Читать книгу Das Karussell der Nacht - V.C. Andrews - Страница 5
Prolog
Оглавление»Du mußt dich von der Unschuld lösen«, hatte Mama früher einmal zu mir gesagt, »denn sonst zieht sie dich herab, wenn sie versinkt wie ein morsches altes Langustenfischerboot auf dem Kanal.«
An einem Frühlingsmorgen war ich die Stufen zur Veranda hinaufgerannt, wo sie saß und die Palmhüte flocht, die sie an die Touristen verkaufte. In den Händen hielt ich behutsam einen winzigen toten Blauhäher. Ich glaubte, er sei aus dem Nest gefallen, aber Mama sagte, höchstwahrscheinlich hätte seine Mutter ihn rausgestoßen.
Ich schüttelte den Kopf. Ich war damals erst sieben. Es war mir unvorstellbar, daß eine Mutter eines ihrer Jungen aus dem Nest werfen könnte.
»Nein, Mama. Er muß versucht haben zu fliegen, und dabei ist er runtergefallen«, beharrte ich.
Sie ließ die Palmwedel auf den Schoß sinken und sah mich mit diesem liebevollen, traurigen Ausdruck in ihren dunklen, onyxfarbenen Augen an, der in meine eigenen Augen Tränen treten ließ. Ihr Blick richtete sich auf das Vogelbaby, und dann schüttelte sie den Kopf.
»Er ist noch zu klein, als daß er versucht haben könnte zu fliegen, Gabrielle. Er war schwächlich und wäre ohnehin gestorben. Die Mutter hat gewußt, was das Beste war.«
Auch ich schaute jetzt auf das winzige Geschöpf herunter. Seine Augen waren fest geschlossen, der kleine Schnabel stand einen Spalt weit offen, und die winzigen Klauen waren gekrümmt.
»Wie kann es das Beste sein, das eigene Baby aus dem Nest zu werfen?« fragte ich zornig.
»Sie mußte auch an ihre anderen Babys denken, Gabrielle, mein Schätzchen, kräftige, gesunde Babys, für die sie sorgen mußte und die die Nahrung brauchten, die sie ihnen gebracht hat. Wenn sie zuviel Zeit darauf vergeudet hätte, sich um eines ihrer Jungen zu sorgen, das ohnehin gestorben wäre, dann wäre eines der gesunden krank geworden und gestorben.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte es nicht glauben.
»Das ist keine Entscheidung, an der sie lange herumgrübelt, Gabrielle. Nein, ihr Instinkt sagt es ihr. Sie weiß ganz einfach, was notwendig ist. So kann sie dafür sorgen, daß ihre kräftigen Babys überleben werden und in dem Dschungel, den du so sehr liebst, eine Chance haben.«
»Ist sie jetzt traurig darüber?« fragte ich hoffnungsvoll.
»Vermutlich schon, aber sie kann nichts daran ändern. Verstehst du das?«
»Nein«, sagte ich. »Wenn sie sich mehr angestrengt hätte, dann hätte vielleicht auch dieses Baby überlebt.«
Mama seufzte tief, und das war der Moment, in dem sie auf die Unschuld zu sprechen kam.
Damals wußte ich nicht, was sie meinte. Ich war noch zu klein, um die Welt am Grad ihrer Unschuld zu messen. Für mich war das Aufwachen jeden Morgen noch so wie das Zerreißen von Einwickelpapier, um an die wunderschönen Geschenke heranzukommen, die mich erwarteten, sowie ich mein Frühstück beendet hatte, durch die Tür mit dem Fliegengitter hinausrannte, die Stufen hinuntersprang, die zu unserer Veranda führten, und um die Hausecke herum in den Sumpf lief, zu den zahllosen Wasserläufen und all meinen Tieren. Krankheit und Tod, Brutalität und Grausamkeit war der Zutritt zu dieser Welt verwehrt. Wenn etwas starb, dann deshalb, weil seine rechte Zeit gekommen war. Die Hoffnung kämpfte in meinem Innern um ihr Überleben.
»Kannst du das kleine Vögelchen nicht wieder zum Leben erwecken, Mama?« fragte ich. »Kannst du ihm nicht mit einer Pipette einen Kräutertrunk einflößen oder es mit einem Zauberpulver bestreuen? Das kannst du doch sicher tun?«
Mama war Traiteur, eine Heilerin, deren Hände magische Dinge vollbringen konnten. Ihre Kenntnisse waren von ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter an sie weitergereicht worden. Sie sog das Feuer aus Verbrennungen, blies einem Kind Rauch ins Ohr und vertrieb den Schmerz, legte alten Leuten warme Palmwedel auf und verhalf ihnen dazu, daß sie wieder aufstehen und laufen und die Arme frei bewegen konnten. Böse Geister fürchteten sich vor ihr. Sie konnte die Stufen eines Hauses mit Weihwasser besprengen und den Teufel von dort fernhalten. Gewiß konnte sie einem so kleinen Geschöpf wie dem Vögelchen in meinen Händen neues Leben einflößen.
»Nein, mein Schätzchen, ich kann die Toten nicht zurückholen«, sagte sie zu mir. »Wenn man erst einmal durch diese Tür gegangen ist, schließt sie sich für immer und ewig hinter einem.« Als sie die Enttäuschung in meinem Gesicht sah, fügte sie jedoch noch hinzu: »Aber dieses kleines Vögelchen wird in einer besseren Welt heranwachsen.«
Wie konnte es eine bessere Welt geben? fragte ich mich trotz allem. Meine Welt war voller Farben und voller Sonnenschein, voller wunderschöner Blumen, die wunderbar dufteten, voller prächtiger Vögel, die so leicht und mühelos wie Träume durch die Luft schwebten, voller köstlicher Gerichte, die Mama zubereitete, und sie war auch voller weißer Wolken, die meine Phantasie in Kamele, Wale oder sogar Zuckerwatte verwandelte.
»Was hast du denn da, Gabrielle?« fragte Daddy, als er aus der Hütte kam, die er kurz vor meiner Geburt für uns gebaut hatte. Trotz der frühen Morgenstunde hielt er eine Bierflasche in der Hand. Manchmal war Bier das einzige, was er zum Frühstück zu sich nahm. Sein dunkelbraunes Haar war ungebürstet, und die langen Strähnen, die ihm in die Stirn hingen, waren gerade so weit gescheitelt, daß seine schönen smaragdgrünen Augen hindurchlugen konnten. Er trug nur seine Hose, weder Hemd noch Schuhe. Von seinem Nabel zog sich ein schmaler Streifen krauses braunes Haar bis auf seine Brust und weitete sich dort zu einer dichten V-förmigen Matte aus. Mein Daddy war groß und stark und hatte lange Arme, deren Muskeln spielten, wenn er schwere Dinge zog oder hochhob. Mama hatte mir einmal von seinem Ringkampf mit einem Alligator erzählt, den er unternommen hatte, weil zwei Dollar darauf gewettet worden waren. Sie sagte, daran könnte man gut erkennen, wie dumm er sei, aber ich fand, das hieße nur, er sei der stärkste Daddy auf Erden.
»Ein totes Blauhäherjunges«, antwortete Mama an meiner Stelle. »So?« sagte er. »Und was hast du jetzt damit vor, Gabrielle? Willst du es ins Gumbo werfen?«
»Jack!«
Daddy lachte.
»Ich wollte, daß Mama es wieder lebendig macht«, erklärte ich. »Sie hat gesagt, seine Mutter hätte es aus dem Nest gestoßen.«
»Ja, höchstwahrscheinlich«, sagte Daddy. Er saugte am Hals der Bierflasche, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab wie ein winziger Gummiball, als er den Inhalt in seine Kehle schüttete. »Wirf es am besten einfach weg«, sagte Daddy.
Ich sah Mama voller Entsetzen an.
»Warum begräbst du es nicht hinter dem Haus, Gabrielle«, schlug sie behutsam vor.
»Ja. Vielleicht könnten wir sogar einen Gottesdienst abhalten«, sagte Daddy und lachte.
»Könnten wir das tun, Mama?«
Daddy hörte auf zu lachen.
»Hör mal, Kind, das ist doch nur ein toter Vogel. Das ist doch kein Mensch.«
Für mich machte das keinen Unterschied. Etwas Schönes und Liebenswertes war tot.
»Ich werde für dich ein paar Worte am Grab sprechen«, erbot sich Mama.
»Das muß ich sehen«, sagte Daddy.
»Mach dich nicht lustig über das Kind, Jack.«
»Warum denn nicht? Eines Tages muß sie erwachsen werden. Warum also nicht heute?« Er deutete mit seinem langen Zeigefinger auf mich. »Und überhaupt solltest du dort oben sitzen und deiner Mama dabei helfen, diese Hüte zu flechten, damit ihr sie verkaufen könnt, statt deine Zeit damit zu verbringen, durch die Gegend zu laufen«, schalt er mich aus. Dann räumte er ein: »Hier gibt es Schlangen und Insekten, Schnappschildkröten und Alligatoren.«
»Das weiß ich, Daddy«, sagte ich lächelnd. »Heute morgen bin ich schon auf eine Schlange getreten.«
»Was? Wie hat sie ausgesehen?«
Ich beschrieb es ihm.
»Das ist eine verdammte Wassermokassinschlange. Die sind höllisch giftig. Du kannst nicht draufgetreten sein, denn sonst wärest du jetzt so tot wie dieser Vogel in deiner Hand.«
»Doch, Daddy, ich bin draufgetreten, und dann habe ich gesagt: Entschuldigen Sie, bitte, Herr Schlange.«
»Ach, und daraufhin hat die Schlange vermutlich nur genickt und gesagt: Schon gut, Gabrielle, was?«
»Sie hat mich angesehen und ist dann wieder eingeschlafen«, sagte ich.
»Himmel, hörst du, was für Geschichten sie erzählt, Catherine?«
»Ich glaube ihr, Jack. Die Tiere dort draußen mögen sie. Sie haben ein ganz besonderes Verhältnis zu ihr, weil sie wissen, wie es in ihrem Herzen aussieht.«
»Was? Wie kannst du dieses dumme Geschwätz glauben, diesen Voodoozauber der Cajuns, Catherine Landry? Und jetzt hast du das Kind auch schon so weit gebracht, daß es Unsinn plappert.«
»Das ist kein Unsinn«, sagte sie. »Und schon gar kein dummes Geschwätz.« Sie stand auf. »Komm mit, Gabrielle. Ich helfe dir dabei, deinen Vogel zu begraben«, sagte sie. »Vielleicht sollte man das arme Geschöpf lieber bemitleiden«, sagte sie und warf Daddy einen wütenden Blick über die Schulter zu.
»Mach schon. Vergeude deine Zeit damit, dir Sorgen um einen toten Vogel zu machen. Du wirst schon sehen, ob mir das etwas ausmacht«, sagte Daddy und trank wieder einen großen Schluck von seinem Bier. Dann warf er die leere Flasche in die Regentonne. »Ich fahre in die Stadt«, rief er uns nach. »Uns ist schon wieder das Bier ausgegangen.«
»Du bist arbeitslos, Jack Landry. Deshalb ist uns das Bier ausgegangen.«
»Pah«, sagte er und winkte uns nach. Dann ging er wieder in die Hütte.
Mama holte den Spaten und hob für das Vögelchen eine kleine Grube unter einem Pecanobaum aus, weil sie fand, dort hätte es immer einen kühlen und schattigen Platz. Ich legte den kleinen Vogel behutsam hinein, und dann bedeckte ihn Mama mit Erde. Sie sagte mir, ich solle als Grabstein einen kleinen Stock in den Boden stecken. Dann senkte sie den Kopf und nahm mich an der Hand. Auch ich neigte den Kopf.
»Gott, erbarme dich der unschuldigen Seele, die vor dich tritt«, sagte sie und bekreuzigte sich. Ich tat es ihr nach.
Wir sagten beide: »Amen.«
Als wir gerade wieder aufblickten, sah ich, wie ein Blauhäher durch die Zypressen flitzte und in Richtung Graveyard Lake verschwand, ein kleines Brackwasser im Sumpf, das Daddy so getauft hatte, weil dort eine ganze Reihe von moosbewachsenen toten Zypressen auf dem Wasser trieb. Mamas Augen folgten meinem Blick. Sie seufzte. Sie hielt mich immer noch an der Hand, aber wir machten uns noch nicht auf den Rückweg zur Veranda und der Arbeit, die getan werden mußte.
»Es ist sehr schwer, eine Mutter zu sein, Gabrielle. Jede Mutter hat es schwer«, sagte sie. »Man bringt nicht nur ein Baby zur Welt. Gleichzeitig gebiert man Kummer und Sorge, Hoffnung und Freude, Tränen und Gelächter.«
»Ich würde niemals eines meiner Babys verstoßen«, gelobte ich, denn es widerstrebte mir, mich von dieser Unschuld zu lösen, von der Mama fürchtete, sie könne mich mit sich auf den Grund hinabziehen.
»Ich hoffe, du wirst dir über so etwas nie Gedanken machen müssen, mein Schätzchen, aber falls es doch soweit kommen sollte, dann denk an den Blaureiher und triff die Entscheidung, die für dein Kind die beste ist und nicht für dich.«
Ich blickte zu ihr auf und starrte sie an. Mama war ein Quell der Weisheit, doch für den größten Teil ihres Wissens fehlte es mir bei weitem noch an Jahren. Sie hatte jedoch die Augen einer Wahrsagerin. Sie konnte in das Dunkel der Zukunft schauen und manche Dinge sehen, die später einmal eintreffen würden.
Ich erschauerte ein wenig, obwohl es ein warmer Frühlingstag war. Mama blickte tief in den Sumpf hinein und darüber hinaus, und das, was sie sah, brachte sie dazu, meine Hand noch fester zu halten.
Und dann stimmte ein Blauhäher, von dem ich mir einbildete, es sei die Mutter, sein eigenes Klagelied an, als hätte er alles gehört und gesehen. Mama lächelte mich an.
»Deine Freundin bedankt sich bei dir«, sagte sie. »Komm mit. Hilf mir ein wenig beim Flechten.«
Wir wandten uns ab, und nervös, aber doch mit einem Gefühl von Sicherheit an Mamas Seite, lief ich mit kleinen Schritten dem Morgen entgegen.