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Eine andere Welt

Eine der größten Ängste von uns Waisenkindern ist es, sich in einer Familie nicht an deren Lebensstil anpassen zu können. Wir wissen nicht, wie wir uns am Esstisch benehmen sollen, wie wir uns gegenüber den Verwandten verhalten sollen, wie wir unser Zimmer in Ordnung halten und unsere Zeit verbringen müssen. Kurzum, wir wissen nicht, wie wir unseren neuen Eltern gefallen. Für uns ist es immer wie eine Prüfung. Wir spüren, dass ihre Blicke uns überall hin folgen, hören ihr Getuschel, fragen uns, was sie wirklich denken. Sind sie glücklich darüber, dass wir Teil ihres Lebens geworden sind, oder tut es ihnen leid und suchen sie nach einem eleganten Weg, uns zurückzugeben?

Es war leicht, sich an das Leben meiner neuen Eltern anzupassen, zu wissen, was sie erwarteten, mochten und ablehnten. Karl hatte überhaupt nichts Unberechenbares an sich. Er war der bestorganisierte Mensch, den ich je kennen gelernt hatte. Jeden Morgen, sonntags wie werktags, stand er zur selben Zeit auf.

»Menschen, die am Wochenende länger schlafen, begehen einen Fehler«, erklärte er mir. »Dadurch verwirren sie nur ihre innere Uhr.«

Er aß auch jeden Tag das Gleiche zum Frühstück, eine Mischung aus verschiedenen Zerealien, bei denen der korrekte Anteil von Ballaststoffen und Getreide mit Früchten vermengt war. Am Wochenende machte er sich aus Eiweiß, das Eigelb warf er weg, ein Omelett, oder er verzehrte Haferflocken mit Rosinen. Obwohl er stämmig war, achtete er sehr auf seine Ernährung und erwartete dasselbe auch von mir.

Sport betrieb er jedoch nicht. Zwar gab er zu, dass dies ein Fehler sei, tat aber wenig, um das zu ändern. Allerdings hatte er einen Heimtrainer gekauft, nachdem er monatelang Modelle und Preise verglichen hatte. Als ich eine Bemerkung machte, wie brandneu das Gerät aussähe, gestand er, dass er noch einen Plan ausarbeiten müsste, um es regelmäßig zu benutzen.

»Vielleicht achte ich jetzt, wo du da bist und mich daran erinnern kannst, mehr auf solche Dinge«, meinte er.

Ich glaube nicht, dass er es nötig hatte, von irgendjemandem an irgendetwas erinnert zu werden. Alle seine Sachen waren wohl geordnet und inventarisiert. Er wusste genau, wie viele Paar Socken er besaß, wie viele weiße Oberhemden, wie viele Hosen und Jacketts, wie viele Krawatten. Er konnte mir sogar sagen, wie viel jedes Teil gekostet hatte. Noch eindrucksvoller war, dass er genau wusste, wie oft er jedes Teil getragen hatte, und angeben konnte, wann etwas gereinigt oder gebügelt werden musste. Er wartete seine Kleidung wie andere Menschen ihr Auto. Wenn etwas eine bestimmte Zahl von Malen getragen, gereinigt oder gewaschen worden war, kam es in einen Sack mit der Aufschrift »Kleiderspenden«.

Dieses durchorganisierte, reglementierte Leben setzte sich den ganzen Tag hindurch fort: Stets aß er abends zur selben Zeit, sah seine Nachrichtensendung im Fernsehen, las seine Zeitungen und Zeitschriften und ging jeden Abend genau um zehn Uhr zu Bett, auch am Wochenende – es sei denn, sie gingen abends aus.

Wenn Thelma ins Kino wollte, durchforstete Karl zunächst die Filmkritiken und berichtete ihr dann, ob ein Kinobesuch Geldverschwendung sei oder nicht. Wenn er nicht ganz von einem Film überzeugt war, schlug er ihr vor, die Matinee zu besuchen, weil dabei der Preis reduziert und das Risiko somit nicht so hoch war.

»Gleichgewicht, Crystal«, erklärte er. »Das Gleichgewicht zu bewahren macht das Leben wirklich behaglich. Guthaben auf der einen Seite, Schulden auf der anderen. Alles was du tust, jeder, den du triffst, hat Pluspunkte und Nachteile. Bringe sie in Erfahrung, und du weißt, was du tun musst.«

Oft hielt er mir solche Vorträge, und ich hörte ihm respektvoll zu, auch wenn ich häufig den Eindruck hatte, er sei davon geradezu besessen. Ich fand, nicht alles im Leben ließe sich als Gewinn-und-Verlust-Rechnung darstellen.

Auf gewisse Weise war Thelmas Leben fast genauso reglementiert und organisiert wie das ihres Mannes. Ihres wurde allerdings bestimmt von den Sendeterminen ihrer Seifenopern und sonstigen Lieblingsprogramme. Wenn sie aus irgendeinem Grund im Laufe des Tages das Haus verließ, legte sie ihre Termine und Besorgungen entsprechend dem Fernsehprogramm. Obwohl sie Sendungen ja auch mit dem Videorecorder aufzeichnen konnte, war das ihrer Meinung nach nicht dasselbe, wie live dabei zu sein.

»Es ist, wie Geschichte mitzuerleben oder sie nur hinterher in den Nachrichten anzuschauen«, gestand sie mir.

Eine bestimmte Zeit hatte sie auch zum Lesen reserviert. Dann saß sie in ihrem Schaukelstuhl, den Spitzenschal um die Schultern gelegt, und las, was sie in diesen Monat von ihrem Buchclub zugeschickt bekommen hatte, der auf Liebesromane spezialisiert war. Töpfe konnten überkochen, das Telefon klingeln oder jemand an der Tür klopfen. Wenn sie in ihrem Roman las, spielte das überhaupt keine Rolle mehr. Sie hielt sich dann völlig in einer anderen Welt auf.

Trotzdem war sie eine aufopfernde Ehefrau und widmete sich hingebungsvoll Karls Bedürfnissen. Sonntags stellte Karl den Speiseplan für die Woche zusammen. Dabei wählte er sorgfältig Nahrungsmittel aus, die auf verschiedene Weise genutzt werden konnten, damit man sie günstiger in größeren Mengen kaufen und auch ihre Reste noch verwerten konnte. Thelma richtete sich dann bis aufs i-Tüpfelchen nach diesem Plan. Wenn irgendetwas sich nicht so durchführen ließ, wie Karl es geplant hatte, war das für Thelma eine größere Katastrophe. So musste ich eines Morgens mit ihr in einen etwa dreißig Kilometer entfernten Supermarkt fahren, weil in dem, den sie normalerweise aufsuchte, die Marke Dosenpfirsiche, die Karl haben wollte, nicht vorrätig war.

Während Karl ein ruhiger, umsichtiger Fahrer war, redete Thelma von dem Augenblick an, an dem sie sich hinters Lenkrad setzte, so viel, dass mir die Ohren dröhnten. Oft ließ sie sich in ihrer Aufmerksamkeit ablenken, und zweimal wurde ich so hoch geschleudert, dass ich mir beinahe den Kopf stieß, als sie so abrupt die Fahrbahn wechselte, dass andere Fahrer wild hupten.

Eine Woche nach meiner Ankunft machten wir einen Ausflug zu Karls Vater. Er lebte allein in einem kleinen Haus im Cape-Cod-Stil, in demselben Haus, in dem er seit fast vierzig Jahren wohnte. Es war eine sehr ruhige Wohngegend mit Einfamilienhäusern, die meist so alt waren wie das von Karls Vater.

Karls Vater war größer und beträchtlich dünner als sein Sohn. Sein Gesicht, lang und scharfgeschnitten, erinnerte mich an Abraham Lincoln. Nach den Fotos zu urteilen, die ich auf dem Tisch im Wohnzimmer sah, kam Karl wohl mehr nach seiner Mutter. Seine Brüder ähnelten dagegen ihrem Vater, da sie beide größer und schlanker als Karl waren.

Papa Morris, wie er mir vorgestellt wurde, war ein munterer, alter Mann, der für die städtischen Wasserwerke gearbeitet hatte. Er war es zufrieden, von seiner Pension zu leben, sich mit seinen Freunden zu treffen, Karten zu spielen, hin und wieder die Dorfkneipe zu besuchen und seine Zeitungen zu lesen. Karl hatte dafür gesorgt, dass zweimal in der Woche ein Frau kam und sauber machte, aber Karls Vater gestattete nicht, dass irgendjemand für ihn kochte.

»Ich merke das schon, wenn ich mich nicht mehr selbst um mich kümmern kann«, brummelte er, als Karl erneut diesen Vorschlag vorbrachte.

Die Küche war jedoch nicht besonders sauber. In den Töpfen waren Bohnen und Reis angebrannt; Teller standen hochaufgetürmt, damit die Putzfrau sie spülen konnte. Thelma machte sich direkt, nachdem wir angekommen waren, an die Arbeit. Ich half ihr, und so brachten wir die Küche in Ordnung, während Karl und sein Vater sich unterhielten. Dann setzten wir uns alle ins Wohnzimmer und tranken frische Limonade.

Papa Morris starrte mich voller Interesse an, während Thelma beschrieb, wie wundervoll wir miteinander auskamen, seit ich bei ihnen lebte. Papa Morris kniff seine großen glasigbraunen Augen misstrauisch zusammen.

»Du lebst bei den beiden?«, fragte er mich skeptisch.

»Ja, Sir«, antwortete ich rasch.

»Ja, Sir?«, murmelte er und schaute Karl an, der mit den Händen im Schoß da saß.

»Sie ist eine sehr höfliche junge Dame«, erklärte Thelma. »Genau wie Thelma Matthews in Days in the Sun«, fügte sie hinzu und betrachtete mich stolz.

»Du brauchst mich nicht Sir nennen, Missy. Mich hat noch nie jemand Sir genannt. Ich bin nicht eingebildet. Ich bin nur ein einfacher Mann.«

»Sie ist sehr intelligent, Pa. Lauter Einsen in der Schule«, fuhr Thelma fort.

»Das ist gut.« Er nickte mir zu und sein Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher. »Meine Lily wollte immer gerne Enkel haben, aber keiner meiner Jungen hat ihr welche geschenkt. Enkel sind eine Art Zinsen auf eine Investition«, brummelte er.

»Da wir gerade von Investitionen sprechen«, fuhr er an Karl gewandt fort, »was ist denn aus diesem Fonds geworden, in den ich mein Geld stecken sollte, Karl?«

»Er hat zweiundzwanzig Prozent zugelegt, Dad.«

»Gut. Bist ein schlauer Bursche, Karl«, sagte er und suchte in seiner Brusttasche nach Kautabak.

»Du solltest damit aufhören, Dad. Es ist bekannt, dass dadurch Mundkrebs hervorgerufen wird«, meinte Karl. »Erst gestern habe ich einen Artikel darüber gelesen.«

»Ich mache das jetzt seit fünfzig Jahren. Es ist doch sinnlos, jetzt mit etwas aufzuhören, das ich genieße, nicht, Thelma?«

Sie schaute Karl besorgt an. »Also, ich –«

»Natürlich solltest du das, und natürlich ist es sinnvoll, Dad. Warum willst du dir selbst schaden?«, beharrte Karl.

»Ich schade mir nicht. Ich genieße es. Ich weiß wirklich nicht, wer die größere Nervensäge ist, du oder diese Frau, die du mir immer auf den Hals schickst. Ständig beklagt sie sich darüber, wie viel Arbeit ich ihr mache. Wie viel zahlst du ihr?«

»Zehn Dollar die Stunde«, sagte Karl.

»Zehn Dollar! Weißt du«, sagte er und schaute mich an, »dass das früher einmal ausreichte, um eine ganze Familie eine Woche lang zu ernähren?«

»Sie dürfen die Inflation nicht vergessen«, sagte ich.

»Ach wirklich? Bist du auch so ein Wirtschaftsgenie wie Karl?«, fragte er mich.

»Nein, Sir. Ich lese nur ein wenig.«

»Oh, sie liest sehr viel, Pa. Sie liest sogar mehr als ich«, sagte Thelma.

»Lily las auch gerne«, sagte er und dachte einen Augenblick nach. Dann schlug er heftig auf die Lehne seines Sessels. Thelma und ich zuckten in unseren Sitzen zusammen.

»Nun gut, bringt diese höfliche junge Dame öfter zu mir«, sagte er und erhob sich.

»Wir hätten noch ein wenig Zeit, Pa«, sagte Thelma.

»Ich aber nicht«, erklärte er. »Ich treffe mich mit Charlie, Richard und Marty bei Gordons zu unserem Binokelspiel«, verkündete er streng.

Thelma schaute Karl an.

»Also, wir sind nur vorbeigekommen, um dir Crystal vorzustellen und zu sehen, wie es dir geht, Dad«, meinte Karl und stand auf.

»Mir geht es so gut, wie es mit dem, was ich habe, möglich ist«, sagte er und schaute mich an.

Wir alle erhoben uns.

»Ich freue mich, dich kennen gelernt zu haben«, sagte er zu mir. Er streckte mir seine Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Er hatte lange, grobe Finger mit dicken, gelben Fingernägeln, die seit mindestens zwei Jahren hätten geschnitten werden müssen.

Auf dem Heimweg dachte ich über ihn nach und darüber wie ich mir meine Großeltern immer vorgestellt hatte. Nie im Leben hätte ich mir ausgemalt, ihnen die Hände zu schütteln. Ich hatte gedacht, sie würden mich ständig umarmen und küssen und mit mir prahlen, wie es in Büchern und Filmen stets der Fall war. Vielleicht waren ja Thelmas Vater und Mutter so. Ich hoffte es sehr.

Und sie waren tatsächlich so.

Thelmas Mutter war klein wie sie, sogar noch kleiner, vogelartig und sehr dünn, mit Handgelenken, die wirkten, als würden sie zerbrechen, wenn sie eine Tasse hochhob, aber sie lächelte breit und hatte wunderschöne braungrüne Augen. Ihr graues Haar trug sie ordentlich frisiert. Thelmas Vater war groß und schlank, aber viel freundlicher als Karls Vater. Sie bestanden sofort darauf, dass ich sie Grandma und Grandpa nannte, und Grandma umarmte und küsste mich, sobald wir einander vorgestellt worden waren.

»Ich bin so froh, dass ein junger Mensch in dieses Haus kommt. Jetzt wird es ein richtiges Zuhause. Dass du mir dieses Kind auch richtig verwöhnst, Karl Morris«, warnte sie und drohte ihm mit dem Finger. »Dafür sollten Eltern da sein. Und wenn Ihr es nicht seid, dann sind wir da«, fügte sie mit einer gespielten Drohung hinzu.

Bevor sie gingen, schenkten sie mir sogar zwanzig Dollar. Grandma sagte: »Kauf dir davon, was Karl dir nicht kaufen will, weil er es für Geldverschwendung hält.« Sie lachte und küsste mich noch einmal. Ich mochte sie sehr und freute mich auf das nächste Mal, wenn ich sie sehen würde.

Von allem, was geschehen war, seit ich bei Karl und Thelma lebte, gefiel mir das am besten. Meine Großeltern gaben mir endlich das Gefühl, zu einer richtigen Familie zu gehören. Das Leben mit Karl und Thelma war so formell und durchorganisiert, dass es mir noch schwerfiel, an sie als meine Eltern zu denken. Karl war mehr ein Ratgeber, und Thelma ging völlig in ihren Büchern und Fernsehprogrammen auf, dass ich mich eher als Gast fühlte, den sie eingeladen hatte, um ihre Fantasien mit ihr zu teilen.

Ich freute mich auf den Schulbeginn, auf neue Freunde und die Herausforderung durch neue Fächer und neue Lehrer. Thelma ging mit mir zur Anmeldung. Aufgrund meines Zeugnisses kam ich in eine Klasse mit fortgeschrittenen Schülern, und darüber prahlte sie während des gesamten Essens an jenem Abend. Wie immer hatte sie eine Romanfigur zur Hand, mit der sie mich vergleichen konnte.

»Brendas Tochter in Thunder in My Heart ist genau wie du, Crystal. Sie ist auch solch ein Wunderkind. Vielleicht wird sie eines Tages Präsident.«

»Wie kann Brendas Tochter denn eines Tages Präsident werden, Thelma?«, fragte Karl sie. »Sie ist doch eine Figur aus einem Buch, das du gelesen hast, oder?«

»Oh, es gibt doch eine Fortsetzung, Karl. Es gibt immer eine Fortsetzung«, meinte sie lächelnd.

»Ich verstehe«, sagte er nickend und schaute mich dabei viel sagend an.

»Crystal ist allerdings noch intelligenter«, sagte Thelma. »Du solltest hören, was sie manchmal sagt, Karl. Sie weiß, was in meinen Seifenopern geschehen wird, noch bevor es passiert.«

»Das ist doch leicht vorherzusagen«, entgegnete ich.

»Was heißt das?«, fragte Thelma und klimperte mit den Wimpern.

»Das heißt, es ist nicht schwer, sich das vorzustellen«, sagte Karl. »Sie sind simpel.«

»Oh.« Sie lachte ihr dünnes Lachen. »Für mich sind sie schwierig«, gestand sie.

Karl sah mich erneut bedeutungsvoll an, und wir redeten über etwas anderes. Ich fühlte mich deswegen unwohl und entschuldigte mich hinterher.

»Ich wollte mich nicht lustig machen über deine Filme und Bücher, Thelma«, sagte ich.

»Oh, hast du dich darüber lustig gemacht? Das glaube ich nicht. Wie könntest du dich darüber lustig machen? Sie sind so voller Aufregung und Romantik. Gefällt dir das nicht?«

»Ich mag gute Geschichten«, erwiderte ich ausweichend.

»Na, also. Ich wusste es doch. Vergiss nicht, morgen erfahren wir, wie es um Novembers Exmann steht! Glaubst du, er liebt sie noch?«

»Ich kann mich nicht an ihn erinnern«, gestand ich. Sie schaute mich an, als hätte ich etwas völlig Verrücktes gesagt.

»Du kannst doch Edmond nicht vergessen haben. Er sieht sooo gut aus. Wenn er an meine Haustür käme, würde ich in Ohnmacht fallen«, vertraute sie mir an und lachte ihr kleines, dünnes Lachen.

Ich fragte mich, ob jeder, der Seifenopern im Fernsehen sah, sich so dafür begeisterte und so in den Geschichten aufging wie Thelma. Ein paar Tage später starb eine ihrer Lieblingsfiguren in Days in the Sun. Ich kam gerade herein, als es passierte, und sie fing so heftig an zu schluchzen, dass ich es mit der Angst bekam. Sie begann den Fernseher anzuschreien.

»Er kann doch nicht tot sein. Das kann doch einfach nicht sein. Wie kann er denn sterben? Bitte lass ihn nicht sterben. Oh, Crystal, er ist tot! Grant ist tot! Wie kann er denn tot sein?«

»Im wirklichen Leben sterben Menschen auch, Mom«, sagte ich. »Daher müssen sie in den Serien auch einige sterben lassen, nicht wahr?«

»Nein«, widersprach sie und ihr Gesicht war so wutentbrannt, wie ich es bis jetzt noch nie erlebt hatte. »Das ist nicht fair. Sie haben uns dazu gebracht, ihn zu lieben, und jetzt haben sie ihn umgebracht. Das ist nicht fair!«, schrie sie.

Hinterher verfiel sie in eine tiefe Depression. Nichts, was ich sagte oder tat, konnte daran etwas ändern. Als Karl nach Hause kam und wir alle zu Abend aßen, war sie immer noch in dieser Verfassung. Er fragte sie, warum sie so traurig sei. Sie erzählte es ihm und brach erneut in Tränen aus. Er schaute mich an, und ich blickte auf meinen Teller nieder. Mein Herz klopfte heftig. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Du machst unserer Tochter Angst«, bemerkte Karl.

Sie schaute mich an und unterdrückte ihr Schluchzen.

»Oh, ich wollte dich nicht ängstigen, Crystal. Es ist nur so traurig.«

»Es ist doch nur eine Fernsehsendung, Mom«, tröstete ich sie. »Morgen wird etwas Neues passieren, und dann fühlst du dich wieder besser.«

»Ja, ja, das werde ich. Das stimmt. Siehst du, Karl, wie clever sie ist?«

»Das sehe ich«, bestätigte Karl.

Wir beendeten unsere Mahlzeit. Hinterher fand ich Thelma in ihrem Schaukelstuhl sitzend. Sie starrte einfach zu Boden.

»Ich gehe jetzt nach oben, um noch etwas zu lesen und dann zu schlafen«, sagte ich.

»Was? O ja, gute Nacht, mein Liebes. Denk etwas Schönes. Armer Grant«, sagte sie. »Ich muss daran denken, wie es war, als Karls Mutter starb.«

Ich starrte sie an. Wie konnte der Tod eines Menschen dasselbe sein wie der Tod einer Figur in einer Seifenoper?

»Es ist ein Schauspieler, Mom. Er wird in einer anderen Serie wieder auftauchen«, meinte ich leise.

»Wer?«

»Grant.«

»Nein, du Dummchen«, sagte sie. »Grant ist kein Schauspieler. Grant war eine Person, die gestorben ist. Ich stelle sie mir nicht als Schauspieler vor«, gestand sie. Sie begann wieder zu schaukeln und dabei zu Boden zu starren. »Alle werden morgen in der Folge so traurig sein, so traurig.«

»Vielleicht solltest du es dir nicht anschauen«, schlug ich vor. Sie schaute mich an, als hätte ich etwas Unflätiges gesagt.

»Ich muss es sehen, Crystal. Ich mache mir um sie alle Sorgen. Es sind meine Freunde«, sagte sie. Es klang, als ob sie wüssten, dass sie zusah, und als ob sie davon abhingen.

Wieder starrte sie zu Boden, statt mir einen Gutenachtkuss zu geben, wie sie es seit dem ersten Tag meiner Ankunft getan hatte. Ich lief nach oben, um schlafen zu gehen. Ich weiß nicht genau warum, aber zum ersten Mal, seit ich dort lebte, verspürte ich ein wenig Beklommenheit. Ich lag wach und fragte mich, warum. Vermutlich hatte ich Angst, dass meine neue Mutter sich immer mehr um ihre Seifenoperncharaktere kümmern würde als um mich.

Ich hatte ein Zuhause gefunden mit Familienfotos, Gesprächen über Verwandte, Aussichten auf zukünftige Ferien und Ausflüge. Ich hatte Großeltern und würde bald eine neue Schule besuchen. Ich hatte mein eigenes Zimmer, und ich hatte ein ganz neues Leben begonnen.

Aber was war, wenn ich morgens aufwachte und feststellte, dass jemand die Uhr zurückgedreht hatte und ich wieder im Waisenhaus war?

Geliebte Crystal

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