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PROLOG

Manchmal glaube ich, Mama Arnold nannte mich Rain, weil sie wusste, dass ich so viele Tränen vergießen würde.

Andere Kinder hänselten mich oft und sangen: »Rain, rain, go away. Come again another day.« Als ich älter war, riefen mir Jungen in der Schule oder auf der Straße zu: »You can rain on me anytime, girl.« Keiner von ihnen wagte das, wenn mein Bruder Roy in der Nähe war, aber er wusste, dass sie es oft taten, wenn er nicht da war. Einmal wurde er so wütend darüber, dass er Mama Arnold anschrie und wissen wollte, warum sie mich Rain genannt hatte.

Als sie ihn daraufhin anschaute, stand ihr die Unschuld und Verwirrung ins Gesicht geschrieben.

»Wo ich herkomme«, erwiderte sie ruhig, »wo meine Familie herkommt, ist Regen etwas Gutes, etwas Wichtiges. Ohne ihn würden wir verhungern, Roy. Diese Art Hunger hast du nie kennen gelernt, Gott sei Dank, aber ich erinnere mich daran. Wir nannten ihn Grundhunger, denn dann war der arme Bauch bis zum Grund leer.

Und ich erinnere mich daran, diesen ersten gesegneten Tropfen gespürt zu haben nach Tagen und Tagen andauernder Trockenheit. Mein Daddy und meine Mama waren so glücklich, dass sie einfach im strömenden Regen standen und sich völlig durchweichen ließen. Ich erinnere mich an einmal«, fuhr sie lächelnd fort, »als wir uns alle an den Händen hielten und im Regen tanzten. Wir wurden alle bis auf die Knochen durchnässt, aber niemandem machte das was aus. Vermutlich sahen wir aus wie ein Haufen Verrückter, aber der Regen bedeutete Hoffnung und genug Geld, um zu kaufen, was wir brauchten.

Manche Leute verlegten sich aufs Beten und auf alle möglichen Rituale, die Regen bringen sollten. Den ersten Regenmacher sah ich, als ich etwa zehn war. Er war ein kleiner dunkler Mann mit Augen wie glänzende Lakritzkugeln. Alle Kinder glaubten, er sei elektrisch geladen, weil er so oft vom Blitz getroffen worden war. Deshalb hatten wir panische Angst davor, dass er uns berührte.

Die Kirche bezahlte ihn. Nichts, was er anstellte, brachte auch nur einen Tropfen Regen. Als er ging, sagte er, wir müssten den Herrn irgendwie schrecklich erzürnt haben, dass er so unnachgiebig war. Weißt du, was das in einer Gemeinde bewirkt, Roy? Jeder starrt den anderen vorwurfsvoll an und gibt seinen Sünden die Schuld an diesen Problemen. Ich habe mal von einer Gemeinde gehört, die eine ganze Familie vertrieben hat, weil sie glaubten, die wäre verantwortlich für die anhaltende Dürre.

Als deine Schwester geboren wurde und ich sah, wie schön sie war, dachte ich, meine Güte, sie ist so hübsch und so voller Hoffnung für uns wie ein guter Regen. Und da entschied ich, dass Rain ein guter Name sei.«

Roy starrte sie offensichtlich überwältigt an. Beneatha senkte mürrisch den Blick, weil sie nach einer Verwandten benannt worden war, und das war nicht viel im Vergleich zu dem, was Mama Arnold über mich gesagt hatte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, ich trüge eine größere Verantwortung wegen meines Namens. Mama Arnold dachte, ich würde Glück bringen.

Heute als ich mich anzog, um Großmutter Hudsons Grab zu besuchen, fand ich, Mama Arnold hätte keinen größeren Irrtum begehen können. Anscheinend brachte ich jedem nur Unglück. Natürlich dachte Großmutter Hudson das nicht, als sie starb.

Vielleicht tat sie es am Anfang, als meine leibliche Mutter arrangierte, dass ich – angeblich aus Wohltätigkeit – bei meiner Großmutter lebte. Auf diese Weise konnte meine leibliche Mutter, Megan Hudson Randolph, selbst vor ihrem Mann und besonders ihren beiden Kindern, Brody und Alison, geheim halten, dass sie auf dem College schwanger geworden war und mich zur Welt gebracht hatte. Meine Großeltern hatten meinem Stiefvater Geld bezahlt, um mich direkt nach der Geburt aufzunehmen. Jahre später hatte Großmutter Hudson mich zögernd aufgenommen wie eine Mutter, die die Sünden ihres Kindes verantworten und büßen muss.

Mama Arnold war viel kranker gewesen, als irgendeiner von uns wusste, und nachdem meine jüngere Schwester Beneatha ermordet worden war und Ken, mein Stiefvater, davongelaufen und wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet worden war, wollte Mama Arnold sichergehen, dass ich in Sicherheit war. Wenn ich jetzt an den Tag zurückdenke, an dem sie meine leibliche Mutter zwang, uns zum Mittagessen zu treffen, und sie davon überzeugte, dass sie mich zurücknehmen musste, wird mir klar, eine welch starke Frau Mama Arnold wirklich gewesen war. Großmutter Hudson und Mama Arnold unterschieden sich nicht so sehr, wenn es um die Bedeutung der Familie und ihre Opfer für sie ging.

Auf den ersten Eindruck sehen Leute wie Mama Arnold, die in ihrer Armut nur mühsam überleben, nicht nach viel aus. Meistens schleppen sie sich dahin, wirken erschöpft, vorzeitig gealtert, zynisch, hoffnungslos; der Blick ist so leer wie ausgebrannte Glühbirnen. Was die Menschen nicht sehen, ist die große Stärke, den Mut und den Optimismus, den Frauen wie Mama Arnold aufbringen, um gegen all das Böse um sie herum anzukämpfen, damit sie ihre Kinder beschützen können. Mama Arnold war unsere Festung.

Es erscheint albern, diese zerbrechliche kleine Lady als eine Festung anzusehen, aber genau das war sie. Sie und ich waren nicht blutsverwandt, aber sie war es, die mir beibrachte, Mumm zu zeigen. Ihretwegen ging ich aufrechter, und eines der Dinge, durch die Großmutter Hudson meine Zuneigung gewann, war die Tatsache, dass sie dies anerkannte und Mama Arnold bewunderte.

Großmutter Hudson und ich waren uns schnell sehr nahe gekommen. Ich liebte diese Frau wirklich und wusste, dass auch sie mich trotz ihres anfänglichen Zögerns liebte. Schließlich war sie eine Frau, die im alten Süden geboren und aufgewachsen war, förmlich und streng. Und da kam ich, eine Mulattin und ihre illegitime Enkeltochter. Sie war eine Frau, die keinen Flecken auf ihrem Kleid ertrug, viel weniger einen Flecken auf der Familienehre.

Schließlich bewies sie jedoch ihre tiefe Zuneigung zu mir, indem sie arrangierte, dass ich zur Schauspielausbildung nach London kam, und indem sie mir viel von ihrem Besitz hinterließ: einundfünfzig Prozent ihres Hauses und des Grundbesitzes, fünfzig Prozent des Geschäftes und Anlagen im Wert von zwei Millionen Dollar, die mein Wohlergehen mehr als sicherstellten.

Großmutter Hudsons jüngere Tochter, meine Tante Victoria, war so empört darüber, dass sie schwor, das Testament vor Gericht anzufechten. Immer noch unverheiratet, leitete sie das Bauunternehmen der Familie, führte Projekte durch, fühlte sich aber dennoch nicht entsprechend gewürdigt. Während meiner kurzen Zeit bei Großmutter Hudson hatte ich miterlebt, dass sie ständig mit ihr im Kampf lag. Victoria lehnte ihre ältere Schwester, meine Mutter Megan, ab, die sie von ihrem Vater bevorzugt glaubte und die, wie sie fand, nur Rosinen im Kopf hatte. Vielleicht lehnte sie meine Mutter allerdings hauptsächlich ab, weil sie einen Ehemann wie Grant hatte, einen gut aussehenden, intelligenten, ehrgeizigen Mann, die Art Mann, die sie selbst gerne gehabt hätte und, wie sie glaubte, viel besser zu schätzen wüsste und zufrieden stellen könnte als Megan.

Gegen Ende meiner Highschool-Zeit hatte Großmutter Hudson arrangiert, dass ich bei ihrer Schwester Leonora und meinem Großonkel Richard in England lebte, wo ich die Richard Burbage School of Drama besuchte. Weder Großtante Leonora noch Großonkel Richard wussten, wer ich wirklich war. Sie glaubten, es sei ein Akt der Wohltätigkeit, ein armes Minderheitenkind zu fördern. Die ganze Wahrheit erfuhren sie erst, als Großmutter Hudson starb.

Als ich nach Großmutter Hudsons Tod zusammen mit meinem Großonkel und meiner Großtante aus England zurückgerufen wurde, versuchten meine Mutter und ihr Mann mich zu einem Kompromiss zu überreden, bei dem ich auf einen Großteil meines Erbes verzichtet hätte. Ich glaube, sie beide sahen ihr Angebot als eine Möglichkeit, mich auszuzahlen und für immer loszuwerden. Aber ich war der Ansicht, dass Großmutter Hudson ein Ziel verfolgte mit dem, was sie getan hatte, und deshalb wollte ich nichts an diesem Testament ändern, kein einziges Jota.

Meine Tante Victoria tobte weiter wegen des Testamentes und wollte rechtliche Schritte dagegen einleiten – was Grant einen panischen Schrecken einjagte, weil er politische Ambitionen hatte. Das Letzte, was er wollte, war, dass die alte Affäre seiner Frau mit einem Afroamerikaner und meine Existenz öffentlich bekannt wurden. Selbst nach der Beerdigung hatten er und meine Mutter ihren Kindern noch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Brody mochte mich, aber Alison konnte nicht verstehen, warum ich so viel erbte und ihre Familie mir so viel Aufmerksamkeit schenkte. Sie verachtete mich, aber ich war mir nicht sicher, ob die Wahrheit etwas daran ändern würde. Deshalb schwirrten Geheimnisse und Lügen weiter in diesem Haus und in dieser Familie umher wie ein wild gewordener Bienenschwarm.

Da ich im Augenblick alleine in diesem Herrenhaus lebte, konnte ich förmlich hören, wie die Lügen umhersummten. Bald würden sie uns stechen und uns dann noch größere Schmerzen verursachen, aber jeder in dieser Familie konzentrierte sich nur auf die eigenen Interessen und hatte einen Tunnelblick. Sie sahen es nicht. Mama Arnold pflegte immer zu sagen, niemand ist so blind wie diejenigen, die sich weigern zu sehen, die beiseite oder zu Boden schauten oder lieber ein Fantasiegebilde betrachteten als die Wahrheit. Diese Familie schoss dabei den Vogel ab, von den seltsamen Fantasien meines Großonkels in seinem Londoner Cottage bis zur Weigerung meiner Mutter, der Realität ins Gesicht zu sehen. Stattdessen kaufte sie sich beim geringsten Anzeichen von Widrigkeiten oder Stress lieber etwas Neues zum Anziehen.

Meine Tante Victoria murrte über sie, beklagte sich und nannte sie eine zweite Scarlett O’Hara, weil sie immer sagte: »Darüber mache ich mir morgen Gedanken.« Morgen, morgen – dazu kam es jedoch nie, wie Victoria gerne jeden erinnerte.

Ob meine Mutter sich dem jetzt stellte oder nicht – für diese Familie war das Morgen gekommen. Großmutter Hudson hatte dafür gesorgt, dass dies durch ihr Testament geschah. Noch im Tode, vielleicht besonders im Tode schwebte sie über ihrer Familie, schaute stirnrunzelnd auf sie herab und verlangte, dass sie endlich die Verantwortung übernahmen für ihre Taten, für das, wer sie waren und was sie waren.

Ich würde das alles nicht aufhalten, aber meine Angst vor dem, was die Zukunft für mich bereithielt, konnte kaum größer sein. Ihr blieb kaum eine andere Wahl. Es stimmte, ich hatte Larry Ward, meinen leiblichen Vater, in England gefunden und seine Familie kennen gelernt. Er hatte seinen Traum verwirklicht, war Shakespeare-Forscher geworden und lehrte an einem staatlichen College. Jetzt wollte er, dass ich ihn besuchte und seine Familie traf, damit sie mich besser kennen lernten, einschließlich seiner Frau Leanna, aber Großmutter Hudsons letzter Rat hatte gelautet, dass ich mich ihnen nicht aufdrängen sollte. Sie hatte Angst, dass sie mich zurückweisen würden. Vielleicht würde ich ihn und seine Familie ein wenig später, wenn ich selbstsicherer geworden war, noch einmal besuchen.

In der Zwischenzeit blieb mir als einziger Freund, den ich hier hatte, nur Großmutters Fahrer Jake, da mein Stiefbruder Roy noch bei der Armee in Deutschland war. Jake und ich waren uns in meiner Zeit hier auch sehr nahe gekommen. Eines Tages hatte er mich damit überrascht, dass er mich zu seinem neuen Rennpferd brachte, das er nach mir genannt hatte.

Jake verband eine lange Geschichte mit dieser Familie und diesem Besitz. Dieser hatte früher seiner Familie gehört, aber sein Vater hatte ihn vor vielen Jahren verloren und die Hudsons hatten ihn übernommen. Er war bei der Marine gewesen, hatte nie geheiratet und keine eigenen Kinder. Oft hatte ich das Gefühl, er hatte mich adoptiert.

Heute wartete er draußen auf mich, um mich zum Friedhof zu fahren. Natürlich war ich mit allen anderen zusammen schon dort gewesen, aber diesmal ging ich alleine, um mich zu verabschieden.

Nach der Beerdigung und der Eröffnung des Testamentes war ich in Großmutter Hudsons Zimmer umgezogen. Ich änderte nichts, hängte nicht einmal ein Bild um oder verschob einen Stuhl. Das gab mir das Gefühl, sie sei noch da und passte auf mich auf.

Tante Victoria hatte Großmutter Hudsons Sachen bereits durchgesehen und dafür gesorgt, dass sie all ihren wertvollen Schmuck, ihre Uhren und sogar einiges von ihrer Kleidung bekam. Teile des Zimmers, Kommodenschubladen und Kleiderschränke wirkten völlig ausgeplündert. Die Schubladen waren so leer, dass kein einziges Taschentuch übrig geblieben war, in den Schränken herrschte gähnende Leere, selbst die Bügel fehlten.

Natürlich war ich, da ich hier gewohnt und geholfen hatte, das Haus in Ordnung zu halten, mit allem vertraut – besonders in der Küche. Ich erinnerte mich an die Mahlzeiten, die ich für Großmutter Hudson gekocht hatte, und wie sehr sie ihr geschmeckt hatten. Ihr Anwalt versorgte mich mit all den Informationen, die ich brauchte, um das Haus und den Besitz zu unterhalten. Er sagte, wenn ich wollte, könnte er diesen Teil des Besitzes weiter beaufsichtigen. Ich hatte das Gefühl, Großmutter Hudson hatte ihm viele nette Dinge über mich gesagt. Er wirkte sehr erfreut, dass ich meiner Mutter, ihrem Mann und Victoria mutig gegenübertrat.

»Bis jetzt«, sagte er, »erfüllen Sie die Erwartungen Ihrer Großmutter, Rain.«

Ich dankte ihm für das Kompliment und erzählte ihm, dass sie mir selbst in der kurzen Zeit, die wir zusammengelebt hatten, ein Beispiel gegeben hatte, dem ich folgen konnte. Allerdings war ich mir nicht sicher, wie lange ich ihm noch folgen konnte.

Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel und ging dann die Treppe hinunter, um zum Friedhof zu fahren. Es war ein bewölkter Tag mit einem kühlen Wind, der den herannahenden Herbst ankündigte. Ein perfekter Tag für einen Friedhofsbesuch, dachte ich, als ich aus dem Haus trat. Jake lehnte, die Arme verschränkt, gegen Großmutters Rolls-Royce und wartete auf mich. Als ich auftauchte, lächelte er und stellte sich gerade hin.

»Morgen, Prinzessin«, rief er, als ich die Auffahrt überquerte und auf ihn zuging.

»Guten Morgen, Jake.«

»Gut geschlafen?«, fragte er.

Ich wusste, dass alle sich fragten, ob ich imstande wäre, ganz alleine in einem so großen Haus zu leben. Tante Victoria hoffte, dass es mich gruselte und ich zu ihr kommen würde und sie anbettelte, den Deal zu akzeptieren, den sie mir durch Grant Randolph angeboten hatte.

»Ja, habe ich, Jake.«

Er lächelte. Jake war ein hochgewachsener, schlanker Mann, der langsam kahl wurde, dessen buschige Augenbrauen den Mangel an Haaren aber fast wettmachten. Er hatte dunkelbraune Augen, die immer spitzbübisch zu funkeln schienen und sein schmales Gesicht strahlen ließen. Sein Kinn hatte eine leichte Kerbe, die Nase war ein klein bisschen zu lang und zu dünn, aber das Lächeln, das er mir schenkte, war fast immer warm und freundlich so wie heute Morgen.

In letzter Zeit hatten seine Wangen häufig einen Stich ins Rote. Ich wusste, er trank ein wenig mehr als üblich, aber er nannte das seinen Treibstoff, und ich habe nie erlebt, dass er betrunken wirkte oder sich so benahm.

Er öffnete mir die Hintertür des Rolls-Royce. Ich zögerte und starrte auf den Sitz, auf dem Großmutter Hudson immer so aufrecht gesessen hatte. Ich spürte immer noch ihr Parfüm, der Duft wehte hinaus zu mir. Das ließ mich zögern.

»Ist alles in Ordnung, Rain?«

»Ja, Jake, ja«, sagte ich und stieg schnell ein. Er schloss die Tür und wir brachen zum Friedhof auf.

»Victoria rief mich an, um mir mitzuteilen, dass ich Megan und Grant morgen vom Flughafen abholen soll«, sagte er, als wir die Straße entlangfuhren. »Wussten Sie davon?«

»Nein.«

»Habe ich mir gedacht«, sagte er nickend und schüttelte dann den Kopf. »Überraschungsangriff.«

»Woher wussten sie, dass ich überhaupt zu Hause sein werde?«, fragte ich.

Er zuckte die Achseln.

»Victoria nimmt das einfach an.« Er schaute sich zu mir um. »Diese Frau strotzt vor Selbstbewusstsein«, sagte er und lachte. »Ich erinnere mich an sie als kleines Mädchen. Sie ging immer so aufrecht und perfekt und wirkte immer so, als würde sie nachdenken. Sie war so ernst, selbst damals, und ich erinnere mich daran, wie sie Megan anschaute, so von oben herab, als wollte sie sagen: ›Wie ist dieses Ungeziefer denn in unser Haus gelangt?‹ Megan schien sie jedoch nie besonders zu beachten. Victorias Kommentare glitten an ihr ab wie Eiswürfel von einem heißen Teller.«

»Was Victoria natürlich wahnsinnig machte«, sagte ich.

»Ganz genau.« Er lachte. »Wenn Megan viel über sie nachgedacht hätte, wäre sie vermutlich außer sich geraten. Damals gab ich ihr den Spitznamen Schildkröte. Sie hatte dann diesen geistesabwesenden, träumerischen Blick und verkroch sich in den Panzer ihrer Fantasien, um Victoria zu entkommen.«

»So verhält sich Megan bei jedem«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

»Em«, räusperte er sich.

Ich hatte Jake nichts davon erzählt, dass Megan meine leibliche Mutter war, und von meinem leiblichen Vater hatte ich schon gar nicht gesprochen. Seit der Beerdigung und allem, was darauf folgte, hatten er und ich nicht viel Zeit miteinander verbracht. Jetzt fuhr er mich zum ersten Mal alleine irgendwo hin.

»Haben Sie sich entschieden, nach England zurückzukehren, Prinzessin?«, fragte er mich.

»Wahrscheinlich«, sagte ich. »Diesmal bleibe ich natürlich im Studentenwohnheim.«

»Verstehe. Leonora und Richard sind zwei ganz besondere Modelle. Frances schüttelte immer den Kopf und lachte darüber, wie königlich und englisch Leonora geworden war.«

Am liebsten hätte ich ihm erzählt, dass an ihnen gar nicht so viel Komisches war. Sie hatten ihre kleine Tochter verloren, die an einem Herzklappenfehler gelitten hatte. Dadurch war mein Großonkel sehr sonderbar geworden. Kurz bevor ich aus England zurückkehrte, hatte er ihr Hausmädchen, Mary Margaret, geschwängert, die, wie ich feststellte, die Tochter von Boggs war – Großonkel Richards Chauffeur, der auch den Haushalt führte. Niemand außer Boggs, Mary Margaret und ich wussten davon. Sowohl mein Großonkel als auch meine Großtante waren Menschen, die sich eine eigene Fantasiewelt erschufen, weil sie der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen konnten. Mary Margaret war gezwungen worden, an Großonkel Richards Fantasien teilzunehmen.

»Sie haben nicht zufälligerweise einen netten jungen Engländer kennen gelernt, während Sie drüben waren, oder, Prinzessin?«, fragte Jake.

»Nein, Jake«, sagte ich.

Bei meiner Antwort zog er die Augenbrauen hoch und hörte, dass ich vernehmlich seufzte. In der Schule hatte ich einen gut aussehenden kanadischen Jungen kennen gelernt, Randall Glenn, der Typ junger Mann, der das Herz jeder Frau zum Beben brachte, wenn er sie anschaute. Wir hatten eine Weile eine Affäre. Randall besaß eine wunderbare Singstimme. Ich war mir sicher, dass er damit großen Erfolg haben würde, aber im Endeffekt erwies er sich als zu unreif für mich.

»Niemanden, zu dem Sie zurückkehren?«, hakte Jake nach.

»Shakespeare«, erwiderte ich und er lachte.

Der Friedhof lag vor uns. Wir durchquerten einen Bogen, wandten uns nach rechts, dann nach links, um zur Grabstelle der Hudsons zu gelangen. Großmutter Hudson war neben ihrem Mann Everett begraben worden; rechts neben ihm lagen seine Eltern und ein Bruder.

Jake hielt das Auto an und stellte den Motor ab.

»Sieht aus, als könnte es nachher noch einen Sturm geben«, meinte er. »Ich hatte vor, Rain zu einem kleinen Trab auszuführen, aber ich warte lieber bis morgen. He«, sagte er, während ich zögerte und auf dem Rücksitz meinen Mut zusammenraffte, »vielleicht können Sie sie von Zeit zu Zeit reiten. Bis Sie nach England zurückkehren, heißt das.«

»Ich bin schon eine ganze Weile nicht mehr geritten, Jake. Nicht mehr, seit ich hier auf der Schule war.«

»Tja, also das ist wie Fahrrad fahren, Prinzessin. Sie steigen einfach auf, und dann kommt es schon wieder. Man verlernt es nicht«, versicherte er mir. »Ich habe Sie reiten sehen. Sie können das gut.«

»In Ordnung, Jake. Das mache ich«, versprach ich, holte tief Luft und stieg aus.

Während der Beerdigung hatte ich nicht viel an Großmutter Hudson gedacht. Es waren so viele Leute da und es herrschte solch eine Spannung zwischen meiner Tante Victoria und meiner Mutter, dass ich oft abgelenkt wurde. Ständig rechnete ich damit, dass Großmutter Hudson auftauchte, außer sich vor Wut über die pompösen Arrangements, die Victoria getroffen hatte.

»Wie kannst du es wagen, solch einen albernen Gottesdienst in meinem Namen halten zu lassen? Macht alle weiter mit eurem Leben«, würde sie befehlen, mir dann zulächeln und wir würden gehen.

Zu träumen erschien mir die beste Medizin gegen solch eine abgrundtiefe Traurigkeit, fand ich und ging auf ihr Grab zu. Jake blieb im Auto und beobachtete mich.

»Hier bin ich, Großmutter«, sagte ich zu ihrem Grabstein, »genau dort, wo du mich hingestellt hast. Ich weiß, dass du deine Gründe dafür hattest. Du weißt, dass sie mich alle hassen wegen dem, was du mir geschenkt hast. War das als eine Art Prüfung gedacht?«

Ich starrte ihren Grabstein an. Natürlich erwartete ich keine Antworten. Die Antworten, würde sie sagen, sind in dir. Ich hatte gehofft, hierher zu kommen würde mir helfen, sie zu finden, sie zu hören.

Der Wind wurde frischer. Die Wolken sahen aus, als galoppierten sie über den Himmel. Jake hatte Recht mit dem Wetter. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke weiter hoch.

Vielleicht sollte ich einfach tun, was sie wollten – den Kompromiss akzeptieren, das Geld nehmen und gehen. Ich könnte nach England zurückkehren und niemals zurückkommen, genau wie mein leiblicher Vater. Keiner von ihnen würde mich vermissen. Und um die Wahrheit zu sagen, ich würde sie auch nicht vermissen.

»Irgendwie glaube ich, das ist nicht, was du wolltest, aber was soll ich hier leisten, Grandma? Was kann ich tun, das du nicht bereits getan hast?«

Ich kniete mich hin und legte die Hände auf die Erde, die ihren Sarg bedeckte. Dann schloss ich die Augen und stellte mir vor, wie sie an dem Tag, als ich nach England abreiste, in der Tür stand. Sie hatte mich nicht zum Flughafen begleiten wollen. Sie sagte, sie hasste Abschiede, ließ aber zu, dass ich sie umarmte. Dabei sah ich die Hoffnung in ihrem Blick. Ich war zu ihr gekommen, um meinen Namen wiederzuerlangen, einen Namen, der mir sofort nach meiner Geburt abgesprochen worden war.

»Lass nicht zu, dass sie ihn dir wieder wegnehmen, Rain«, hörte ich sie im Wind flüstern.

»Ganz gleich, was sie tun oder sagen, lass nicht zu, dass sie dir deinen Namen wegnehmen.«

Vielleicht war das die Antwort, die einzige Antwort.

Vielleicht war das der Grund zu bleiben.

Dunkle Träume

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