Читать книгу Das Karussell der Nacht - V.C. Andrews - Страница 7
2.
Das verlorene Paradies
ОглавлениеIch war ganz sicher, daß Mama nur deshalb am nächsten Morgen nichts merkte und nicht wahrnahm, daß mich etwas Ernsthaftes bedrückte, weil Daddy die ganze Nacht über nicht nach Hause gekommen war. Mama war lange fort gewesen, um Mrs. LaFourche zu behandeln, von der sie glaubte, sie hätte Krabben gegessen, die nicht mehr gut waren, und daher war Mama ziemlich müde und ohnehin gereizt. Sie stand mit der Erwartung auf, Daddy entweder auf der Veranda oder auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers vorzufinden, aber es war nirgends etwas von ihm zu sehen.
Mama fiel nicht auf, daß ich kaum etwas zum Frühstück aß, und sie merkte auch nicht, daß ich schweigsam und müde war. Ich hatte mich die ganze Nacht über von einer Seite auf die andere gewälzt und war die meiste Zeit von einem Alptraum in den nächsten geglitten. Aber Mama tobte und wütete vor sich hin, brachte die altbekannten Klagen über Daddy vor und kritisierte nicht nur sein übermäßiges Trinken und sein Spielen, sondern auch seine Faulheit.
»Die Landrys waren alle faul«, predigte sie und kehrte damit zu einem alten Thema zurück. »Es liegt ihnen im Blut. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, was aus deinem Vater werden würde. Oh ja, am Anfang hat er mich damit bezaubert, daß er dieses Haus gebaut und eine Zeitlang hart gearbeitet hat, aber er hat mich nur auf die gleiche Art reingelegt, wie die Landrys ihre Frauen schon immer reingelegt haben, damit er mir für den Rest meines Lebens immer wieder vorhalten kann, wieviel er bereits für mich getan hat.
»Als könnte man auf die Minute pünktlich von neun bis fünf ein Ehemann und ein Vater sein«, klagte sie. »Eine Mutter und eine Ehefrau zu sein, ist dagegen ein Vierundzwanzigstundenjob, und das sieben Tage in der Woche. So sehen das die Landrys.
»Ehe du einmal jemanden heiratest, Gabrielle, wirst du verlangen, daß er dir seinen Grandpère vorstellt, und falls seine Grandmère noch am Leben ist, wirst du mit ihr reden und dich gründlich von ihr über seine Unsitten aufklären lassen, hörst du?« warnte sie mich.
»Ja. Mama.« Endlich nahm sie Notiz von mir, aber sie schrieb meine äußere Erscheinung anderen Gründen zu.
»Sieh dich nur an«, bemerkte sie, »so nervös wie ein Küken, das gerade erst ausgeschlüpft ist, und dabei sind es noch zwei Tage bis zu deiner Abschlußfeier.«
»Mir fehlt nichts, Mama.«
»Ich kann es kaum erwarten, daß sie dir dieses Zeugnis aushändigen.«
Sie strahlte, und ihr wutentbranntes Gesicht verlor seine Röte, als sie strahlte.
»Du bist die erste Landry, die ihren Hochschulabschluß macht, ist dir das überhaupt klar?« fragte sie. Daddy hatte mir nichts davon erzählt, aber sie hatte es schon ein paarmal in seiner Gegenwart gesagt, nämlich dann, wenn sie so manches, was er tat, auf das Blut seiner Familie schob.
»Ja, Mama.«
»Gut. Du solltest stolz sein, nicht nervös. Tja, wir werden uns wohl etwas für eine kleine Feier hinterher einfallen lassen müssen, meinst du nicht auch?«
»Nein, Mama. Ich will keine Party.«
»Natürlich willst du feiern. Aber gewiß doch«, sagte sie und nickte, um sich selbst davon zu überzeugen. »Ich werde zwei Truthähne braten, und ich glaube, ich werde Louisianajams mit einer Apfelfüllung zubereiten. Ich weiß doch, wie gern du das magst. Natürlich gibt es auch gefüllte Krebse und Langusten in Sauce Mornay mit rotem und grünem Reis. Ich werde Knoblauchpaste anrühren. Außerdem brauche ich Kekse und, laß mich schnell nachdenken, zum Nachtisch sollten wir Lebkuchen backen, eine meiner Mokkatorten und vielleicht Karamelecken.«
»Mama, wenn du das tust, hättest du bis zur Abschlußfeier den ganzen Tag und die ganze Nacht zu tun.«
»Na und? Wie oft werde ich schon eine Schulabschlußfeier für meine Tochter veranstalten?« sagte sie.
»Aber wir haben doch gar nicht das Geld dafür, oder?«
»Ich habe noch eine kleine Reserve, die deinem Daddy nicht in die Hände gefallen ist«, sagte sie und zwinkerte mir zu.
»Du solltest das Geld für etwas Wichtigeres aufheben, Mama.«
»Deine Abschlußfeier ist mir wichtig«, beharrte sie. »Und jetzt sei still und geh in die Schule. Geh schon«, sagte sie und stieß mich liebevoll zur Tür. »Und mach dir bloß keine Sorgen darüber, wie hart ich arbeite oder wieviel Geld ich ausgebe. Ich muß genau das tun, was mir Spaß macht, was mich glücklich macht und was mich mit Stolz erfüllt. Vor allem jetzt«, fügte sie hinzu, und ihre Miene verfinsterte sich, als sie an Daddy dachte.
Ich schüttelte den Kopf. Wenn Mama sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es nichts, was ich hätte tun oder sagen können, um es ihr auszureden. Daddy sagte, sie besäße die Sturheit der Cajuns und könnte mit ihren Blicken einen Orkan einschüchtern, wenn sie es gewollt hätte.
»Ich komme so schnell wie möglich nach Haus, damit ich dir helfen kann«, sagte ich.
»Das kommt gar nicht in Frage. Du wirst genau das tun, was alle anderen Mädchen auch tun. Mach dir Sorgen wegen der Abschlußfeier und nicht meinetwegen«, sagte sie.
Als ich aus dem Haus ging, hatte ich immer noch das Gefühl, als hinge eine schwarze Wolke über mir, die die Vorfälle des Vortags hatten aufziehen lassen. Ich fühlte aber auch die Aufregung, die mit dem Schulabschluß einherging. In der ganzen Schule wurde über nichts anderes geredet. Im Klassenzimmer ging es so laut und hektisch zu, daß wir wie ein Hof voller gackernder Hennen klingen mußten. Unsere Lehrer gaben es auf, uns etwas vermitteln zu wollen, was auch nur im entferntesten mit Bildung zu tun hatte.
Am Nachmittag gingen sie mit uns auf den Hof neben dem Schulgebäude, auf dem eine improvisierte Bühne errichtet worden war, damit wir das Abschlußzeremoniell proben konnten. Für Mrs. Parlange, die Sekretärin, war ein Klavier ins Freie gekarrt worden, damit sie die Prozessionshymne spielen konnte. Mr. Pitot, unser Rektor, würde sie auf dem Akkordeon begleiten. Gemeinsam mit Mr. Ternant, der Gesang, Sport und Mathematik unterrichtete und die Geige spielte, würde Mrs. Pitot ein paar Cajunmelodien spielen, um das Publikum zu unterhalten, das aus Großeltern, Eltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten und Freunden bestand, ehe die Reden gehalten und die Abschlußzeugnisse verteilt wurden. Mr. Ternant war für den Ablauf des Zeremoniells verantwortlich, und er reihte uns nach unserer Körpergröße auf. Er studierte die Kopfhaltung mit uns ein, wie wir laufen sollten und wie wir uns auf der Bühne anständig hinsetzten.
»Ich will nicht sehen, daß einer von euch die Beine übereinanderschlägt. Und kein Kaugummi, habt ihr gehört? Ihr werdet alle still dasitzen, den Blick starr vor euch hin richten und einen würdigen Eindruck vermitteln. Jeder einzelne von euch ist ein Vertreter dieser Schule«, predigte er. Bobby Slater machte ein Geräusch mit den Lippen, als würde er eine Kaugummiblase platzen lassen. Viele von uns lächelten, aber niemand wagte es, laut zu lachen. Mr. Ternant sah uns einen Moment lang finster an. Dann erklärte er uns, was wir zu tun hatten, wenn wir aufgerufen wurden.
»Ich will, daß ihr das Zeugnis in diese Hand nehmt«, sagte er und führte es uns vor, »und dann ein paar Schritte weitergeht, um euch hier die Hände drücken zu lassen.«
Er wollte, daß wir uns anschließend dem Publikum zuwandten und eine knappe Verbeugung machten, ehe wir ohne Umwege zu unseren Plätzen zurückkehrten.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und ich hörte mir all diese Vorschriften sorgsam an, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab und kehrten zu dem Vorfall am Teich zurück. Yvette und Evelyn waren zu sehr mit sich selbst und mit ihren anderen Freundinnen beschäftigt, um zu bemerken, wie abgelenkt ich war. Ich wußte, daß alle, denen meine Geistesabwesenheit auffiel, doch nur glaubten, das sei eine typische Bekundung meines Desinteresses an den Dingen, die die anderen interessierten. So war es aber nicht. Ich wäre gern so aufgeregt gewesen wie alle anderen auch; ich wäre gern so jung, so albern und so glücklich wie die anderen gewesen. Aber immer wieder zog Mr. Tates Gesicht vor meinem geistigen Auge vorüber, nur wenige Zentimeter von meinem eigenen Gesicht entfernt, und dann schnappte ich nach Luft und stöhnte leise in mich hinein.
Auf dem Heimweg verhielt ich mich sehr still. Yvette und Evelyn dagegen waren gesprächiger denn je. Ein trister Halbschatten hatte mein gesamtes Wesen durchdrungen, aber selbst dann, wenn ich etwas hätte sagen wollen, hätte ich gar keine Gelegenheit gehabt, auch nur ein Wort einzuwerfen. Erst als wir die Stelle erreicht hatten, an der sich unsere Wege trennten, nahmen sie Notiz von mir.
»Was ist denn heute los mit dir?« fragte Yvette. »Hast du Lampenfieber?«
»Ein bißchen«, sagte ich. Den wahren Grund für meine Melancholie hätte ich ihnen nie nennen können.
»Also, ich sage dir, wenn du demnächst heiraten würdest, dann wärst du jetzt nicht so nervös«, bemerkte Evelyn pampig. »Was wirst du übermorgen tun? Willst du etwa an deinem Straßenstand sitzen und darauf warten, daß ein schöner Prinz vorbeigeritten kommt?«
Yvette lachte.
»Ja«, sagte ich lächelnd. »Genau das werde ich tun.«
»In dieser Gegend wirst du alt, ehe dein schöner Prinz vorbeikommt«, sagte Yvette.
Die beiden sahen einander auf eine Weise an, die mir sagte, daß sie sich ausführlich über mich unterhalten hatten.
»Machst du dir denn noch nicht einmal Gedanken darüber, wie es wäre, mit einem Mann zusammenzusein?« fragte Evelyn und warf Yvette einen verstohlenen Blick zu.
»Doch, natürlich«, sagte ich, wenn auch mit wenig Begeisterung.
»Du sagst nie etwas dazu, wenn wir darüber reden«, sagte Yvette jetzt. »Wir wissen, daß du noch nie geküßt worden bist«, fügte sie hinzu und sah Evelyn an, die lächelte. »Ganz zu schweigen davon, daß ein Mann dich ... berührt hätte.« Sie kicherten.
»Ihr beide wißt nicht alles über mich«, sagte ich, doch mein Tonfall klang traurig und unglückselig. Einen Moment lang schwand das Lächeln von ihren Gesichtern. Yvettes Augen wurden so klein wie Zehncentstücke und funkelten argwöhnisch.
»Was hast du vor uns geheimgehalten?« fragte Yvette. »Besucht dich jemand in den Sümpfen?«
Ich wurde rot.
»Jemand hat sie besucht!« behauptete Evelyn. »Sieh sie dir doch nur an.«
»Nein.« Schmetterlinge schlugen in meinem Magen hektisch mit den Flügeln, da ich in Panik geriet.
»Wer war es?«
»Was hast du getan, Gabrielle Landry?«
»Wir erzählen dir immer alles, was wir tun«, sagte Yvette verdrossen.
»Es ist nichts. Ich habe nichts getan«, beharrte ich.
Sie lachten.
»Du lügst.«
»Du solltest es uns lieber erzählen, Gabrielle Landry, denn sonst ...«
»Denn sonst werden wir selbst etwas erfinden und es morgen vor der Abschlußfeier allen erzählen«, kündigte Evelyn an. Yvette nickte und freute sich über diesen Einfall. »Wir werden behaupten, du hättest uns dieses Geheimnis anvertraut. Und alle werden uns glauben, weil sie wissen, daß wir miteinander befreundet sind und jeden Tag auf dem Heimweg von der Schule miteinander reden.«
»Richtig«, sagte Yvette. »Wenn wir es beide beeiden, wird uns jeder glauben.«
»Aber es gibt nichts zu erzählen. Ich ...«
»Ja?« fragte Yvette. Sie stemmte die Arme in die Hüften. Evelyn starrte mich erwartungsvoll an. Ich holte tief Atem. Wenn sie morgen Gerüchte über mich verbreiteten, konnten sie Mama die Abschlußfeier verderben.
»Also, gut, ich werde es euch erzählen, aber ihr müßt mir schwören, daß ihr es für euch behaltet.«
»Wir schwören es«, sagte Yvette.
»Bei Sankt Medad. Schwört es mir bei Sankt Medad.«
Sie taten es und bekreuzigten sich.
»Also, was ist?« sagte Evelyn.
»Manchmal stake ich nachmittags meine Piragua tief in den Sumpf hinein zu einem kleinen Teich, den ich gefunden habe. Außer mir geht dort niemand hin. Ich ziehe meine Kleider aus und schwimme.«
»Nackt?« fragte Yvette und riß die Augen weit auf. Ich nickte. Sie rückten näher zu mir.
»Was ist passiert?« fragte Evelyn atemlos.
»Eines Nachmittags vor etwa einer Woche haben ich mich gerade am Teich gesonnt, als dieser gutaussehende junge Mann seine Piragua auf den Teich gestakt hat. Ich habe ihn nicht kommen hören.«
Yvettes Unterkiefer fiel herunter.
»Du warst nackt, als er dort aufgetaucht ist?« fragte Evelyn. Ich nickte. Sie hielten den Atem an.
»Als ich die Augen aufgeschlagen habe, stand er da und hat lächelnd auf mich heruntergesehen. Ich war natürlich schrecklich verlegen und habe schnell nach meinem Kleid gegriffen. Aber er ...«
»Ja, was?«
»Hat sich draufgesetzt.«
»Nein!«
»Was hast du getan?« fragte Evelyn.
»Ich habe gesagt: Bitte, Monsieur, Sie haben sich mir gegenüber einen unfairen Vorteil verschafft. Er hat mir zugestimmt.«
»Und dir dein Kleid gegeben?«
»Nein. Er hat sich ausgezogen, damit er auch nackt ist.«
»Du lügst«, sagte Evelyn.
»Ihr habt mich aufgefordert, euch die Geschichte zu erzählen. Ihr habt geschworen, sie für euch zu behalten. Jetzt erzähle ich euch alles, und ihr beschimpft mich als eine Lügnerin«, sagte ich. »Ich habe mich an meinen Teil der Abmachungen gehalten.« Ich wollte mich abwenden.
»Ich glaube dir«, rief Yvette eilig aus. »Erzähl uns, wie es weitergegangen ist.«
Ich zögerte.
»Also, gut. Ich glaube dir auch«, erbarmte sich Evelyn. »Erzähl weiter.«
»Er war sehr zuvorkommend. Wir haben uns höflich miteinander unterhalten. Er hatte tiefblaue Augen, so blau wie ich es niemals zuvor gesehen habe. Ich glaube, mit diesen Augen hat er mich hypnotisiert. Ich bin sogar ganz sicher, daß es so gewesen ist.«
»Was soll das heißen?«
»Das nächste, was ich weiß, ist, daß er mich geküßt hat.«
»Und er hat dich berührt?«
»Überall«, sagte ich. »Ich konnte ihm nicht widerstehen.
»Und dann?« fragte Yvette ungeduldig.
»Ich weiß es nicht. Ich bin ... wieder zu mir gekommen, und er war fort.«
»Fort?« Evelyn schnitt eine Grimasse der Enttäuschung. »Das mußt du geträumt haben. Du hast es dir alles nur eingebildet«, fügte sie verächtlich hinzu.
»Nein, ich weiß, daß es kein Traum war. Er hat eine wunderschöne rote Rose neben mir liegen lassen.«
»Eine rote Rose? Im Sumpf?« fragte Evelyn hämisch.
»Das hat mir bewiesen, daß es kein Traum war.«
Die beiden musterten mich einen Moment lang schweigend.
»Also, gut. Was hast du dann getan?« fragte Yvette.
»Ich hatte solche Angst, daß ich mich angezogen habe und so schnell wie möglich nach Hause gestakt bin. Ich habe es meiner Mutter erzählt.«
»Wirklich? Alles?«
»Ja, natürlich.«
Evelyn war beeindruckt. »Was hat sie dazu gesagt?«
»Sie hat mich aufgefordert, ihr den jungen Mann zu beschreiben, und nachdem ich das getan habe, hat sie sich hingesetzt, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nie zuvor an ihr gesehen habe. Sie hat lange Zeit geschwiegen. Schließlich habe ich sie dann gefragt, was los ist, und sie hat mir die Geschichte von dem jungen Fischer erzählt, der als der schönste junge Mann im ganzen Bayou galt. Sie hat gesagt, junge Frauen fielen bei seinem Anblick in Ohnmacht, aber sie hat auch gesagt, er sähe besser aus, als es einem Mann anstünde, und das wüßte er. Niemand sonst sei so arrogant, was sein Aussehen anginge. Eines Tages ist er zum Fischen in die Sümpfe gestakt und nie mehr zurückgekehrt.«
»Willst du damit etwa sagen, deine Mutter hätte behauptet, der Mann, der dich geküßt hat, sei ein Geist gewesen?« fragte Yvette.
Ich nickte.
»Deshalb habe ich ihn auch nicht kommen hören. Ich glaube, er ist durch die Luft geglitten.«
Einen Moment lang sagten Yvette und Evelyn kein Wort.
»Ist er dir wie ein Geist vorgekommen, als er dich geküßt hat?« erkundigte sich Evelyn skeptisch.
»Nein. Er ist mir lebendig vorgekommen, sogar sehr lebendig.«
»Hast du ihn jemals wiedergesehen?«
»Nein, aber manchmal habe ich das Gefühl, seine Gegenwart zu spüren.«
»Du stakst immer noch allein in den Sumpf?« fragte Yvette ungläubig.
»Ja. Er hat mir nichts Böses getan. Mama sagt, er sei eine einsame Seele, die dafür bestraft wird, daß sie zuviel Ähnlichkeit mit einem griechischen Gott hat. Die Geschichte, die sie von ihrer Grandmère gehört hat, endet so, daß er an dem Tag, an dem er jemanden findet, der seine Herzensgüte erkennen kann und ihn dafür und nicht für sein gutes Aussehen liebt, in die Welt der Lebenden zurückkehren und sein Leben leben kann, aber ...«
»Aber was?« fragte Evelyn.
»Ja, aber was?« fiel Yvette ein.
»Aber diejenige, die ihn deshalb liebt, wird sterben und seinen Platz im Sumpf einnehmen. Es ist wie eine Art Austausch von Seelen für eine befristete Zeit.«
»Wie furchtbar.«
»Und gefährlich«, sagte Yvette. »Du solltest dich lieber nicht mehr so oft allein in den Sumpf wagen.«
»Das tue ich auch nicht mehr«, sagte ich. »Jedenfalls nicht mehr so oft.«
»Ich weiß nicht, ob das zählt«, wandte Evelyn ein, nachdem sie eine Zeitlang nachgedacht hatte. »Von einem Geist geküßt zu werden ist nicht dasselbe, wie von einem lebendigen Mann geküßt zu werden.«
»Woher willst du das wissen?« sagte Yvette. »Nur Gabrielle kann es mit Sicherheit sagen.«
»Als es dazu gekommen ist, war es ein wunderbares Gefühl«, erwiderte ich. »Und jetzt denkt daran. Ihr habt bei Sankt Medad geschworen, und wenn ihr diesen Schwur brecht, könnte das euren Ehemännern Pech bringen.«
Sie rissen die Augen weit auf. Die Tochter einer Heilerin besaß eine gewisse Glaubwürdigkeit, wenn es um solche Dinge ging.
»Ich werde es niemals jemandem erzählen«, sagte Yvette.
»Ich auch nicht.«
»Ich muß mich jetzt auf den Weg machen. Wir sehen uns dann morgen.«
»Oui. Bis Morgen«, sagte Evelyn.
Ich sah ihnen nach, als sie eilig losliefen, und dann nahm ich meinen Weg wieder auf. In meinem tiefsten Herzen wünschte ich, was mir gestern zugestoßen war, wäre das gewesen, was ich den beiden gerade geschildert hatte. Ich hatte die Geschichte frei erfunden, und zumindest eine Zeitlang würde ich sie dazu verwenden, die häßliche Wahrheit zu verschleiern.
Als ich nach Hause kam, bestätigten sich meine Befürchtungen, und Mama tat, was sie gelobt hatte: Sie schuftete am Herd und verließ keinen Moment lang die Küche, um die Vorbereitungen für mein Fest zum Schulabschluß zu treffen. Sie berichtete mir, sie hätte bereits ein Dutzend ihrer Freundinnen und einige ihrer Patienten verständigt.
»Einige von ihnen haben angeboten, auch etwas zu kochen und zu backen. Das wird eine großartige Party werden, mein Schätzchen. Wir werden Musik und Unmengen von leckeren Speisen haben.«
»Ich wünschte, du würdest dir nicht soviel Mühe machen, Mama.«
»Fang bloß nicht wieder davon an«, erwiderte sie, und stürzte sich wieder in ihre Arbeit, um bloß nicht nachzudenken und in Wut zu geraten. Als ich sah, daß ich sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen konnte, bot ich meine Hilfe an, doch sie erlaubte mir nicht, auch nur einen Finger zu rühren.
»Das ist deine Party. Du hast sie dir verdient und sollst nichts anders als deinen Spaß haben«, beharrte sie. Ich konnte nicht untätig dastehen und ihr bei der Arbeit zusehen, und daher ging ich zu unserem Anlegesteg, setzte mich darauf und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Ich hielt Ausschau und hoffte nur, ich würde Daddy sehen, wie er seine Piragua nach Hause stakte. Er kam jedoch nicht zurück. Beim Abendessen murmelte Mama gräßliche Dinge vor sich hin.
»Dieser Mann ist verkommen, ein schäbiges, verlottertes Subjekt. Nichts wird ihn jemals ändern. Er wird uns allen noch den Tod bringen. In Wahrheit hoffe ich, daß er nie mehr nach Hause kommt«, behauptete sie, aber ich wußte, daß ihr sein Verschwinden das Herz brach. Nach dem Abendessen setzte sie sich auf ihren Schaukelstuhl auf der Veranda, schaute in die Dunkelheit hinaus und wartete darauf, daß einer dieser Schatten Daddys Gestalt annahm.
Ich gab meinem Kleid für die Abschlußfeier den letzten Schliff und zog es dann an, um es Mama vorzuführen. Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
»Du bist so schön, Gabrielle.
»O Mama, ich bin nicht schön. Und außerdem hast du mir unzählige Male gesagt, Stolz sei eine Sünde.«
»Du brauchst es nicht gleich zu übertreiben und dich in dich selbst verlieben, aber du kannst dankbar dafür sein und dich darüber freuen, daß du mit einer solchen natürlichen Schönheit gesegnet bist. Du verstehst das nicht«, fügte sie hinzu, als ich die Augen niederschlug und errötete. »Du versöhnst mich mit meinem Leben. Wenn ich dich ansehe, dann habe ich das Gefühl, daß meine Ehe mit diesem Halunken, den wir deinen Daddy nennen, wenigstens etwas Gutes hervorgebracht hat.«
Ich blickte abrupt auf. »Er versucht doch, sich zu bessern, oder etwa nicht, Mama? Er macht sich ernstliche Gedanken darüber.«
»Das einzige, was ich ihm zugute halten kann, mein Schätzchen, ist, daß das, was er tut, nicht in seiner Macht steht. Es liegt ihm im Blut. Die Landrys sind wahrscheinlich direkte Nachfahren von Kain.« Sie seufzte. »Ich kann niemand anderem als mir selbst die Schuld an meiner Misere zuschieben«, sagte sie. »Aber wenn das schlechte Blut der Landrys sich derart durchsetzen kann, werde ich dann nicht auch ein schlechter Mensch werden, Mama?« fragte ich ängstlich.
»Nein«, sagte sie eilig. »In dir fließt auch mein Blut, oder etwa nicht?«
»Doch, Mama.«
»Also, mein Blut siegt sogar gegen das schändliche Blut der Landrys.« Sie nahm meine Hände in ihre und zog mich näher, damit sie mir tief in die Augen sehen konnte. »Wenn du auf schlechte Gedanken kommst, dann brauchst du bloß an mich zu denken, Schätzchen, und mein Blut wird herangeströmt kommen, um diese Gefühle zu überschwemmen und sie zu ertränken. Wenn das nicht klappt ...«
»Ja, Mama?«
»Dann sind deine Gedanken vielleicht gar nicht so schlecht«, sagte sie. Dann holte sie tief Atem, als hätte dieser Ratschlag ihr die letzten Energien geraubt, die ihr nach einem so harten Arbeitstag in der Küche noch geblieben waren. Sie hatte nicht nur gekocht und gebacken, sondern auch das ganze Haus geputzt, damit es morgen den bestmöglichen Eindruck auf unsere Gäste machte.
»Du bist müde, Mama. Du solltest schlafen gehen.«
»Oui. Das sollte ich tatsächlich tun«, gestand sie ein. Sie seufzte, schaute einen Moment lang in die Dunkelheit hinaus, ließ ihre Blicke auf der Suche nach Daddy über die Schatten gleiten und erhob sich dann mit großer Mühe. Wir gingen gemeinsam in die Hütte und stiegen die Treppenstufen hinauf.
»Heute abend gehst du zum letzten Mal als kleines Mädchen schlafen«, sagte Mama zu mir, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte. Sie blieb noch ein Weilchen auf dem Fußende meines Bettes sitzen. »Morgen machst du deinen Schulabschluß. Jetzt bist du eine junge Frau.« Sie begann, ein Cajunschlaflied zu summen, das sie mir früher oft vorgesungen hatte, als ich noch ein kleines Mädchen war.
»Mama?«
»Ja, Schatz?«
»Hast du andere Freunde gehabt, ehe du Daddy begegnet bist?«
»Ich hatte eine Reihe junger Männer, die mir auf den Fersen waren«, sagte sie lächelnd. »Mein Vater hat sie wie die Fliegen verscheucht.«
»Aber ... ist einer von ihnen dein fester Freund gewesen?«
»Oh, ich hatte meine kleinen Abenteuer.«
»Hast du ...«
»Habe ich was, Schätzchen?«
»Hast du dich von diesen anderen Jungen küssen lassen und andere Dinge mit ihnen getan?«
»Was soll diese Frage, Garielle?« sagte sie und zog die Schultern hoch. Auf ihrem Gesicht stand jedoch weiterhin der Anflug eines Lächelns.
»Ich habe mich nur gefragt, ob es natürlich ist, daß solche Dinge vorkommen.«
»Küsse und andere Dinge sind ganz natürlich, wenn du das meinst, aber du mußt immer daran denken, was meine Grandmère mir schon gesagt hat: ›Der Sex, Catherine‹, hat sie immer wieder gesagt, ›ist nichts weiter als eine kleine List der Natur, um die beiden Menschen zusammenzubringen, die richtig füreinander sind.‹«
»Was ist, wenn Leute, die nicht richtig füreinander sind, Sex miteinander haben?« verfolgte ich das Thema mit leiser Stimme weiter, denn ich fürchtete, wenn ich zu laut geredet hätte oder meine Fragen zu schnell herausgesprudelt hätte, wäre dieser magische Augenblick, in dem Mama bereit war, mir intime Dinge zu erzählen, wie eine Seifenblase geplatzt und unwiderruflich verlorengegangen.
»Dann ist es nichts weiter als bloßer Sex. Es kann sein, daß man sich während dessen wohl fühlt, aber hinterher«, sagte sie mit finsterer Miene, »haben alle Beteiligten das Gefühl, eine kleine Kostbarkeit verloren zu haben, einen kleinen Teil ihrer selbst. Ich glaube jedenfalls fest daran. Vermutlich«, fügte sie hinzu und zog die rechte Augenbraue hoch, »würden deine Freundinnen darüber lachen, n’est-ce pas?«
»Ich weiß es nicht, Mama. Mir ist gleich, was sie denken.«
Sie starrte mich einen Moment lang an. »Du willst mir doch etwas erzählen, Gabrielle, etwas, was an dir nagt?«
Die Worte lagen schon auf meiner Zungenspitze, doch ich schluckte sie runter.
»Nein, Mama. Ich habe mich nur gefragt, wie das wohl ist. Das ist alles.«
Sie nickte. »Das ist ganz natürlich. Verlaß dich auf deine Instinkte«, sagte sie. »Deine Instinkte sind gut ausgeprägt. Und jetzt wünsche ich dir eine gute Nacht«, sagte sie und beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Ich hielt sie einen Moment länger als sonst fest, und Mama zog die Augenbrauen wieder hoch. Ihre Augen waren klein und durchdringend.
»Ich bin immer bereit, dir zuzuhören und dir zu helfen, Liebling. Vergiß das nie«, sagte sie.
»Ich weiß, Mama. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte sie und stand auf, obwohl ich spürte, daß sie gern geblieben wäre, bis ich ihr erzählte, was sich hinter meinen dunklen Augen verbarg.
Ich dachte über Mamas Worte nach und fragte mich, welchen Teil meiner selbst ich wohl im Sumpf zurückgelassen hatte. Meine Sorgen bewirkten, daß sich etwas Hartes und Schweres in meiner Brust breitmachte und sie schmerzen ließ. Ich preßte meine Handflächen unter dem Kinn zusammen, schloß die Augen und betete.
»Bitte, lieber Gott«, murmelte ich, »vergib mir, wenn ich etwas getan habe, was dazu geführt hat, daß mir diese Abscheulichkeit zugestoßen ist.«
Ich bemühte mich, diese gräßlichen Gefühle abzuschütteln. Vor Müdigkeit schloß ich meine Augen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen, und ich warf mich von einer Seite auf die andere. Die zu erwartende Spannung des morgigen Tages, mein Kummer über das, was mir zugestoßen war, und meine Sorge um Daddy und um Mama hielten mich bis in die frühen Morgenstunden hellwach. Die Sonne verlieh dem noch dunklen Himmel schon einen rötlichen Schieferton, als ich endlich in Tiefschlaf versank. Ich wurde wach, als Mama am Bett rüttelte.
»Gabrielle, du darfst heute morgen nicht verschlafen!« sagte sie lachend.
»Oh. Oh, wie spät ist es?« Ich sah auf die Uhr und sprang aus dem Bett.
Heute würden wir unsere Abschlußzeugnisse in Empfang nehmen, unsere Schulbücher abgeben und uns für immer von der Schule verabschieden.
»Geh zur Regentonne und wasch dir den Schlaf aus dem Gesicht«, ordnete Mama an. »Bis dahin ist dein Frühstück fertig.«
»Ist Daddy zurückgekommen?« fragte ich.
»Nein. Wenn er zu Hause wäre, hättest du seine Fahne schon gerochen«, behauptete sie und ging, um Frühstück zu machen. Ich wusch mir das Gesicht mit Regenwasser, bürstete mir das Haar und zog mich an. Mama murmelte vor sich hin, was sie alles noch zu tun hatte, um meine Abschlußfeier vorzubereiten. Ab und zu unterbrach sie ihre Ausführungen, um sich bitterlich über Daddy zu beklagen.
»Ich kann ihm nur raten, heute zurückzukommen und sich für die Feier ordentlich herzurichten«, drohte sie.
»Er kommt bestimmt, Mama. Ich bin ganz sicher.«
»Du vertraust allem und jedem«, sagte Mama. »Du würdest sogar einer Schnappschildkröte eine zweite Chance geben.«
Ich konnte nichts dafür. Gerade heute, an diesem einen Tag, wollte ich bewußt nur an schöne Dinge denken und mich freuen.
In der Schule herrschte große Aufregung: Sturzbäche von Gelächter, eine Sintflut von Gekicher und Regenschauer des Lächelns prasselten auf uns herunter, und unsere Herzen polterten wie Donnerschläge. In den Klassenzimmern trat erst Ruhe ein, als Mr. Pitot seine Runde drehte. Alle saßen mit gefalteten Händen und steifem Rücken da, wie man es uns eingetrichtert hatte, den Blick starr nach vorn gerichtet. Einige Stühle quietschten.
Mr. Pitot gratulierte uns zu einem gelungenen Jahr und lobte die Schüler, die gute Noten bekommen hatten und sich nie schlecht benahmen. Er schärfte uns noch einmal ein, uns während des Zeremoniells gut zu benehmen.
»Wir werden die Öffentlichkeit zu Gast haben. Eltern, Familienangehörige und Freunde, sie alle werden ihre Blicke auf euch richten, auf uns alle. Es ist unsere Pflicht, uns von unserer besten Seite zu zeigen.«
Ich drehte mich um und sah, wie Jacques Bascomb die Zunge unter die Oberlippe zwängte, um Ähnlichkeit mit einem Affen aufzuweisen. Bei einigen der Jungen in meiner Klasse fiel es mir schwer zu glauben, daß sie in weniger als einem Jahr arbeiten und Familien gründen würden.
Die Schule endete früh, damit wir alle nach Hause gehen und uns für die Abschlußfeier umziehen konnten. Als ich nach Hause kam und Mama dabei antraf, Tische für unsere Gäste nach draußen zu tragen, wußte ich, daß Daddy immer noch nicht zurückgekommen war.
»Mama, die Tische sind zu schwer für dich. Du kannst sie nicht allein ins Freie tragen«, klagte ich.
»Schon gut, Schätzchen. Wenn einem vor Glück das Herz überläuft, dann scheut man keine Mühe.«
»Aber hinterher wirst du es in den Knochen spüren«, schalt ich sie aus.
»Hat man so was schon mal gehört«, sagte sie und richtete sich auf, um die Arme in ihre schmalen Hüften zu stemmen. »Sie hat gerade erst die Schule abgeschlossen, und schon kommandiert sie einen herum.«
»Ich kommandiere dich nicht herum. Ich bin nur vernünftig, Mama.«
»Ich weiß, mein Schatz. In Ordnung. Ich werde warten, bis Hilfe kommt, ehe ich schwere Möbelstücke trage. Das verspreche ich dir«, sagte sie. Ich hoffte nur, daß sie ihr Versprechen wirklich halten würde. Ich konnte sehen, daß ihre Handflächen schon vom Heben der Tische und Stühle gerötet waren. Wo steckte bloß Daddy? Wie konnte er derart rücksichtslos sein?
Ich ging ins Haus, und nachdem ich das Krabbensandwich, das Mama mir zum Mittagessen vorbereitet hatte, halb aufgegessen hatte, zog ich mein Kleid an und frisierte mich noch einmal. Dann ging ich vor die Tür, setzte mich auf die Veranda und wartete darauf, daß die Zeit verging, während ich hoffte, mein Daddy käme zurück, würde sich überschwenglich entschuldigen und versessen darauf sein, alles zu tun, damit dies einer der glücklichsten Tage in unser aller Leben wurde.
Er kam nicht.
Mama zog ihr bestes Kleid an, bürstete sich das Haar und steckte es auf. Wir trödelten herum und warteten so lange, wie es nur irgend ging. Schließlich stürmte sie dann mit wutentbranntem Gesicht aus dem Haus, und ihre Augen waren bereit, sich in Daddys Augen zu brennen und seine Seele in Flammen zu setzen.
»Laß uns gehen, Schätzchen. Wir wollen nicht zu spät kommen«, sagte sie.
Ich erwähnte Daddy mit keinem Wort. Wir machten uns zu zweit auf den Weg. Als wir uns den Thibodeauxs und den Livaudis’ anschlossen, fragten sie nach Daddy.
»Er wird zu den Festlichkeiten erscheinen. Wir treffen uns dort mit ihm«, sagte Mama, aber niemandem konnten die Schatten entgehen, die sich herabgesenkt hatten und Mamas Glück trübten. Niemand fragte sie nach den Gründen. Alle sahen einander an und kannten die Antwort ohnehin.
Als wir eintrafen, hatte sich in der Schule bereits eine große Menschenmenge versammelt. Yvette, Evelyn und ich eilten in das Gebäude, um uns umzuziehen und unsere Plätze einzunehmen. Mr. Ternant war so nervös wie ein graues Eichhörnchen, während er im Korridor auf und ab lief und immer wieder dieselben Anweisungen wiederholte. Er nickte heftig mit dem Kopf, und seine Hände flatterten wie zwei freilaufende Hühner, die ein Fuchs in Angst und Schrecken versetzt hatte. Endlich hörten wir die ersten Töne, die Mrs. Parlange auf dem Klavier spielte, und dann konnten wir Mr. Pitots Akkordeon vernehmen. Alle verstummten.
»Achtung«, sagte Mr. Ternant und hob die rechte Hand wie ein General, der seine Truppen in die Schlacht führt. Die Prozessionshymne erklang, und er senkte den Arm und wies mit den Fingern vor sich hin. »Los geht’s!«
Wir fielen in Gleichschritt und begaben uns im Gänsemarsch zur Bühne. Es schien heller denn je zu sein, und die Sonnenstrahlen wurden von jeder glatten Oberfläche zurückgeworfen. Elternteile und Familienangehörige verrenkten sich die Hälse wie Reiher. Kameras klickten, Babys weinten. Ich warf einen Blick auf Mrs. Parlange und sah, daß sie das Klavier so spielte, als säße sie in einem Konzertsaal. Sie schaute weder nach links, noch nach rechts.
Erstaunlicherweise schlängelten wir uns alle ohne Zwischenfälle durch die Sitzreihen und hatten ordnungsgemäß unsere Plätze eingenommen, als die Prozessionshymne endete. Nachdem wir alle Platz genommen hatten, betrat Mr. Pitot die Bühne, auf der sich bereits die Würdenträger versammelt hatten. Er musterte uns und nickte dann zufrieden, ehe er ans Mikrofon trat. Jetzt würde das Zeremoniell zu meinem Schulabschluß beginnen.
Ich suchte das Publikum nach Mama ab, bis ich sie entdeckt hatte. Sie hatte einen Platz neben sich freigehalten, doch dieser Platz war leer. Traurigkeit machte sich in mir breit. Wie konnte Daddy meiner Abschlußfeier fernbleiben? Bitte, bitte, lieber Gott, betete ich, laß ihn noch erscheinen.
Dann glitten meine Blicke weiter nach rechts, und ich sah Monsieur Tate. Er saß in der ersten Reihe neben seiner Frau. Sein Blick war auf mich gerichtet, und seine Lippen waren fest zusammengekniffen. Dieser unerwartete Anblick ließ mein Herz dreimal so schnell schlagen und verschlug mir den Atem. Ich warf einen Blick auf Gladys Tate, weil ich sehen wollte, ob ihr auffiel, wie er mich anstarrte, aber sie wirkte äußerst gelangweilt.
Sie war jedoch sehr elegant gekleidet und hatte eine modische Frisur, und sie trug Perlenohrringe und eine Perlenkette um den Hals. Gladys Tate zählte zu den attraktiveren Frauen in unserer Stadt. Sie hatte eine königliche Haltung, und in ihrem Gang und ihrer Sprache drückte sich eine gewisse Überlegenheit aus.
Ich wandte eilig den Blick ab, schloß die Augen und hielt den Atem an.
Nachdem Mr. Pitot und Mrs. Parlange zwei Stücke gespielt hatten, kehrte Mr. Pitot auf die Bühne zurück und hielt eine kleine Rede, in der es darum ging, daß wir alle zu einem der bedeutendsten Zeitpunkte in der Geschichte der Menschheit unseren Schulabschluß machten. Er sagte, sowie der Krieg endete, sei es unsere Aufgabe, das Land wiederaufzubauen, und da so viele junge Männer fern der Heimat oder gefallen waren, trügen wir eine entsprechend größere Verantwortung. Seine Worte erschreckten mich ein wenig und flößten mir Schuldbewußtsein wußtsein ein, weil ich nicht mehr mit meinem Leben anfing. Vielleicht hätte ich Krankenschwester werden sollen, überlegte ich mir.
Nachdem Mr. Pitot seine Rede beendet hatte, betrat Theresa Rousseau, die dazu auserwählt worden war, die Festrede zu halten, das Podium und hielt ihre Ansprache, gefolgt von Jane Crump, einer Musterschülerin, die nicht einen einzigen Tag lang gefehlt hatte und auch in keiner Klassenarbeit weniger als fünfundneunzig von hundert Punkten bekommen hatte. Sie war ein kleines, rundliches Mädchen mit Brillengläsern, die so dick waren, daß sie Glotzaugen zu haben schien, aber ihr Vater war Bankdirektor, und alle rechneten damit, daß er einen passenden Ehemann für sie finden würde, nachdem sie das College besucht hatte, um selbst Lehrerin zu werden.
Dann war es endlich an der Zeit, die Abschlußzeugnisse zu verteilen. Ich hatte dagesessen und meine Hände ineinander verschlungen, und ich fürchtete mich davor, Mama anzusehen, aber noch mehr graute mir davor, den Blick nach rechts zu wenden und Mr. und Mrs. Tate zu sehen. Als ich Mama dann doch ansah, machte mein Herz einen Freudensprung.
Daddy saß neben ihr, mit nassem Haar, das er ordentlich gebürstet hatte, und er trug sein bestes Hemd und seine beste Hose. Er hatte sich sogar rasiert. Mama lächelte jedoch nicht. Daddy strahlte über das ganze Gesicht und winkte mir so überschwenglich zu, daß ich zurückwinken mußte, damit er aufhörte und Mama nicht noch mehr in Verlegenheit brachte. Mr. Pitot begann, die Namen der Schulabgänger aufzurufen. Wieder schlug mein Herz schneller. Ich glaubte, meine Knie würden bestimmt butterweich werden, wenn ich aufstand, und ich würde auf der Bühne zu Boden sinken.
»Gabrielle Landry«, rief Mr. Pitot.
Ich erhob mich und wußte, daß alle Blicke auf mich gerichtet waren, die Augen von Mamas Freundinnen und von Leuten, die sie respektierten und eine hohe Meinung von ihr hatten, die Augen derer, die glaubten, ich sei La Fille au Naturel, aber auch die Augen von Octavius Tate. Gegen meinen Willen schaute ich in seine Richtung. Auf seinen Lippen stand ein gepreßtes Lächeln. Gladys Tate schaute nicht ohne ein gewisses Interesse zu mir auf.
Als ich gerade die Hand nach meinem Abschlußzeugnis ausstreckte, sprang Daddy im Publikum auf und schrie.
«Das ist meine Tochter, die erste Landry, die einen Schulabschluß macht! Halleluja!«
Schallendes Gelächter ertönte. Ich spürte, wie mir der Magen in die Knie sank. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Mama an Daddys Hemd zog, damit er sich wieder hinsetzte. Tränen verschleierten meine Sicht. Ich nahm eilig mein Zeugnis entgegen und rannte von der Bühne und in das Schulgebäude, um vor den lachenden Augen aller zu fliehen. Ich hätte meinen Platz wieder einnehmen und gemeinsam mit meiner Klasse abtreten sollen, aber ich brachte es einfach nicht fertig, und das lag nicht nur an Daddys stürmischem Ausbruch.
Monsieur Tates Augen hatten sich durch mein Kleid gebohrt. Ich war mir mitten auf der Bühne nackt vorgekommen, nackt und geschändet. Ich hatte das Gefühl gehabt, ganz Houma könnte sehen, was mir zugestoßen war. Ich rannte durch den Korridor in die Mädchentoilette, und dort setzte ich mich auf einen geschlossenen Toilettendeckel und weinte mit dem Zeugnis in den Händen. Wenige Momente später kam Mrs. Parlange, die mir nachgelaufen war, ins Bad gerannt.
»Was soll das, Gabrielle? Mr. Ternant steht da draußen, und ist völlig sprachlos. Du solltest deinen Platz wieder einnehmen und gemeinsam mit deiner Klasse von der Bühne abtreten. Das hast du doch gewußt, Gabrielle. Warum weinst du?« fragte sie dann, als hätte sie gerade erst die Augen aufgemacht und mich zum ersten Mal gesehen.
»Ich kann nicht auf die Bühne zurückgehen, Mrs. Parlange. Ich kann es beim besten Willen nicht. Es tut mir leid. Ich werde mich später bei Mr. Ternant entschuldigen.«
»Ach, du meine Güte. Meine Güte«, sagte sie und fächelte sich mit der rechten Hand Luft ins Gesicht. Bestürzung drückte sich in ihren Zügen aus. »So etwas ist bisher noch nie passiert. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.«
»Es tut mir leid«, wimmerte ich.
»Ja, also, ja ...« sagte sie und entfernte sich auf Zehenspitzen.
Ich unterdrückte das Schluchzen und fühlte mich, als hätte ich diesen bodenlosen Quell der Tränen ausgeschöpft. Dann holte ich tief Atem und sah mir mein Zeugnis an. Wie stolz Mama auf mich war und wie elend sie sich in diesem Augenblick doch fühlen mußte, dachte ich. Ich saß da und war nicht sicher, was ich als nächstes tun sollte. Endlich hörte mein Herz auf zu rasen, und ich stand auf. Als ich mich im Spiegel anschaute, sah ich ein gerötetes Gesicht mit den deutlichen Spuren getrockneter Tränen. Ich wusch mir das Gesicht, trocknete es ab, holte noch einmal tief Atem und trat in dem Moment ins Freie, in dem die Prozessionshymne für den Abmarsch der Schüler von der Bühne begann. Ich stand in der Tür, als die ersten das Haus betraten.
»Was ist denn mit dir los?« fragte Yvette barsch.
»Du hast unsere ganze Klasse lächerlich gemacht«, sagte Evelyn. »Was war denn los? Hast du etwa deinen Freund, den Geist, gesehen?«
»Was für einen Geist?« fragte Patti Arnot, woraufhin sich eilig ein halbes Dutzend Mädchen um uns drängte.
»Das mußt du sie schon selbst fragen« sagte Evelyn. »Ich finde, sie hat sich abscheulich benommen.«
»Das finde ich auch«, sagte Yvette.
Es war, als hätte ich von einer Minute zur nächsten die Masern bekommen. Alle hielten sich von mir fern. Ich zog mich in eine Ecke zurück und hatte mich gerade umgezogen, als Mr. Ternant auf der Suche nach mir hereinkam.
»Du hast die Schule abgeschlossen«, sagte er zornig, ehe ich dazu kam, mich zu entschuldigen, »und daher kann ich dich nicht mehr bestrafen, dich nachsitzen lassen oder dich die Tafeln schrubben lassen, bis deine Finger sich blau verfärben, aber das, was du dort draußen getan hast, war für uns alle peinlich.«
»Es tut mir leid, Sir«, sagte ich und schlug die Augen nieder.
»Wie konntest du so etwas bloß tun?«
Ich erwiderte nichts darauf, sondern sagte nur noch einmal:
»Es tut mir leid.«
»Ich kann nicht gerade sagen, du hättest dein Erwachsenendasein vielversprechend angetreten. Das nehme ich jetzt an mich«, sagte er und packte die Schachtel, die mein Kleid und mein Barett enthielt. »Wer weiß, was du als nächstes anstellen wirst, und diese Dinge sind kostspielig.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging. Alle, die ihn gehört hatten, schauten mich finster an. Ich war auf der ganzen Linie geschlagen.
Ich wandte den Blick ab und lief auf den Ausgang zu.
»Sie hätte ihren Abschluß im Sumpf machen sollen, mit ihren Freunden, den Tieren, und nicht mit uns«, rief jemand, und alle lachten. Ich tauchte aus dem Gelächter auf wie jemand, der in einem schlammigen Pfuhl versinkt, und als ich nach draußen eilte, fand ich Mama, die mich besorgt erwartete. Daddy stand weiter rechts und schrie jemanden an, der eine Bemerkung über mich gemacht hatte.
»Es tut mir leid, Mama«, sagte ich, ehe sie mich fragen konnte, warum ich von der Bühne gerannt war.
»Es ist schon gut, Schätzchen. Laß uns gehen, ehe dein Vater wieder verhaftet wird. Jack!« rief sie. Er hörte auf zu schreien, hatte die Faust jedoch noch erhoben, als er uns ansah. Dann warf er einen finsteren Blick auf den Mann, mit dem er sich gerade stritt.
»Sie können von Glück sagen, daß ich jetzt gehen muß«, zischte er.
Als er sich uns anschloß, wurde mir schnell klar, warum Mama mit grauem Gesicht neben ihm gesessen hatte. Trotz seines gepflegten Äußeren stank er nach Whiskey.
»Warum bist du einfach weggerannt, Gabrielle?« fragte er mich. »Hier glauben manche Leute, du seist so verrückt wie ein tollwütiger Hund.«
»Was glaubst du wohl, warum sie von der Bühne gerannt ist?« fauchte Mama. »So, wie du dich benommen hast. Einfach laut loszuschreien! Alle haben dich ausgelacht.«
»Ist das der Grund dafür? Ich war doch nur stolz, das ist alles. Darf ein Mann denn nicht einmal mehr stolz auf seine Tochter sein?«
»Stolz ist Stolz, und Narretei ist Narretei«, erwiderte Mama daraufhin.
»Pah, wen stört schon, was diese Spießer denken. Du hast großartig ausgesehen, Gabrielle. Und jetzt laßt uns feiern gehen.«
»Ich dachte mir schon, daß du rechtzeitig zum Feiern nach Hause kommst, Jack Landry«, sagte Mama.
»Hör auf, mir Vorwürfe zu machen, Frau. Die Geduld eines Mannes hat Grenzen. Wenn du so weitermachst, explodiere ich.«
Mama bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Er wandte eilig die Augen ab und lief hinter uns her, als wir uns auf den Heimweg machten, um die Party zu feiern, für die Mama sämtliche Vorbereitungen allein getroffen hatte.
Es kamen weniger Leute zu Besuch, als Mama erwartet hatte, und keine meiner Mitschülerinnen erschien. Ich wußte, daß das an meinem Benehmen lag, und mir war gräßlich zumute, aber Mama dachte gar nicht daran, sich entmutigen zu lassen, und sie wollte auch kein einziges trauriges Gesicht um sich dulden. Ihr Essen und die Gerichte, die ihre Freundinnen mitbrachten, schmeckten wunderbar. Für die Männer und vor allem Daddy gab es jede Menge selbstgebrannten Whiskey zu trinken. Die Brüder Rice sorgten für die Musik. Sie spielten Geige, Akkordeon und Waschbrett. Die Leute tanzten und aßen bis lange nach Einbruch der Dunkelheit. Jedesmal, wenn jemand gehen wollte, sprang Daddy auf, packte denjenigen am Ellbogen und drängte ihn, doch noch ein wenig zu bleiben.
»Die Nacht ist jung«, behauptete er. »Wir haben noch jede Menge zu trinken und zu essen. Laissez les bons temps rouler! Wir wollen es uns gutgehen lassen.«
Nie hatte ich ihn so aufgeregt und so glücklich erlebt. Er tanzte einen Jig nach dem anderen, zerrte Mama auf die Füße, um mit ihr den Twostep zu tanzen, vollführte Purzelbäume und Handstände und forderte jeden der anwesenden Männer zum indianischen Ringkampf auf.
Die Leute aßen mit Genuß ihre Teller leer. Die Frauen halfen Mama beim Abspülen. Niemand sprach mich darauf an, was sich bei der Abschlußfeier abgespielt hatte, aber die meisten hatten den einen oder anderen Ratschlag für mich, als sie mich beglückwünschten.
»Laß dir bloß Zeit mit dem Heiraten. Hauptsache, du heiratest den richtigen Mann.«
»Du solltest dir überlegen, ob du vielleicht eine Stellung in der Konservenfabrik annehmen möchtest.«
»Wenn ich in deinem Alter wäre, würde ich nach New Orleans gehen und mir Arbeit suchen, oder ich würde versuchen, einen Job auf einem Dampfer zu bekommen.«
»Gründe eine Familie und zieh deine Kinder groß, solange du jung bist, damit du noch nicht zu alt bist, um das Leben zu genießen, wenn deine Kinder aus dem Haus gehen.«
Ich bedankte mich bei allen. Daddy trank sich bewußtlos und schlief in der Hängematte ein. Sein Arm hing über den Rand, und er schnarchte so laut, daß wir ihn im Haus hören konnten. »Ich lasse ihn dort draußen liegen«, sagte Mama zu ihren Freundinnen. »Das wäre nicht das erste Mal. Und es wird auch bestimmt nicht das letzte Mal sein.«
Sie nickten und machten sich auf den Heimweg. Als alle gegangen waren, setzte ich mich noch eine Zeitlang mit Mama auf die Veranda. Daddy fällte in seiner Hängematte immer noch Bäume.
»Das war eine wundervolle Party, Mama. Aber du bist jetzt völlig erschöpft.«
»Diese Form von Erschöpfung tut gut. Wenn man jemandem einen Liebesdienst tut, spielt es keine Rolle, wie müde man hinterher ist, Schätzchen. Die Freude lindert den Schmerz und läßt einen ruhig schlafen. Es ist nur ein Jammer, daß dein Vater im Whiskeyrausch zu deiner Abschlußfeier erschienen ist und dich derart in Verlegenheit gebracht hat. Es hat mir fast das Herz gebrochen, als ich gesehen habe, wie du von der Bühne gerannt bist.«
»Es tut mir leid, daß ich das getan habe, Mama.«
»Es ist schon gut. Die meisten Leute verstehen das.«
Ich verspürte einen übermäßigen Drang, ihr zu erklären, daß nicht nur Daddys Benehmen schuld daran gewesen war. Als erstes würde ich ihr erzählen, wie Monsieur Tates Blicke auf mir geruht hatten, und dann ...
Aber ich brachte es einfach nicht fertig, die Worte vom Grund der Truhe holen, in der ich sie begraben hatte.
Mama stand auf, warf einen kurzen Blick auf Daddy, schüttelte den Kopf und wollte ins Haus gehen.
»Kommst du mit ins Haus, Gabrielle?«
»Ich komme gleich nach, Mama.«
»Glaube bloß nicht, du seist nicht erschöpft, Schätzchen«, warnte sie mich.
»Oh, doch, ich weiß genau, daß ich erschöpft bin, Mama.«
Sie lächelte, und wir umarmten einander.
»Ich bin verflixt stolz auf dich, mein Süßes. Verflixt stolz.«
»Danke, Mama.«
Sie ging ins Haus, und ich stieg die Stufen hinunter und lief zum Anlegesteg. Ich zog meine Mokassins aus, um meine Füße ins Wasser zu tauchen, und dort saß ich eine Zeitlang und lauschte den Zikaden und dem gelegentlichen Schrei einer Eule. Von Zeit zu Zeit hörte ich ein Plätschern und sah, wie der Mondschein auf dem Rücken eines Alligators schimmerte, der über die ölige Wasseroberfläche glitt und in den Schatten verschwand.
Ich starrte in den Sumpf und richtete meine Augen auf die tintenschwarze Dunkelheit, und dann wünschte ich mir so sehr, ihn zu sehen, daß ich ihn schließlich wirklich zu sehen glaubte ... den gutaussehenden jungen Cajungeist. Er schwebte über dem Wasser und lockte mich, wollte mich in Versuchung führen, ihm zu folgen.
Falls es tatsächlich einen gutaussehenden jungen Mann gab, der durch die Sümpfe spukte, dachte ich, dann konnte ich diese schreckliche Geschichte vergessen, die mir zugestoßen war. Ich wäre sogar bereit gewesen, mich in ihn zu verlieben, wie ich es Yvette und Evelyn geschildert hatte, und meine Seele gegen seine einzutauschen. Lieber wollte ich ein Geist sein, der durch die Ewigkeit schwebte, als eine geschändete junge Frau im Hier und Jetzt, dachte ich.
Sein Lächeln verblaßte in der Dunkelheit und wurde zu einem Schwarm von Glühwürmchen, die wie verrückt umeinander herumtanzten.
Der gesamte Zauber dieses Tages löste sich in Luft auf. Die Sterne schienen zurückzuweichen, und dunkle Wolken schoben sich unter Wolken mit silbernen Rändern heraus und verjagten den Mond.
Ich seufzte, stand auf und lief zum Haus zurück, aber nicht etwa von Hoffnung und Träumen für die Zukunft erfüllt, wie es hätte sein sollen, sondern niedergedrückt und von Grauen vor den künftigen Zeiten durchdrungen.
Besaß ich etwa ein wenig von Mamas Hellsicht? Ich hoffte, daß es nicht so war. Ich hoffte, daß ich nur müde war.