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KAPITEL 2

Mitgiftjäger

Als es um kurz nach zwölf klingelte, wusste ich, das konnten nicht meine Mutter, Grant und Tante Victoria sein. Es war zu früh. Mein erster Gedanke war, es könnte Mr Sanger sein, mein Anwalt, der sich entschlossen hatte, vorbeizukommen und mir einen Rat zu erteilen.

Stattdessen stand Corbette Adams dort und schaute mich an, als ich die Tür öffnete. Corbette hatte den George Gibbs in der Dogwood-HighSchool-Aufführung von Unsere kleine Stadt gespielt, bei der ich durch meine Emily Webb Mr MacWaines Bewunderung errungen hatte und eingeladen worden war, an seiner Schule für darstellende Künste in London zu studieren. Bei weitem der bestaussehende Junge am Sweet William – der Schwesterschule von Dogwood, der Privatschule, die ich besucht hatte, als ich hier bei Großmutter Hudson lebte –, hatte Corbette sich wie ein Seifenopernstar über unser Schulgelände bewegt und sich im Glanz der Schwärmerei so vieler meiner Klassenkameradinnen gesonnt.

Er war der erste Junge, mit dem ich geschlafen hatte. Ihm jetzt gegenüberzustehen erfüllte mich gleichermaßen mit heißer Wut und Schuldgefühlen. Wer konnte mir jedoch vorwerfen, dass ich der Macht seines Charmes und seines guten Aussehens erlegen war, besonders ich, die ich ganz überwältigt war von all dem Reichtum und den Privilegien, die er und all die anderen genossen? Ich war aus einer Welt herausgehoben und fast ohne jegliche Vorbereitung in eine andere fallen gelassen worden.

Corbettes vertraute saphirblaue Augen leuchteten wieder einmal bei meinem Anblick. Er sah nicht viel anders aus als beim letzten Mal, da ich ihn gesehen hatte. Sein braunes Haar mit dem Anflug von Kupfer war immer noch so widerspenstig, kräuselte sich in seinem Genick nach oben, die einzige Unvollkommenheit in seinem ansonsten vollkommenen Äußeren. Trotz der angesehenen Stellung seiner Familie hatte Corbette immer etwas Aufsässiges an sich, etwas Gefährliches, das ihn für die meisten Mädchen noch attraktiver und aufregender machte – zugegebenermaßen für mich früher auch.

Seine kräftigen Lippen öffneten sich und verzogen sich zu einem sanften Lächeln.

»Du bist ja noch hübscher«, sagte er. »Oder ich habe einfach vergessen, wie schön du warst.«

»Hallo, Corbette«, begrüßte ich ihn kalt.

Ich stand in der Tür und wich nicht zurück, um ihn hereinzulassen. Er trug seinen dunkelblauen Sweet-William-Blazer über einem hellblauen Hemd, Jeans und weiße Tennisschuhe. In der rechten Hand hielt er einen Strauß weißer Rosen, die er mir schnell entgegenstreckte.

Ich griff nicht nach ihnen und behielt auch meinen verärgerten Gesichtsausdruck bei. Er verlagerte sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß.

»Das mit Mrs Hudsons Tod tut mir Leid«, sagte er. »Meine Familie ging zu der Beerdigung, und ich hörte, wie schön und würdevoll du aussahst. Viele Leute waren beeindruckt, wie traurig und fassungslos du wirktest für ein Mädchen, das doch nur Mrs Hudsons Mündel war und auch nur für so kurze Zeit. Es gibt eine Menge Tratsch über dich, darüber, was sie dir wohl hinterlassen hat«, fügte er hinzu und lächelte immer noch voll ungebrochenem Selbstvertrauen, das ich so zu verachten gelernt hatte.

Sobald er es geschafft hatte, mich herumzukriegen, konnte er es nicht abwarten, damit zu prahlen und mich wie eine Trophäe zu behandeln, die er rücksichtslos wegwerfen konnte.

Ich nahm die Rosen immer noch nicht entgegen. Völlig unbeeindruckt schaute ich vom Strauß zu ihm.

»Was willst du, Corbette?«, fragte ich ihn barsch.

»Ach, ich bin nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es dir geht, und um dir mit allem gebührenden Respekt meine Aufwartung zu machen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du weißt, was Respekt bedeutet«, fauchte ich ihn an.

Als ich ihm jetzt gegenüberstand, merkte ich, dass die Zeit die Peinlichkeit und Erniedrigung nur wenig geschmälert hatte, die ich empfunden hatte, als er einige seiner Freunde vom Sweet William mitbrachte, um mir beim Reiten zuzuschauen. An dem lüsternen Lächeln auf ihren Gesichtern erkannte ich sofort, dass er ihnen alles über unsere intime Nacht nach der Theateraufführung erzählt hatte. Er versuchte mich dazu zu bewegen, mit einem seiner Freunde zu schlafen, und bot mich an, als gehörte ich ihm jetzt und er könnte mich geben, wem immer er wollte und wann immer er wollte.

Als er sah, dass ich immer noch wie eine Statue in der Tür stand, nickte er und senkte dann die Rosen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Du hast jedes Recht, auf mich wütend zu sein.«

»Vielen Dank für die Erlaubnis«, sagte ich.

»Ich war damals ein Blödmann. Ich wollte angeben, und das war unrecht«, sagte er und zuckte die Achseln. »Du weißt doch, wie dumm Jungen manchmal sein können. Ich war verliebt in meinen eigenen Ruf und in mein Image als Weiberheld und machte mir keine Gedanken darüber, das Richtige zu tun. Unser männliches Ego bringt uns manchmal in Schwierigkeiten«, stöhnte er kopfschüttelnd. »An dem Tag habe ich mich schlicht und einfach unreif benommen. Ich bin der Erste, der das zugibt. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und mir selbst auf die Nase hauen.«

Reue überschattete seinen Blick.

Ich schüttelte den Kopf. Wie leicht konnte er unterschiedliche Haltungen annehmen, unterschiedliche Gefühle vortäuschen. Kein Wunder, dass er so lange der beste Schauspieler seiner Schule gewesen war. Wenn ein Mädchen in das hübsche Gesicht mit der vollkommenen Nase und den schönen Augen sah, fiel es schwer, hart und vorsichtig zu sein. Du wolltest ihm glauben. Du wolltest, dass er jedes liebe Wort, das er dir sagte, auch so meinte, und du würdest alle Hinweise auf das Gegenteil und alle Warnungen in den Wind schlagen.

Männer beklagten sich immer darüber, dass Frauen ihr gutes Aussehen und ihre Sexualität dazu benutzen, sie in die Falle zu locken. Corbette Adams war ein gutes Beispiel dafür, dass es auch andersherum ging. Catherine und Leslie, meine beiden französischen Freundinnen in London, betrachteten sich gerne als femmes fatales. Corbette war mindestens genauso fatal für eine Frau wie irgendeine Frau für einen Mann sein konnte.

»Ich bin froh, dass es dir Leid tut, Corbette. Vielleicht wird das nächste Mädchen, das du verführst, sich nicht so erniedrigt und schmutzig fühlen wie ich. Danke, dass du vorbeigekommen bist«, fügte ich hinzu und wollte ihm die Tür vor der Nase zuknallen.

»Warte«, rief er und streckte die Hand aus, um zu verhindern, dass sie sich schloss. »Kann ich nicht ein bisschen Zeit mit dir verbringen, mich auf den neuesten Stand bringen? In zwei Wochen reise ich ab ins College und komme monatelang nicht zurück.«

»Ich glaube nicht, dass wir uns viel zu sagen haben, Corbette.«

»Da irrst du dich«, sagte er. »Ich hatte dieses Jahr einige Freundinnen, aber keines der Mädchen war so nett oder so intelligent wie du. Ich brauchte nicht lange, bis mir klar wurde, wie dumm es war, dich schlecht zu behandeln. Nun komm schon«, bettelte er. »Ich möchte mich wenigstens anständig entschuldigen. Wenn du mich dann immer noch hinausschmeißen willst, helfe ich dir sogar.«

Er streckte mir wieder die Rosen entgegen.

Alles in mir einschließlich meines allzu verletzlichen Herzens riet mir, sie ihm ins Gesicht zu schmeißen und die Tür zu schließen, aber das tat ich nicht. Vielleicht langweilte ich mich. Vielleicht sollte ich auch nur an etwas anderes denken als an die Ankunft meiner Mutter. Statt die Tür zu schließen, nahm ich die Rosen und trat beiseite.

»In Ordnung. Du kannst eine Weile hereinkommen, aber in etwa einer Stunde kommen Leute zu einem wichtigen Treffen.«

»Danke«, sagte er, als er eintrat. Er schaute sich überrascht um, als hätte er erwartet, sofort nach Großmutter Hudsons Tod ein Haus vorzufinden, das all seines wertvollen Inhalts beraubt war.

»Was ist?«, fragte ich.

»Ein ganz schönes Haus. Meine Mutter spricht immer von diesem Haus. Sie würde es zu gerne kaufen.«

»Vielleicht bekommt sie ja Gelegenheit dazu«, erwiderte ich trocken und führte ihn ins Wohnzimmer. Die Blumen hatte ich in eine Vase gestellt. Sie waren schön, von einem cremigen Weiß mit einem kräftigen frischen Duft.

»Es heißt, du hättest fast alles geerbt. Stimmt das?«, fragte er ohne weitere Verzögerung.

»Das ist es also«, sagte ich und drehte mich zu ihm um. »Du bist hier, um den neuesten Tratsch aufzuschnappen. Ich wette, du hast damit geprahlt, dass du mich dazu bringen kannst, dir alle Einzelheiten zu erzählen, stimmt’s, Corbette?«

Er fing an den Kopf zu schütteln und ich lachte.

»Nur zu, setz dich, Corbette«, sagte ich mit einem Ton, den ich auch gegenüber einem mutwilligen kleinen Jungen anwenden würde. Ich nickte zu dem Sessel zu seiner Rechten.

Er setzte sich und ich nahm ihm gegenüber auf dem kleinen Sofa Platz. Einen Augenblick lang schaute ich ihn nur an und richtete den Blick eindringlich auf ihn. Das bereitete ihm ein wenig Unbehagen.

»Du hast dich verändert«, sagte er. »Du wirkst sehr bitter. Was ist dir in England widerfahren?«

»Ich bin nicht mehr oder weniger bitter, als ich war, bevor ich nach England ging. Was mir widerfahren ist – ich bin ein wenig erwachsener geworden«, sagte ich. »Du scheinst dich nicht sehr verändert zu haben.« Das sollte kein Kompliment sein, aber er betrachtete es als solches.

»He«, sagte er und streckte die Arme aus, »warum soll man etwas reparieren, das nicht kaputt ist?«

»Wer sagt, es sei nicht kaputt?«, entgegnete ich und wischte damit das affektierte Lächeln aus seinem Gesicht.

Er nickte.

»Du warst immer viel härter als die anderen Mädchen in Dogwood. Ich wusste das von Anfang an, und es gefiel mir«, fügte er mit einem breiten Lächeln hinzu. »Du hast Mumm. Wer will denn schon noch so ’ne Barbiepuppe?«

»Normalerweise wäre das schmeichelhaft, aber da es von dir kommt, hört es sich fast wie eine Beleidigung an. Okay, Corbette«, sagte ich, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme unter den Brüsten, »bring mich auf den neuesten Stand über dein Leben. Wie war dein Jahr auf dem College?«

»Oh, fantastisch. Ich habe in einem Theaterstück mitgespielt und eine große Rolle bekommen. Anscheinend einer der ersten Studenten im ersten Studienjahr, denen das gelungen ist.«

»Was für ein Stück?«

»Tod eines Handlungsreisenden. Ich habe den Biff gespielt. Du kennst es, oder?«

»Natürlich«, nickte ich. »Ich sehe dich als Biff direkt vor mir.«

Worauf ich mich bezog, war jemand, dessen Ego so aufgeblasen war, dass es in keinem Verhältnis mehr zu dem stand, was er wirklich war und leisten konnte, aber wieder sah Corbette nur, was er sehen wollte. Allmählich fragte ich mich, ob das eine Krankheit der Reichen und Privilegierten unserer Welt war.

»Ich erhielt viel Komplimente für meine Darbietung. Jetzt denke ich ernsthaft daran, nach Hollywood zu gehen, vielleicht noch bevor ich mit dem College fertig bin. Ein Schulfreund von mir hat einen Onkel, der Agent ist, und er hat ihm von mir erzählt. Vielleicht siehst du mich demnächst im Film«, prophezeite Corbette.

»Ich finde, das entspräche genau deiner Natur, Corbette.«

Er starrte mich einen Augenblick an, als ihm schließlich klar wurde, dass ich ihm keine Komplimente machte.

»Klar, dass du mich nicht leiden kannst. Vermutlich kann ich nur mir daran die Schuld geben.«

»Ich denke nicht genug über dich nach, um dich nicht zu mögen, Corbette.«

Er strahlte wieder, hatte wieder absichtlich den entscheidenden Punkt verpasst.

»Ich hatte gehofft, wir könnten das Kriegsbeil begraben und vielleicht ausgehen oder so was. Ich würde dich gerne heute Abend zum Essen einladen.« Er hob rasch die Hände mit den Handflächen zu mir. »Nichts Schlimmes, keine Pläne, dich mit zu mir zu nehmen. Ich gebe dir nicht einmal einen Gutenachtkuss, wenn du nicht willst«, versprach er.

Ich war fast versucht, ja zu sagen, nur um mit jemandem meines Alters zusammen zu sein, nur um von all dieser Spannung und dem Tumult wegzukommen. Mein Zögern gab ihm Hoffnung.

»Ich habe ein tolles neues italienisches Restaurant entdeckt. Es ist ganz klein und gemütlich. Wir könnten dort sitzen und reden und uns vielleicht richtig kennen lernen. Wir haben jetzt ja eine ganze Menge mehr gemeinsam.«

»Was soll das heißen?«

»Also, du bist jetzt doch eine bedeutende Grundbesitzerin in unserer Gemeinde. Du hast ein Vermögen geerbt. Du bist nicht länger ein armes Mädchen aus der Innenstadt, das abhängig ist von jemandes Almosen. Du bist anders –«

»Ich bin nicht anders als vorher, Corbette. Glaubst du, ich bin ein besserer Mensch, nur weil ich etwas Geld habe? Bemisst du Menschen danach?«, fauchte ich ihn an.

»Nein, natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt, du bringst mich dazu, über jedes Wort nachzudenken, als wären wir vor Gericht oder so. Vielleicht solltest du Anwältin werden.«

»Vielleicht werde ich das auch. Anscheinend ist das heutzutage genauso wichtig wie Ärzte früher«, sagte ich, als ich daran dachte, was zwischen mir, meiner Mutter und meiner Tante vorgehen würde.

Er lachte.

»Stimmt. In einer Fernsehwerbung heißt es dann: ›Verlassen Sie nie ohne Anwalt das Haus‹ zitierte er und schrieb die Worte in die Luft zwischen uns.

Ich musste unwillkürlich lächeln.

»So ist’s schon besser. Wir müssen uns doch nicht mit Worten bekämpfen.«

War ich eine Närrin, als ich zuließ, dass seine Süßholzraspelei und sein Lächeln meine Verteidigungslinien schwächten? Großmutter Hudson hatte mir schon früh eine Redensart beigebracht: Einmal zum Narren gehalten – Schande über dich; zweimal zum Narren gehalten – Schande über mich.

Plötzlich kam mir eine Idee – ein schneller Test für Corbettes Aufrichtigkeit.

»Vielleicht habe ich gar nicht so viel Geld, wie du denkst, Corbette, und vielleicht bin ich gar keine Grundbesitzerin. Vielleicht ist alles, was du gehört hast, nur Übertreibung. Vielleicht warte ich drauf, dass ich entlassen werde, mache mich dann davon und niemand hört oder sieht je wieder etwas von mir.«

Sein Lächeln erstarrte und verflog ganz langsam.

»Was ist denn die Wahrheit?«, fragte er.

Ich lächelte in mich hinein, als ich sah, wie ein Ausdruck von Unsicherheit in diese schönen Augen getreten war und ihren Charme und ihr Funkeln erstickte.

»Also«, sagte ich, schaute mich um und senkte die Stimme. »Ich erzähle es dir, solange du versprichst, es nicht zur Neuigkeit des Tages zu machen.«

»He, ich bin doch keine Tratschtante.«

»Gut. Sie sagten, ich könnte eine Weile hier bleiben, solange ich das Haus sauber halte.«

»Hm?«

»Sie wollten, dass ich noch eine Weile bleibe und das Haus in Ordnung halte. Sie bezahlen mich natürlich dafür, und sie werden mir auch die Fahrkarte dorthin bezahlen, wo immer ich hinterher hinfahren will. Sie hoffen, glaube ich, es in einem Monat zu verkaufen. Jemand muss bis dahin hier bleiben und alles im Auge behalten, und niemand in Mrs Hudsons Familie ist bereit, hier zu wohnen.«

»Willst du damit sagen, dass sie dir keinen Haufen Geld hinterlassen hat?«

»Wohl kaum«, erwiderte ich lachend. »Glauben das die Leute wirklich?«

Er starrte mich an.

»Oh, sie hat es arrangiert, dass ich für ein weiteres Jahr nach England zurückkehre, und ich hoffe ein Stipendium zu bekommen, aber wenn das nicht klappt …«

»Was dann?«

»Ich habe eine Cousine, die Geschäftsführerin in einem Warenhaus in Charlotte ist; sie sagte, sie könnte mir einen Job besorgen, vielleicht in der Kosmetikabteilung.«

»Du meinst, du würdest nicht einmal aufs College zurückkehren?«

»Ich könnte es mir nicht leisten«, sagte ich. »Du weißt doch, wie teuer Colleges sein können, und ich habe keinen Sugardaddy. Ich habe überhaupt keinen Daddy«, fügte ich mit schärferer Stimme hinzu und kniff die Augen ein wenig zusammen.

Er nickte und starrte mich an. Plötzlich sah er aus, als sei ihm sehr unbehaglich. Er rutschte in seinem Sessel herum.

»Was ist das für ein Treffen, das du gleich hast?«, fragte er noch ein wenig skeptisch.

»Oh, nur ein Treffen, um neue Anweisungen zu bekommen«, sagte ich so nonchalant wie möglich. Dann lächelte ich. »Du möchtest mich also zum Essen einladen? Um wie viel Uhr?«, fragte ich.

»Hm? Oh, em … erst muss ich sehen, ob ich uns Plätze reservieren kann. Es ist ein kleines Lokal und in der letzten Zeit sehr populär geworden.«

»Willst du das Telefon benutzen? Das kannst du, so lange es kein Ferngespräch ist. Ich habe versprochen, keine Ferngespräche zu führen«, erklärte ich.

»Wirklich? Also, ich glaube, von hier aus ist es ein Ferngespräch. Ja, ich denke schon. Dann rufe ich von zu Hause an und sage dir Bescheid«, sagte er.

»Prima.«

Er wand sich jetzt wie ein Fisch an der Angel und warf verzweifelte Blicke zur Tür.

»Du hattest Recht, als du sagtest, ich sollte gestatten, dass du dich entschuldigst. Es ist nicht richtig, jemandem zu grollen. Jeder sollte eine zweite Chance bekommen, findest du nicht?«, fragte ich.

»Ja, sicher«, sagte er.

»So sind Jungen nun einmal, aber jetzt bist du älter und klüger. So etwas wird nicht wieder vorkommen, da bin ich mir sicher. Ich weiß einfach, dass du jetzt ein viel rücksichtsvollerer Mensch bist, Corbette. Wie geht es übrigens deinem Bruder?«, fragte ich.

Er schämte sich so sehr, einen Bruder mit Down-Syndrom zu haben, dass er mir ursprünglich erzählt hatte, sein Bruder sei tot. Ich hatte herausgefunden, dass er nicht tot war. Als ich ihn mit dieser Tatsache konfrontierte, hatte er seiner Mutter die ganze Schuld zugeschoben, die den Tatsachen nicht ins Auge sehen konnte. Die Wahrheit war, es war leichter für ihn, einfach zu behaupten, sein Bruder sei tot, weil er für ihn tot war.

»Ihm geht es gut. Keine Veränderungen«, erwiderte er rasch. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Also, ich mache mich jetzt besser auf den Weg, wenn ich für heute Abend etwas festmachen soll.«

»So bald? Wir hatten doch noch gar keine Gelegenheit, über alles zu reden«, sagte ich.

»Also … wir haben doch später noch reichlich Zeit«, meinte er.

»Ja, stimmt. Prima«, sagte ich und erhob mich. Er sprang auf. »Danke für die Rosen und dass du vorbeigekommen bist.«

»Klar.«

»Bitte tratsch nicht herum, was ich dir erzählt habe«, sagte ich und schaute ihn finster an.

Er schüttelte den Kopf.

»Das mache ich nicht.«

»Gut.« Ich lächelte ihn an und brachte ihn zur Haustür.

»Ich rufe dich in ein paar Stunden an. Es sei denn, es ist völlig unmöglich«, sagte er. »Dann rufe ich dich morgen oder übermorgen an, okay?«

»Sicher«, sagte ich. »Vergiss es nicht. Ich freue mich so darauf, dich richtig kennen zu lernen, wie du sagtest.«

Er nickte und marschierte hinaus. Ich war mir sicher, dass ich ihn nie wieder sehen würde.

»Wie ich sehe, hast du immer noch diesen Sportwagen.«

»Oh ja. Ich nehme ihn dieses Jahr mit ins College«, sagte er. »Studenten im ersten Studienjahr dürfen keine Autos auf dem Campus haben.«

»Verstehe«, sagte ich. »Es hat wirklich einige Vorteile, älter zu werden. Jeder hält dich für klüger.«

»Stimmt.«

»Ich weiß, dass ich es auch bin«, sagte ich, als er zu seinem Auto lief. Ich beobachtete, wie er einstieg und den Motor anließ. Dann winkte ich. »Das weiß ich«, wiederholte ich mit zusammengekniffenen Augen.

Er fuhr davon, ich ging hinein und schloss die Tür hinter mir. Einen Augenblick stand ich in der Eingangshalle und dachte nach.

Das war eine Lektion, eine Lektion über Geld und seine Wichtigkeit.

Ich war Corbette dankbar, dass er vorbeigekommen war, um sie mir zu erteilen. Dadurch fühlte ich mich stärker und sah dem Treffen, das gleich stattfinden sollte, entschlossener entgegen.

Natürlich mussten sie nicht klingeln. Das hätte mir klar sein sollen. Victoria besaß ihre eigenen Schlüssel für dieses Haus. Ich räumte gerade das Geschirr und das Glas vom Mittagessen weg, als ich eine Stimme in der Eingangshalle erschallen hörte, die von den Wänden widerhallte wie ein hart geschlagener Tennisball.

»Ich möchte, dass jeder Kunstgegenstand in diesem Haus geschätzt wird. Manche von den Accessoires in diesem Haus sind ebenfalls wertvolle Antiquitäten. Mutter hat nie darauf geachtet, was Dinge kosten. Sie hatte keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung, was sie weggab.«

Ich trat hinaus und schaute die Eingangshalle hinunter auf die drei. Meine Mutter sah schick aus in einer schwarzen Lederjacke, einer Hemdbluse und einem knöchellangen Plisseerock. Tante Victoria trug wie üblich ein zweireihiges Kostüm und Grant einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug.

Vom ersten Augenblick an, da ich meine leibliche Mutter kennen lernte, fiel mir die Ähnlichkeit zwischen uns auf. Sie hatte etwa meine Größe, war schlank und zart gebaut. Wir hatten die gleiche Augenfarbe und die gleiche Kieferform. Ihre Stirn war nicht so breit, ihre Nase war schmaler, aber vollkommen gerade, nur ein klein wenig scharf geschnitten an der Spitze.

Das Grübchen in ihrer Wange blitzte anscheinend ganz nach Belieben auf und verschwand wieder oder es regierte auf einen Gedanken, der ihr in den Sinn kam. Ich fragte mich immer, was meine Mutter sah, wenn sie mich anschaute. Sah sie die Ähnlichkeiten zwischen mir und meinem Vater und weckte das romantische Erinnerungen in ihr? Oder sah sie bloß ein lebendes, atmendes Problem, das sie an ihren großen Fehler erinnerte? Ich hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, dass sie mich je so betrachten würde, wie eine Mutter ihre Tochter anschauen sollte: mit einem Blick voller Stolz und Liebe.

Heute waren ihre Augen dunkel vor Sorge. Jedes Mal, wenn sie mich anschaute, rief ihr Blick mir förmlich zu, ich sollte all den Stress verschwinden lassen. Ich konnte sie beten hören: Lass mich in meine Fantasiewelt zurückkehren und mich meinen glücklichen Illusionen hingeben, die alles Böse ignorieren und Kummer und Sorgen begraben. Bitte, bettelten diese Augen von der ersten Sekunde an, als sie sich in der Eingangshalle mir zuwandte, bitte, Rain.

Grant war so ruhig und distinguiert wie immer. Sein Anzug sah aus, als käme er geradewegs vom Herrenausstatter. Er war ein gut aussehender Mann mit dickem, hellbraunem Haar, das an die Farbe trockenen Heus erinnerte, wenn das Sonnenlicht darin spielte. Das sah ich am Tag von Großmutter Hudsons Beerdigung und danach. Irgendwie schaffte er es, das ganze Jahr über braun gebrannt zu sein. Ich vermutete, dass er in eines dieser Sonnenstudios ging. Sein dunkler Teint betonte das Blau seiner blaugrünen Augen, Augen, die immer voller Intelligenz schauten. Wenn er mich anschaute, spürte ich seine Konzentration, seine Suche nach dem kleinsten Hinweis auf einen Gedanken von mir in meinem Gesicht. Kein Wunder, dass er so erfolgreich vor Gericht und bei Verhandlungen war.

Sobald ich auftauchte, wandte mir Victoria ihr strenges, schmales, knochiges Gesicht zornfunkelnd zu. Sie straffte die Schultern und reckte den langen Hals. Nach dem, was Jake mir enthüllt hatte, suchte ich unwillkürlich in ihrem Äußeren nach Hinweisen darauf. Jetzt fielen mir Ähnlichkeiten des Mundes und des Kiefers auf und selbst die Form der Augen. Sie hatte jedoch nichts von seiner Jovialität, in ihrem Gesicht zeigte sich keine Spur von Freundlichkeit oder Mitgefühl. Was ein Lachen oder Lächeln auf Jakes Lippen zauberte, rief bei ihr nur ein höhnisches Grinsen hervor. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie auch nur im Entferntesten die Möglichkeit einer Verwandtschaft mit ihm in Betracht zog, viel weniger daran dachte, seine Tochter zu sein.

Jake hatte Recht. Ich konnte sie tief verwunden, indem ich ihr das erzählte. Sie hielt sich für so blaublütig.

»Wir gehen alle ins Wohnzimmer«, verkündete sie.

»Ich komme sofort«, sagte ich und kehrte absichtlich in die Küche zurück, um fertig abzuwaschen. Ich wollte sie warten lassen.

Als ich den Raum betrat, sah ich, dass Victorias Zorn sich noch gesteigert hatte, weil ich sie hatte warten lassen. Ihre normalerweise blassen Wangen glühten hochrot, ihre Augen sahen aus, als hätte man Streichhölzer dahinter entzündet.

»Wenn du die Zeit für uns aufbringen kannst, würden wir gerne ein vernünftiges Gespräch führen«, sagte sie.

Meine Mutter und Grant saßen auf dem Sofa. Grant hatte sich zurückgelehnt und die Beine übereinander geschlagen. Meine Mutter fühlte sich offensichtlich sehr unbehaglich, sie ließ die Schultern hängen und hatte den Blick gesenkt. Sie schaute zu mir hoch, um zu sehen, was ich vorhatte.

»Hallo, ihr alle«, sagte ich und setzte mich in den Sessel Victoria gegenüber.

Sie wandte sich an Grant, der offensichtlich ausgewählt worden war, um das Gespräch zu führen. Bestimmt hatten sie beim Mittagessen vorhin jedes Wort geprobt.

»Du hast uns erwartet, nicht wahr?«, begann er leise.

»Nein, nicht wirklich. Ich habe es erst von Jake erfahren, dass ihr kommt, denn er informierte mich, dass er euch in Richmond vom Flughafen abholen würde. Ich musste raten warum.«

Grant drehte sich zu Victoria um, die sich zurücklehnte, die Arme auf den Sessellehnen, und aussah wie eine Königin, die gerade eine Gefängnisstrafe für einen ihrer Untertanen verkünden wollte. Ihr langer, dünner, rechter Zeigefinger bewegte sich nervös auf und ab.

»Ich dachte, du wolltest sie anrufen«, sagte er.

»Was macht das denn schon für einen Unterschied? Sie geht doch sowieso nirgendwo hin«, sagte sie. Dann gab sie nach und fügte hinzu: »Ich wusste, dass Jake es ihr erzählen würde.«

Sie hob den Blick und schaute Grant an, offensichtlich besorgt, er könnte verärgert sein.

»Okay, ich entschuldige mich, dass es aussieht wie ein Überfall, Rain.Wir hatten nicht vor, so bei dir hereinzuplatzen.«

»Das tut ihr nicht«, sagte ich.

»Gut. Jetzt wo die Dinge sich etwas beruhigt haben, sollten wir alle in Ruhe betrachten, was bis jetzt passiert ist und was jetzt geschehen sollte, zum Wohle aller Beteiligten«, fügte er rasch hinzu.

»Das erscheint mir reichlich spät«, sagte ich und wandte mich direkt an meine Mutter, die weiter meinem Blick auswich.

»Ja, über Vergangenheit zu klagen nutzt wirklich niemandem. Es ist wie Wunden wieder aufzureißen, die dann bluten und bluten. Eine Heilung ist längst überfällig«, sagte er.

Grant hatte eine kräftige wohlklingende Stimme, die Aufrichtigkeit und Gefühl vermitteln konnte. Er wird ein toller Kandidat für ein politisches Amt sein, dachte ich.

Ich warf Victoria einen Blick zu und sah, wie eindringlich sie ihn anschaute. Fast so, als spräche er mit ihr und nicht mit mir. Nur wenn sie ihn anschaute, stellte ich fest, wurde ihr Gesicht weich. Das erweckte meine Neugierde fast genauso wie der Zweck dieses Treffens.

»Also, niemand hier will dir absprechen, was dir rechtmäßig gehört. Niemand hier will, dass du in deine früheren unglückseligen Umstände zurückkehrst.«

»Niemand?«, fragte ich und warf einen Blick auf Victoria.

»Niemand«, beharrte er. »Es gibt jedoch ein offensichtliches Missverhältnis der guten Absichten, ein offensichtliches Ungleichgewicht. Mrs Hudson sah dies alles bestimmt als eine Gelegenheit, das Unrecht wieder gutzumachen, das ihrer Meinung nach an dir begangen worden war. Wie jede Mutter wollte sie das Unrecht wieder gutmachen, das ihr Kind begangen hatte«, erklärte er.

Während er über mich und die Affäre meiner Mutter mit einem Afroamerikaner sprach, warf er ihr nicht einmal einen Blick zu. Er könnte genauso gut über irgendeinen Mandanten sprechen. Rein äußerlich ganz der Profi, konnte er sich sogar von seiner eigenen Frau distanzieren.

Meine Mutter hob den Blick nicht vom Boden, ihre rechte Hand an ihrem Hals, als suchte sie eine Perlenkette, die sie streicheln konnte, während die rechte auf ihrem Oberschenkel lag. Sie sah aus, als hielte sie sich an einem Geländer fest, um nicht hinzufallen.

»Ich glaube nicht, dass meine Großmutter irgendetwas aus einem Schuldgefühl heraus tat«, sagte ich. »Dazu war sie nicht der Typ. Sie tat, was sie für richtig hielt, und sie hatte ihre Gründe dafür. Sie können das unverhältnismäßig nennen oder welches Wort Sie auch sonst immer dafür benutzen möchten, aber das hat sie beschlossen, und sie war zu dem Zeitpunkt alles andere als verrückt. Ihr Anwalt ist bereit, das vor Gericht zu beschwören.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Grant, der immer noch in vernünftigem Ton mit mir sprach, »aber wenn diese Dinge vor Gericht kommen, stellt sich manches, was einfach und klar erschien, als ganz kompliziert heraus. Mr Sanger würde im Zeugenstand sofort zugeben, dass er nicht qualifiziert ist, den geistigen Zustand eines Menschen zu beurteilen. Er ist weder Psychiater noch irgendein Arzt. Er ist nur ein Anwalt, der tut, worum sein Mandant ihn bittet.«

Grant lächelte.

»Ein guter Anwalt wird das ganz deutlich machen, und wenn es Grund zu der Annahme gibt, was ich befürchte, dass Mrs Hudson zu der Zeit unter großer psychischer Anspannung stand, können Dinge plötzlich ein anderes Gesicht bekommen, besonders für objektive Dritte.

Jetzt betrachte einmal die Tatsachen, Rain. Du hast gar nicht lange hier gelebt, bevor du nach London gegangen bist. Bevor du abreistest, hatte Mrs Hudson große Probleme damit, Haushaltshilfen zu halten. Entweder konnten diese Frauen sie nicht ertragen oder umgekehrt.«

»Geistig war mit ihr alles in Ordnung«, beharrte ich. »Jake wird das auch beschwören.«

Victoria lachte durch ihre steifen dünnen Lippen hindurch auf.

»Jake! Der Chauffeur? Ein weiterer Experte im Zeugenstand«, höhnte sie.

Fast hätte ich ihr entgegengeschrien: »Dieser Mann, den du als bloßen Chauffeur herabsetzt, ist dein Vater!« Aber ich erinnerte mich an Jakes Warnung, dieses Wissen nur als letzte Zuflucht zu benutzen.

Grant starrte sie rügend an, darauf schüttelte sie den Kopf und schaute weg.

»Wie dem auch sei, Rain, du bist offensichtlich eine sehr intelligente junge Dame«, fuhr er fort. »Du siehst, wohin dies alles führen kann. Im Endeffekt würde die Familie leiden. Dein Leben hinge in der Luft, und möglicherweise würdest du mit sehr viel weniger enden, als du solltest und könntest, wenn du zustimmst, dich mit mir hinzusetzen und vernünftig zu sein.

Es gibt keinen Grund, warum wir alle nicht ganz freundschaftlich damit umgehen und uns um die Interessen der Einzelnen kümmern sollten«, fuhrt er fort. »Ich bin sicher, dass Mrs Hudson das so wollte, stimmt’s?«

Meine Mutter schaute schnell auf, um zu sehen, wie ich reagierte. War ich so wie sie, fragte sie sich bestimmt. Würde ich auf Grants sanfte, besorgte und vernünftige Stimme bereitwillig eingehen? Würde ich einen Weg suchen, um Konflikte und Ungelegenheiten zu vermeiden? Wie konnten meine Reaktionen anders sein als ihre, die immer die einfachste Lösung wählte, ganz gleich wie hoch die Kosten für die eigene Selbstachtung waren?

Ich warf einen Blick auf Victoria und lächelte in mich hinein, als ich mich erinnerte, was sie Großmutter Hudson über meine Mutter gesagt hatte.

»Megan hat Angst, Falten zu bekommen, wenn sie einmal wie eine Erwachsene denkt«, hatte sie gesagt.

Victoria brauchte nur einen Blick auf mein Gesicht zu werfen, um zu sehen, dass das nicht meine größte Sorge war.

»Ich glaube«, erwiderte ich langsam, »dass meine Großmutter getan hat, was sie wollte, und dass sie von ihren Kindern erwartete, dass sie dies respektierten.«

Grant starrte mich einen Augenblick an. Ich sah, dass winzige Fältchen der Frustration, die sich wie schmale Risse auf einer Glasscheibe ausbreiteten, in seinen Augenwinkeln auftauchten.

»Als ich das letzte Mal mit dir sprach, erwähnte ich eine Summe von etwa einer halben Million Dollar. Anwälte werden sehr teuer, für beide Parteien. Ich glaube, wenn du aus diesem komplizierten Chaos mit einer Million Dollar herauskommst, hast du eine wunderbare Chance, dir ein erfolgreiches Leben aufzubauen«, hakte er schnell nach. »Besonders wenn es intelligent angelegt wird. Dabei könnte ich dir helfen.«

Victoria sah aus, als hätte sie einen Pfirsichkern verschluckt, der ihr in der Kehle stecken geblieben war. So rot wurde ihr Gesicht. Meine Mutter wirkte überrascht. Grant hatte wohl eigenmächtig entschieden, das Angebot von einer halben Million auf eine Million Dollar zu erhöhen.

»Das ist viel Geld«, sagte meine Mutter fast flüsternd und lächelte.

»Es ist nicht das Geld, aus dem ich mir so viel mache«, sagte ich.

»Was ist es dann? Warum willst du hier bleiben und dich in solch einen hässlichen Rechtsstreit verwickeln lassen?«, wollte Grant wissen.

»Weil es das ist, was Großmutter Hudson wollte«, sagte ich. Ich wusste, ich wiederholte das fast wie ein Mantra, das mir helfen sollte, die Spannung durchzustehen, aber ich war auch fest davon überzeugt.

»Du kannst doch nicht glauben, dass sie wollte, dass jeder es auf jeden abgesehen hatte, oder? Du kannst doch nicht glauben, dass sie wollte, dass der Familienname in den Dreck gezogen und auf den Titelseiten breitgetreten wird? Du kannst doch nicht glauben, dass sie und ihr Mann ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben für so etwas, oder? Wenn du dir wirklich etwas aus ihr machen würdest und wenn dir wirklich an ihrem Erbe gelegen wäre, würdest du nicht zulassen, dass so etwas passiert.«

»Das gilt auch für jeden von euch«, entgegnete ich.

Jetzt lief Grants Gesicht knallrot an. Er lehnte sich zurück und ließ die heiße Luft durch seine leicht geöffneten Lippen entweichen.

»Möchte jemand etwas Kaltes zu trinken?«, bot ich lächelnd an.

Victoria wirkte befriedigt, als sie sich diesmal Grant zuwandte. Sie sah aus, als hätte sich bewahrheitet, was sie vorhergesagt hatte, und es gefiel ihr, Recht zu haben. Grant schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich an meine Mutter – offensichtlich ihr verabredetes Zeichen zu beginnen.

»Willst du nicht zum Studium nach London zurückkehren?«, fragte sie.

»Ich denke schon, ja. Ich möchte auch meine Familie besser kennen lernen.«

»Wie willst du das anstellen, wenn du in einen Sumpf von einem Rechtsstreit versinkst?«, fragte sie. »Das willst du doch gar nicht, Rain. Damit solltest du dein Leben jetzt nicht belasten. Geh mit Grant ins Arbeitszimmer und arbeite einen Kompromiss aus, damit wir das alles beilegen und wieder eine Familie sein können.«

»Eine Familie? Was denn für eine Familie? Du hast deinen Kindern doch noch nicht einmal gesagt, wer ich wirklich bin. Sie haben mich bei der Beerdigung angeschaut und sich gewundert, warum ich mehr weinte als sie!«, rief ich.

»Um das Problem werden wir uns noch kümmern«, versprach sie.

»Hmmm«, murmelte Victoria.

Sie fand, diese ganze Angelegenheit sei ein Problem, das gar nicht hätte aufgewühlt werden sollen.

»Gut. Mach das, Mutter«, sagte ich und stand auf. »Mr Sanger riet mir, euch an ihn zu verweisen, wenn ihr irgendwelche Fragen hinsichtlich des Testamentes hättet. Ich wollte gerade einen Kaffee kochen, bevor ihr auftauchtet. Möchte jemand einen Kaffee?«, fragte ich.

Alle drei starrten mich an.

»Tu das nicht, Rain«, bat meine Mutter. »Deine Mama hätte das nicht gewollt.«

Ich spürte, wie das Feuer in meinem Herzen mir ins Gesicht stieg und aus den Augen loderte.

»Du hast meine Mama kennen gelernt, Mutter«, sagte ich langsam, weil jedes Wort stach wie ein Pfeil. »Du hast gesehen, wie sie war. Glaubst du, sie war eine Frau, die vor einem Problem davonlief?«

Ich drehte mich um, bevor sie antworten konnte, und ging hinaus. Dabei hatte ich das Gefühl, Großmutter Hudsons Augen ruhten die ganze Zeit auf mir. Ich konnte fast sehen, wie sie lächelte.

Fast sofort begann Victoria sich zu beschweren.

Ich blieb im Flur und hörte zu.

»So viel dazu, dass du sie überzeugen könntest, Megan. Dass du hier warst, hat uns kein bisschen geholfen. All das würde nicht geschehen, wenn du das nicht getan hättest«, erinnerte sie sie nur allzu gerne. »Du hast Grant in eine sehr schwierige Lage gebracht. Was werden wir jetzt tun, Grant?«, hakte sie nach.

Ihre Stimme wurde plötzlich die Stimme einer verzweifelten, viel weiblicheren Frau, die sich Hilfe suchend an ihren Mann wandte.

»Wir müssen Marty Braunstein aufsuchen. Ich hatte gehofft, das geschähe aus einem anderen Grund.«

»Mach dir keine Sorgen darüber, Grant«, beruhigte Victoria ihn. »Im Laufe der Zeit wird sie erkennen, wie lächerlich es ist, wenn sie die Mehrheitseignerin des Grundbesitzes ist. Sie ist jung und will nicht mit all dieser Verantwortung behelligt werden. Glaub mir, nach einer Weile wird sie einem Kompromiss zustimmen. Du musst deinen Ruf nicht aufs Spiel setzen«, meinte sie. »Lass mich die Dinge in die Hand nehmen. Sie will in unsere Angelegenheiten einbezogen werden. In Ordnung, ich werde sie einbeziehen.«

»Das ist eine entschlossene junge Frau«, sagte er. »Wenn nicht so viel auf dem Spiele stünde, würde ich sie bewundern.«

Er stöhnte und stand auf. Ich hörte, wie meine Mutter schniefte.

»Zu spät für Tränen«, fauchte Victoria sie an.

Ich blieb in der Küche und fing an, Kaffee zu kochen. Als ich hörte, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde, dachte ich, alle wären gegangen, aber einen Augenblick später tauchte meine Mutter in der Küchentür auf.

Sie lächelte und schaute sich um.

»Es ist so schwer, hierher zu kommen und meine Mutter nicht zu sehen«, sagte sie. Ihre dunklen Augen huschten nervös in der Küche umher. »Selbst jetzt rechne ich eigentlich damit, dass sie auftaucht, vielleicht durch die Terrassentür, und einen dieser lächerlichen Gartenhüte aufhat.«

»Ich vermisse sie«, sagte ich.

Meine Mutter nickte.

»Das weiß ich.«

Unsere Blicke trafen sich. Wie sehr wünschte ich mir, wir könnten einander lieben, wie eine Mutter und eine Tochter es sollten.

»Warum lässt du dir von Victoria sagen, was du tun sollst?«, fragte ich.

»Victoria war immer die Praktische, die Vernünftige, Rain. Vielleicht lag das daran, dass sie anders aufgewachsen ist, eine andere Erziehung genossen hat. Mein Vater schickte sie nicht auf ein Internat für Reiche und auch nicht auf eine Schule für höhere Töchter. Sie ging zur Wirtschaftshochschule und lernte dort alles über Aktien und Fonds und Obligationen und solches Zeug. Ich hingegen lernte die Regeln gesellschaftlicher Etikette, Dinge, die mich auf die gehobene Gesellschaft vorbereiteten. Vielleicht war ich deshalb auf dem College solch eine Rebellin. Ich habe nichts Praktisches gelernt. Ich war dazu bestimmt, jemanden wie Grant zu heiraten und immer einen Ehemann zu haben, der sich um mich kümmerte und diese Art von Entscheidungen traf.

Bitte denk noch einmal darüber nach, Schätzchen. Wir könnten wirklich eine Familie sein, weißt du.« Mit ihren tränenverhangenen Augen schaute sie mich flehentlich an, ihr sanftes Lächeln verhieß mir, dass mich ein Topf voller Gold am Ende des bald leuchtenden Regenbogens erwartete.

Ich seufzte, denn ich wäre zu gerne die ewige Optimistin gewesen, aber ich glaubte nicht mehr an den Zauber des Regenbogens, besonders wenn sie ihn mir versprach.

»Du hättest mich nicht hierher bringen sollen, Mutter. Großmutter Hudson war einer der wenigen Menschen in meinem Leben, die mich liebten und die ich liebte. Lieben bedeutet auch, jemanden zu ehren und zu respektieren. Das hat sie mich gelehrt. Ich werde nicht ihre Wünsche und Pläne aufgeben, nur um deine Schwester zufrieden zu stellen. Sie hat Großmutter Hudson nie so sehr geliebt wie ich in der kurzen Zeit, in der ich sie kannte.«

Außerstande, das zu leugnen, nickte meine Mutter.

»Ich brauchte dieses Testament nicht, um zu erkennen, wie sehr sie dich liebte, Rain.«

»Dann solltest du es verstehen«, sagte ich. Ich wandte mich von ihr ab, aber sie kam zu mir herüber.

»Du bist ein gutes Mädchen, Rain. Ich wünsche dir wirklich nur das Beste. Ich möchte, dass du glücklich bist und das alles hinter dir lässt. Sei vernünftig. Du bist doch besser dran, wenn du weit weg bist von uns allen«, sagte sie traurig.

Rasch umarmte sie mich und ging dann hinaus. In der Tür blieb sie noch einmal stehen.

»Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte sie.

Ich sah zu, wie sie durch die Eingangshalle ging und dann zur Tür hinaus.

»Ich habe dich schon vor langer Zeit gerufen, Mutter«, murmelte ich, nachdem sie gegangen war.

»Aber du hast nicht darauf reagiert.«

Dunkle Träume

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