werden dich vermissen. Du bist die Enkelin, die wir nie gehabt haben, das Kind, das wir nie gehabt haben.«
»Ich will nicht von hier fortgehen«, klagte ich.
»Du mußt mit deiner Mutter gehen, Schätzchen. Sie braucht dich.«
»Sie braucht mich nicht«, sagte ich trotzig. »Sie hat doch schließlich Archie Marlin.«
»Archie Marlin? Oh.« Mißbilligung und Traurigkeit machten sich auf ihrem Gesicht breit, und ihre Augen verfinsterten sich.
»Was geht dort draußen vor?« rief Papa George aus dem Schlafzimmer.
»Du solltest besser zu ihm gehen und dich von ihm verabschieden.« Mir wurde ganz kalt ums Herz, als ich hörte, wie sie diese Worte sagte. Ich ging langsam auf die Schlafzimmertür zu und sah hinein.
Papa George wirkte winzig unter seiner dicken Steppdecke. Nur der Kopf mit dem schlohweißen Haar lugte heraus. Er hustete einen Moment lang fürchterlich und spuckte in einen Metallnapf neben dem Bett. Dann holte er tief Atem und drehte sich zu mir um. »Worüber schwätzt ihr Weibsbilder da draußen?«
»Wir gehen fort von hier, Papa George«, sagte ich.
»Wer geht von hier fort?«
»Mommy und ich… für immer«, sagte ich.
Er starrte mich an, holte noch einmal tief Atem, hustete ein paarmal und setzte sich dann mühsam auf.
»Wohin bringt sie dich?«
»Wir werden die Familie meines Daddys besuchen. Sie lebt in Cape Cod.«
Der alte Mann nickte. »Tja, vielleicht ist das wirklich das Beste. Das kam wohl alles ziemlich plötzlich für dich, was?«
»Ja. Ich habe mich von keiner meiner Freundinnen verabschieden können, und ich bin auch noch nicht auf dem Friedhof gewesen.«
Er dachte einen Moment lang nach und streckte dann die Hand nach seiner Nachttischschublade aus. Er holte etwas heraus und forderte mich mit einer Handbewegung auf näherzukommen.
»Ich möchte dir etwas schenken«, sagte er und reichte mir eine vergoldete Taschenuhr. Ich hatte sie schon ein- oder zweimal gesehen und wußte, daß in den Deckel eingraviert war: Für George O’Neil, für zehn Tonnen Kohle! »Sie geht immer noch auf die Minute pünktlich«, sagte er. Wenn man den Uhrdeckel öffnete, ertönte eine von Papa Georges Lieblingsmelodien, »Beautiful Dreamer«.
»Das kann ich nicht annehmen, Papa George. Ich weiß, wieviel diese Uhr dir bedeutet.«
»Sie wird mir noch mehr bedeuten, wenn ich weiß, daß Chester Logans kleine Tochter sie besitzt, jetzt und für alle Zeiten«, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Ich streckte die Hand aus und schloß sie um die Taschenuhr. »Jetzt weiß ich wenigstens, daß du mich nicht vergessen wirst.«
»O Papa George, ich könnte dich niemals vergessen«, stöhnte ich und schlang meine Arme um seinen Hals. Er fühlte sich so schmächtig an, nur noch Haut und Knochen, und seine Umarmung war kaum zu spüren. Ich war schockiert. Es war, als welkte und schrumpfte er direkt vor meinen Augen.
Er fing wieder an zu husten und schob mich von sich, damit er sich wieder unter die Decke legen konnte. Ich wartete, bis er wieder Luft bekam.
»Schick uns Postkarten«, sagte er.
»Ganz bestimmt. Ich werde euch täglich schreiben.«
Er lachte. »Eine Postkarte ab und zu genügt uns vollauf, Melody. Und vergiß nicht, die Fiedel zu spielen. Ich habe nicht umsonst soviel Zeit damit zugebracht, dir das Spielen beizubringen.«
»Ich werde es ganz bestimmt nicht vergessen.«
»Gut«, sagte er. Er schloß die Augen. »Das ist gut.«
Heiße Tränen strömten über meine Wangen. Der Schmerz ging so tief, daß ich das Gefühl hatte, er würde meine Lunge zerreißen. Als ich mich umdrehte, sah ich Mama Arlene in der Schlafzimmertür stehen, die ebenfalls weinte. Sie streckte die Arme nach mir aus, und wir umarmten uns. Dann folgte sie mir nach draußen.
Mommy und Archie waren gerade damit fertig, das Gepäck in seinen Chevy zu laden. Er schlug den Kofferraum zu und setzte sich hinter das Steuer. Mommy kam auf Mama Arlene zu.
»Ich wußte nicht, daß du schon so bald fortgehen wolltest, Haille.«
»Es hat sich so ergeben, Arlene. Ich nehme an, Melody hat dich schon darum gebeten, nach unseren restlichen Sachen zu sehen, wenn sich das machen ließe.«
»Natürlich werde ich mich darum kümmern.«
»Sowie wir uns erst einmal niedergelassen haben, werde ich arrangieren, daß uns die Dinge, die wir brauchen, nachgeschickt werden. Wo ist George?«
»Er hat sich hingelegt«, sagte sie.
»Ach so.«
Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick miteinander aus, der meine Knie weich werden ließ.
»Ich werde mich bei euch melden, und ab und zu schreibe ich euch ein Kärtchen«, versprach Mommy.
Mir schwirrte der Kopf. Es gab so vieles zu bedenken. »Mama Arlene, ich werde meine Schulbücher auf dem Küchentisch liegen lassen. Ich rufe meine Freundin Alice an, damit sie vorbeikommt und sie abholt. Und auch meine Bücher aus der Leihbücherei, in Ordnung?«
»Ja, selbstverständlich, mein Liebes.«
»Hier sind die Schlüssel zum Wohnwagen.« Mommy reichte sie Mama Arlene, die sie nur widerstrebend entgegennahm. Ihr Blick fiel auf mich, und ihre Lippen zitterten.
»Ich sollte jetzt besser die Bücher auf den Tisch legen, Mommy«, sagte ich.
»Beeil dich. Wir wollen fahren. Wir haben einen weiten Weg vor uns«, sagte sie. »Mach schon. Ich werde mit Arlene hier auf dich warten.«
Ich rannte zum Wohnwagen zurück und trat hinein. Einen Moment lang stand ich einfach nur da und sah mich um. Ja, unsere Unterkunft war wirklich winzig, und unsere Einrichtung war äußerst gewöhnlich, die Teppiche waren abgewetzt, die Vorhänge fadenscheinig und die Tapeten ausgeblichen. Die Wasserhähne tropften, und die Becken hatten Rostflecken am Abfluß. Die Heizung funktionierte nie so, wie sie sollte, und im Sommer war es der reinste Backofen. Wieder und wieder hatte ich mir gewünscht, statt dessen in einem richtigen Haus zu wohnen, und doch war dies hier mein Zuhause gewesen, und jetzt fühlte ich mich, als ließe ich einen armen alten Freund im Stich.
Daddy und ich hatten Tausende von Mahlzeiten in dieser kleinen Eßecke eingenommen. Tausendmal hatte ich mich auf diesem verschlissenen Sofa in seinen Armen zusammengerollt, während wir miteinander fernsahen. Hier hatte ich Kerzen auf vielen Geburtstagskuchen ausgeblasen. In dieser Ecke dort hatten wir unseren kleinen Weihnachtsbaum geschmückt. Obwohl nie sehr viele Geschenke darunter gelegen hatten, war ich immer aufgeregt und sehr gespannt darauf gewesen.
Jetzt mußte ich also Abschied von dem Wohnwagen nehmen, der mein Zuhause gewesen war, Abschied von dem Geräusch des Regens, der auf das Dach trommelte, wenn ich schlief, für die Schule lernte oder meine Mahlzeiten einnahm. Abschied von jedem Quietschen und Ächzen im Wind, von dem seltsamen Stöhnen in den Rohrleitungen, über das Daddy und ich Dutzende von Malen gelacht hatten. Und wie verabschiede ich mich von meinem kleinen Zimmer, meiner ureigenen kleinen Welt? Einst war dies mein Zufluchtsort, und jetzt sah ich es zum letzten Mal.
Ich biß mir auf die Unterlippe und preßte die Handfläche auf mein Herz, das so weh tat, und dann hob ich meine Schulbücher und die Bücher aus der Leihbücherei auf und legte sie auf den Küchentisch.
Archie Marlin drückte auf die Hupe. Ich sah mich noch ein allerletztes Mal um und prägte mir alles ganz genau ein. Archie hupte wieder.
»Auf Wiedersehen«, flüsterte ich dem einzigen Zuhause zu, das ich je gekannt hatte. Ich ging schnell zur Tür hinaus, denn ich fürchtete, wenn ich jetzt noch einmal stehenblieb oder mich umdrehte, würde ich niemals von hier fortgehen können.
»Weshalb hast du so lange gebraucht?« klagte Mommy, die den Kopf zum Fenster herausstreckte.
Ich setzte mich auf den Rücksitz. Er war zur Hälfte mit Kleidern von Mommy bedeckt. Ich verstaute meine Fiedel auf dem Boden vor dem Sitz.
»Paß bloß auf meine Sachen auf«, sagte Mommy.
»Los geht’s.« Archie stieß zurück. Ich preßte das Gesicht an die Fensterscheibe. Mama Arlene stand in der Tür, eine kleine und traurige Gestalt, deren Hand in einem Winken zum Abschied erstarrt war. Tränen ließen alles vor meinen Augen verschwimmen, und einige meiner Tränen liefen an der Scheibe hinunter. Ich lehnte mich zurück, um Atem zu holen, als Archie durch die Einfahrt fuhr und auf die Straße bog.
»Wir halten doch am Friedhof an, nicht wahr, Mommy?«
»Was? Wozu denn das?«
»Um uns von Daddy zu verabschieden«, erwiderte ich mit trauriger Stimme.
»O Melody. Können wir diese Reise denn nicht gutgelaunt antreten?«
»Ich muß mich von Daddy verabschieden!« rief ich aus. »Es muß einfach sein!« Meine Verzweiflung war nicht zu überhören.
Archie sah Mommy an, und sie schüttelte den Kopf.
»Wir kommen ohnehin am Friedhof vorbei«, sagte er.
»Also, ich steige jedenfalls nicht mit dir aus«, sagte Mommy. »Es ist mir unerträglich.«
Archie hielt vor dem Eingang zum Friedhof an. Mommy sagte, es bräche ihr das Herz, wenn er hineinführe. Es erinnerte sie zu sehr an das Begräbnis.
»Wir warten aber nur fünf Minuten auf dich, Melody«, sagte sie zu mir.
»Bist du ganz sicher, daß du nicht mitkommen willst, Mommy?«
Sie starrte mich einen Moment lang an, und in ihren Augen stand echte Traurigkeit. Dann schüttelte sie sanft den Kopf. »Ich habe mich schon vor einer ganzen Weile verabschiedet, Melody. Das mußte ich tun, um weiterzuleben.«
Ich öffnete die Tür, sprang hinaus und rannte den Weg an den Grabsteinen entlang, bis ich Daddys Grab erreicht hatte. Ich ging darauf zu und schlang die Arme um den Grabstein, wie ich sie früher um Daddy geschlungen hatte. Ich preßte meine Wange an den harten Granit und schloß die Augen.
»O Daddy, wir gehen fort, aber ich werde so oft wie möglich zurückkommen. Mommy muß von hier fortgehen. Sie kann nicht länger hier leben. Ich weiß, daß du ihr verzeihen würdest. Du hast ihr ohnehin alles verziehen«, sagte ich, nicht ohne eine gewisse Bitterkeit. »Und ich weiß auch, daß du mir sagen würdest, ich solle ihr eine Hilfe sein, aber ich kann nichts dafür, wie mir zumute ist.«
Ich sank vor dem Grabstein auf die Knie und senkte den Kopf, um ein kurzes Gebet zu sprechen. Dann zupfte ich einen Grashalm aus der Erde des Grabs und verstaute ihn in Papa Georges Taschenuhr. Ich sagte mir, daß ich ihn immer mit mir herumtragen würde. Ich schloß den Uhrdeckel nicht gleich wieder, damit ein paar Töne von »Beautiful Dreamer« zu hören waren. Auch Daddy hatte dieses Lied geliebt.
Mommy und Archie hupten jetzt wieder.
Ich schloß den Uhrdeckel, stand auf und warf einen Blick auf die fernen Berge. Ich sog den Anblick der Bäume und Sträucher in mich auf, um die Erinnerung an diesen Ort unauslöschlich vor meinen Augen zu bewahren, wie ich auch den Grashalm für alle Zeiten in der Taschenuhr aufbewahren würde.
Dann küßte ich Daddys Grabstein und ließ ein paar Tränen darauf zurück, ehe ich mich abwandte. Wortlos stieg ich wieder in den Wagen. Archie und Mommy sahen mich beide an, und dann wendete er den Wagen und bog auf die Straße ein, die uns nach Norden führen würde, in Richtung Richmond.
Mommy jubelte vor Freude, als wir durch die Stadt gefahren waren und das Schild hinter uns zurückgelassen hatten, auf dem stand: Willkommen in Sewell, West Virginia.
»Ich gehe fort!« rief sie aus. »Jetzt ist es wirklich soweit. Meine Zeit im Gefängnis ist vorbei!«
Ich warf einen Blick auf sie und kniff die Augen zusammen. Wie meinte sie das bloß? Ich hätte nachgefragt, wenn meine Brust nicht ganz so sehr geschmerzt hätte. Ich wußte, daß meine Stimme sich überschlagen würde, wenn ich versuchte, auch nur ein Wort herauszubringen.
Archie beschleunigte. Sie schalteten das Radio an und begannen, die Schlagertexte mitzusingen. Mommy drehte sich abrupt zu mir um und sah mich an.
»Ich bitte dich, Melody, freue dich doch endlich einmal über etwas. Sei glücklich, und wenn du es schon nicht um deinetwillen bist, dann sei es wenigstens für mich.«
»Ich werde versuchen, mich für dich zu freuen, Mommy«, flüsterte ich kaum hörbar.
»Das ist gut.«
Die Landschaft rauschte an uns vorbei. Ich achtete kaum darauf, und doch sah ich genug vertrautes Gebiet, das wir endgültig hinter uns ließen, und eine große Traurigkeit erfüllte mich. Ich sah durch das Rückfenster und beobachtete, wie Sewell hinter einem Hügel verschwand, und mit ihm auch der Friedhof, auf dem Daddy ruhte.
Dann drehte ich mich um und richtete den Blick nach vorn. Ich zitterte von Kopf bis Fuß und war nicht weniger verängstigt und verwirrt als ein Neugeborenes, das schreit und um sich tritt, wenn es gewaltsam in die Zukunft hineingezogen wird und ihm vor dem Unbekannten graust.