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ОглавлениеKAPITEL 3
Auf dem Wind reiten
Das Telefon klingelte am nächsten Morgen so früh, dass ich dachte, es läutete in meinen Träumen. Wer auch immer anrief, gab nicht auf. Schließlich öffnete ich die Augen und merkte, dass ich mir das nicht nur einbildete. Als ich nach dem Hörer griff, schaute ich auf die Uhr und sah, dass es erst halb sechs war.
»Hallo«, sagte ich mit einer so tiefen und erschöpften Stimme, als spräche jemand anders für mich.
»Rain?«, hörte ich. »Bist du das?«
Ich rieb mir die Wangen und richtete mich im Bett auf.
»Roy?«
»Tut mir Leid, dass ich dich so früh anrufe, aber das ist jetzt die einzige Gelegenheit, vielleicht für Tage«, sagte er. »Wie geht es dir?«
»Fünf Minuten, Arnold«, hörte ich jemanden hinter ihm knurren.
»Roy, wo bist du?«
»Ich bin hier, in Deutschland natürlich. Was geschieht jetzt? Kehrst du nach England zurück? Hast du mit deiner leiblichen Mutter gesprochen? Weiß jetzt jeder Bescheid? Ich meine, wer du wirklich bist und so?« Er rasselte seine Fragen schnell herunter und versuchte, einen Haufen Informationen in diese mickrigen fünf Minuten zu stopfen.
Natürlich hatten Roy und ich den größten Teil unseres Lebens gedacht, wir wären Geschwister. Jeder, der sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht hätte, ihn, mich und Beneatha genau anzuschauen, hätte das vermutlich in Frage gestellt.
Meine Züge unterschieden sich so sehr von Roys und Benis, aber der Gedanke, Mama Arnold hätte mich von einem anderen Mann haben können, erschien etwa so weit hergeholt wie die Vorstellung, Außerirdische vom Mars lebten in der Wohnung nebenan. Und es gab keine Möglichkeit für eine arme schwarze Familie, ein Kind zu adoptieren. Ken, der überhaupt kein Vater sein wollte, beklagte sich oft und sagte: »Der Teufel schenkt uns Kinder, um uns in den Alkohol zu treiben.« Roy sagte ihm, dass er dazu keinen Teufel brauchte. Er verstand es selbst besser, sich in den Alkohol zu treiben, als irgendein Teufel es gekonnt hätte.
Ken und Roy stritten viel miteinander, und bis Roy größer und kräftiger wurde, verprügelte Ken ihn auch oft. Gegen Ende unseres gemeinsamen Lebens in Washington begann Roy sich gegen ihn zu wehren und es gab einige wirklich unschöne Auseinandersetzungen, die Mama fast das Herz brachen. Roys Liebe zu ihr war das Einzige, was ihn in Schach hielt – und seine Liebe zu mir.
Sobald Roy herausfand, dass ich nicht seine leibliche Schwester war, gestand er mir seine Liebe, aber es war mir unmöglich, in ihm etwas anderes als einen Bruder zu sehen. Ich sagte ihm das auch oft. Bis zu dem Augenblick, als die Wahrheit enthüllt wurde, war er mein großer Bruder, mein Beschützer. Ich wusste es, und Beneatha wusste es auch, dass er mich ihr vorzog, aber ich versuchte darüber hinwegzugehen und fand Entschuldigungen für ihn, wann immer ich konnte. Nach Beneathas gewaltsamem Tod durch eine Straßengang wollte Mama Arnold uns beide aus dieser Gegend herausbekommen. Sie ermutigte Roy, sich bei der Armee zu verpflichten, und sie selbst zog zu ihrer Tante. Dabei verschwieg sie Roy und mir, wie krank sie wirklich war.
Danach waren Roy und ich eine Weile voneinander getrennt und trafen uns erst wieder, als er mich in London besuchte. Weil ich mich verloren und verwirrt fühlte, zog ich ernsthaft in Betracht, dass wir Mann und Frau werden könnten. Ich ließ zu, dass er mit mir schlief – fast als ein Weg, das Gelände zu sondieren, aber es fühlte sich immer noch nicht richtig an. Ich wusste, dass ich ihm das Herz brach, aber ich konnte es nicht ändern. Vielleicht war es grausam, was das Schicksal uns angetan hatte, aber ich fand auch, wir könnten einander Schlimmeres antun.
»Nein, noch nicht, nicht alle«, sagte ich. »Der Mann meiner Mutter weiß es natürlich, aber öffentlich ist es nicht bekannt, und mein Halbbruder und meine Halbschwester wissen es auch noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht, Roy. Es liegt bei meiner Mutter und ihrem Mann, es ihnen zu erzählen.«
»Sie schämen sich deiner immer noch, Rain. Das ist der Grund«, sagte er.
»Vermutlich.«
»Wer kümmert sich um dich? Tut deine Mutter das wenigstens?«
»Nein«, gab ich zu. »Aber erinnerst du dich daran, dass ich dir erzählte, Großmutter Hudson hätte mich in ihrem Testament bedacht?«
»Ja, klar. Wie viel hat sie dir hinterlassen?«
»Viel, Roy.«
»Viel? Wie viel?«
»Es geht in die Millionen, Roy«, sagte ich.
»Hm? Dollar?«
»Ja«, lachte ich. »Mir gehört ein Mehrheitsanteil des Immobilienbesitzes, Aktien und fünfzig Prozent des Geschäftes.«
»Wow.«
»Aber die Familie ist nicht glücklich darüber und sie sprechen davon, das Testament vor Gericht anzufechten. Sie wollen, dass ich einen Kompromiss eingehe und eine Million Dollar nehme.«
»Wirklich? Was hast du vor?«
»Kämpfen«, sagte ich.
»Kämpfen? Vielleicht solltest du einfach das Geld nehmen und abhauen, Rain. Warum willst du dich einer Familie aufzwingen, die dich nicht haben will?«, fragte er.
Das war natürlich eine gute Frage. Was wollte ich im Endeffekt dabei gewinnen? Vielleicht wollte ich den Tag erleben, an dem sie mich akzeptieren mussten, damit ich ihnen endlich den Rücken kehren konnte. Stolz bäumte sich in mir auf wie ein prächtiges Pferd.
»Okay, Arnold. Leg auf«, hörte ich die Person hinter ihm wieder knurren.
»Wo steckst du, Roy? Warum sagt dir, jemand, du sollst auflegen? Roy?«
»Mir geht es gut«, sagte er.
»Du hast Schwierigkeiten bekommen, weil du nach London gekommen bist, um mich zu besuchen, stimmt’s? Besser sagst du mir die Wahrheit, Roy Arnold«, befahl ich.
»In Ordnung, das stimmt, aber das hat nichts zu bedeuten«, sagte er.
»Bist du im Knast?«
Er lachte.
»So ähnlich. Mach dir keine Sorgen darüber. Ich sitze meine Zeit ab und dann komme ich nach Hause. Ich komme zu dir zurück, Rain. Das verspreche ich«, sagte er.
»Roy …«
»Das war’s. Leg auf«, hörte ich. »Sofort.«
»Tschüs für heute, Rain«, sagte er schnell. Tausende Kilometer entfernt wurde Roy ins Militärgefängnis gesteckt, ein Preis, den er bereit gewesen war zu zahlen, nur um weitere vierundzwanzig Stunden mit mir zu verbringen. Wie sehr wünschte ich mir, er würde mich nicht so sehr lieben.
Ich ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken, aber es war fast unmöglich, wieder einzuschlafen. Was sollte ich jetzt mit meinem Leben anfangen? Wie lange würde diese Auseinandersetzung dauern? Hatte Roy Recht? Sollte ich einfach zusammenpacken und sofort nach England zurückkehren? Wie sehr wünschte ich mir, einen nahe stehenden Menschen zu haben, der mir einen Ratschlag erteilen konnte, jemand, der mehr war als nur ein Rechtsanwalt, bei dem alles auf Gesetzen basierte, die schwarz auf weiß niedergeschrieben waren. Ich hatte ja nicht einmal eine Freundin.
Einsamkeit war wie Rost, sie fraß dich innerlich auf, schwächte deine Entschlossenheit. Am liebsten hätte ich mir die Decke über den Kopf gezogen, um mich von dem Tag und was er bringen mochte abzuschirmen. Dann erinnerte ich mich daran, wie sehr Großmutter Hudson Menschen hasste, die im Selbstmitleid badeten, und wie wütend sie wurde, als ich es einmal wagte, sie zu bemitleiden. Ich erinnerte mich auch daran, wie mein Stiefvater über sein Leben gejammert hatte und wie meine Mama das gehasst hatte.
»Selbstmitleid ist nur ein Weg, der Verantwortung aus dem Weg zu gehen«, pflegte Großmutter Hudson zu sagen. »Ersetze es durch guten altmodischen Zorn und Trotz und du kommst weiter im Leben«, riet sie mir.
»Ich höre dich, Großmutter«, murmelte ich unter der Decke. Manche Menschen besitzen solch einen Einfluss auf einen, dass ihre Stimmen noch Jahre, nachdem sie von uns gegangen sind, in unseren Köpfen widerhallen. Großmutter Hudson gehörte sicher dazu.
Ich warf die Decke zurück und erhob mich, um zu duschen, mich anzuziehen und mir Frühstück zu machen. Während ich dort saß und meinen Kaffee trank, entschloss ich mich, meinem leiblichen Vater einen Brief zu schrieben und zu sehen, ob er mir zurückschrieb und mir einen Rat erteilte.
Lieber Daddy,
wie du weißt, bin ich nach Virginia zurückgekehrt, um an Großmutter Hudsons Beerdigung teilzunehmen. Ich erzählte meiner Mutter, dass ich dich getroffen habe, und sie interessierte sich sehr dafür, wie du darauf reagiertest. Ich erzählte ihr auch von deiner wundervollen Familie.
Sie, mein Stiefvater und Tante Victoria sind außer sich über die Summe, die Großmutter Hudson mir in ihrem Testament hinterlassen hat. Sie wollen, dass ich mit ihnen einen Kompromiss eingehe und mich mit weniger zufrieden gebe, sonst wollen sie, besonders Victoria, mich vor Gericht zerren und das Testament anfechten.
Ich glaube, Großmutter Hudson würde nicht wollen, dass ich einen Kompromiss eingehe. Vielleicht bin ich nur halsstarrig und werde das am Ende noch bedauern, aber im Augenblick habe ich nein gesagt. Mein Anwalt, Großmutter Hudsons Anwalt, glaubt auch nicht, dass ich mich auf einen Kompromiss einlassen muss, aber ich weiß, dass Anwälte Dinge manchmal vor Gericht zerren, um selbst mehr daran zu verdienen. Zumindest behauptet Grant, der Ehemann meiner Mutter, der selbst Rechtsanwalt ist, das. Er denkt, die Anwaltskosten werden so hoch sein, dass wir alle besser dran wären, wenn wir einen Kompromiss schlössen.
Auf jeden Fall könnte all das meine Rückkehr nach London verzögern. Was hältst du davon? Findest du, ich sollte einfach nehmen, was sie mir geben wollen, und gehen, sie und diesen Ort hier für immer verlassen? Vermutlich ist es unfair, dich irgendetwas zu fragen und dich damit in eine Klemme zu bringen. Ich erwarte in keiner Weise, dass du irgendetwas für mich tust. Es ist nur schön, jemanden zu haben, dem ich jetzt vertrauen kann, dem ich schreiben kann und der mir zuhört.
Ich hoffe, alles ist in Ordnung. Ich werde dich informieren, wozu ich mich entschlossen habe und wann ich zurückkomme.
Alles Liebe,
Rain
Ich überlegte, ob ich mit Deine Tochter Rain unterzeichnen sollte, hielt es dann aber für das Beste, nur meinen Namen zu schreiben. Danach adressierte und frankierte ich den Brief.
Kurz vor Mittag hörte ich es klingeln. Natürlich hatte Corbette sich nicht die Mühe gemacht, mich zurückzurufen und mir wegen des Restaurants und unserer Verabredung zum Abendessen Bescheid zu sagen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Jetzt fragte ich mich, ob er beschlossen hatte, noch einmal persönlich wiederzukommen. Vielleicht glaubte er, es lohnte sich, mich noch einmal zu verführen.
Mir stand der Mund vor Überraschung offen, als ich entdeckte, dass es Tante Victoria war. Wann hatte sie beschlossen zu klingeln, statt einfach hereinzuplatzen?
»Ich möchte gerne mit dir sprechen«, sagte sie.
Es war bewölkt und kühler, deshalb trug sie einen dunkelblauen knielangen Wollmantel über ihrem grauen Kostüm. Außerdem hatte sie schwarze Lederhandschuhe an. Ihr Haar, das normalerweise einfach mit einer leichten Welle zurückgebürstet war, dass es aussah, wie im letzten Moment erledigt, wirkte jetzt ordentlicher, gepflegter. Mir fiel auf, dass sie auch etwas Make-up aufgelegt hatte und einen hellrosa Lippenstift. Das machte ihre Züge weicher, und dadurch sah ich größere Ähnlichkeiten mit Jake.
»Ich dachte, es sei schon alles gesagt worden«, erwiderte ich.
»Nein. Darf ich hereinkommen oder willst du mich hier draußen stehen lassen?«
»Komm herein«, forderte ich sie mit einem leichten Achselzucken auf.
Sie trat ein und zog ihre Handschuhe aus.
»Hast du Kaffee gekocht?«
»Kaffee? Ja«, sagte ich noch überraschter.
»Gut.«
Ich stand einen Augenblick da, und sie zog die Augenbrauen hoch.
»Möchtest du ihn in der Frühstücksecke trinken?«, fragte ich.
»Gut«, sagte sie und ging schnell den Flur entlang. Die schweren quadratischen Absätze ihrer Schuhe klapperten wie die Schläge eines winzigen Hammers. Sie hatte so lange Beine, dass ihre Füße bei jedem Schritt leicht knacksten.
Ich lief in die Küche und holte eine Tasse.
»Wie war es, für meine Tante und meinen Onkel in London zu arbeiten?«, erkundigte sie sich, während sie den Mantel auszog und auf einen Stuhl legte.
»Es war nicht sehr angenehm«, sagte ich. »Sie haben diesen Sklaventreiber, Mr Boggs, der das Haus wie eine militärische Operation führt. Mit weißen Handschuhen kontrolliert er, ob ordentlich Staub geputzt und poliert worden ist.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte sie. »Das einzige Mal, als ich dort war, konnte ich es nicht abwarten, wieder abzureisen. Haben sie immer noch hinten dieses alberne kleine Cottage, das sie wie eine Art Mausoleum mit Heathers Spielsachen voll gestopft haben?«
Ich erstarrte einen Augenblick.
»Du weißt also darüber Bescheid?«
»Natürlich«, sagte sie. »Als ich dort war, wäre ich fast am Spieß gebraten worden, weil ich es gewagt hatte, es zu betreten.«
»Ja, das ist noch dort«, sagte ich und goss ihr eine Tasse Kaffee ein. »Milch?«
»Danke«, sagte sie.
Bildete ich mir das nur ein oder benahm sich die schreckliche Tante Victoria mir gegenüber wie ein menschliches Wesen?
Ich goss mir selbst eine Tasse ein und setzte mich ihr gegenüber.
»Ich weiß«, fing sie an, »dass ich hier wie die Böse aussehe. So war das schon immer. Immer wenn ein Problem auftauchte und eine harte, aber wichtige Entscheidung getroffen werden musste, rauschte deine Mutter irgendwohin davon und überließ das mir. So war es nur natürlich, dass ich diejenige war, über die manche Leute sich ärgerten. Selbst meine eigene Mutter ärgerte sich über mich«, klagte sie und ihre Stimme schnappte vor untypischer Emotion über.
Mir fiel ein, dass ich sie bei Großmutter Hudsons Beerdigung nicht weinen gesehen hatte, keine einzige Träne. Sie war diejenige, die alles kontrollierte, dafür sorgte, dass alles perfekt organisiert war bis zu den Parkplätzen für die Autos auf dem Friedhof. Meine Mutter schluchzte und begrüßte mit roten Augen die Trauergäste, umarmte Menschen und ließ sich umarmen. Victoria hingegen wirkte reserviert und schien nicht nur alle Einzelheiten der Beerdigung, sondern auch ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu haben.
»Ich liebte sie auf meine Weise, wenn es mir gestattet war, sie zu lieben. Wie du aus der kurzen Zeit, die du hier gelebt hast, weißt, war meine Mutter eine sehr starke, dominante Frau. Sie hasste Kompromisse und duldete weder Versagen noch Dummheit. Ich dachte, sie würde mich mehr lieben, weil ich ihr ähnlicher war als Megan, aber weißt du was, Rain? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass meine Mutter sich selbst nicht besonders mochte. Das stimmt«, sagte sie, als ich die Augen aufriss, »am Ende ihres Lebens hatte sie festgestellt, dass sie das nicht tat. Deshalb entwickelte sie so rasch eine Vorliebe für dich und behandelte dich mit solch einer untypischen Güte.
Vielleicht sah sie in dir eine dritte Tochter, jemand der nicht so weich war wie Megan, aber auch nicht so stark wie ich. Vielleicht warst du eher wie die Tochter, die sie sich gewünscht hatte. Ich habe vergangene Nacht über all das nachgedacht, um zu verstehen, warum sie dir so viel vom Familienvermögen hinterlassen hat, und ich bin zu diesem Schluss gelangt.«
Sie trank ihren Kaffee und starrte einen Augenblick aus dem Fenster. Hatte ich sie falsch beurteilt? War ich so unfair und wenig mitfühlend, wie ich es ihr vorwarf?
»Wie du gestern selbst erlebt hast, ist meine Schwester dir keine große Hilfe in dieser unerfreulichen Situation, in der wir uns alle befinden«, fuhr sie fort. »Offen gestanden bin ich es leid, die ganze Drecksarbeit in dieser Familie zu erledigen. Schließlich habe ich meine eigenen Ambitionen und Interessen.
Deshalb habe ich beschlossen, einen Waffenstillstand zwischen uns auszurufen, wenn du dafür zugänglich bist.«
»Einen Waffenstillstand?«
»Grant hat Recht. Wir brauchen doch nicht irgendwelchen Anwälten die Taschen zu füllen, die im Endeffekt am meisten von diesem Familienstreit profitieren würden«, erklärte sie. »Meine Mutter hat beschlossen, dass wir beide um jeden Preis zu einer Art Partner werden. Ich werde weiter Geld verdienen für das Familienunternehmen, und du wirst davon profitieren. Wie hört sich das so weit an?«
»In Ordnung«, sagte ich vorsichtig. Ich fühlte mich wie jemand, der darauf wartete, dass das dicke Ende nachkam. »Was muss ich tun?«
»Tun? Es gibt nichts für dich zu tun. Du kannst wieder das Leben führen, das du führen möchtest. Ich stelle mir vor, dass du wieder nach England zurückkehren möchtest. Stimmt das nicht?«
»Doch«, bestätigte ich.
»Also, dann werden wir einfach das Haus und den Grundbesitz zum Verkauf ausschreiben und den Erlös investieren.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Du weißt nicht?«
»Dieses Haus … ich muss immer daran denken, wie wichtig es für Großmutter Hudson war.«
»Ja, das war es, aber sie ist tot, und wir müssen an die Unterhaltskosten denken. Wie kann ein Mädchen wie du daran denken, ewig hier zu bleiben?«
»Ein Mädchen wie ich?«
»Jung, das ganze Leben noch vor sich«, erwiderte sie. »Du kannst dir doch nicht diese ganzen Sorgen aufbürden wollen, besonders wenn du planst, nach England zu gehen.«
»Das stimmt wohl«, sagte ich.
»Natürlich stimmt das. Jeder muss sein Schicksal erfüllen. Meines war es, eine Weile in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, und als er tot war, seinen Platz einzunehmen. Ich habe Gutes für die Familie geleistet. Mutter wollte das nie zugeben und mir zugute halten. Sie war von der alten Schule und hegte diese altmodischen Vorstellungen, dass eine Frau nicht in die Geschäftswelt gehört. Zu ihrer Zeit gaben sich starke Frauen damit zufrieden, ihre Ehemänner subtil wie Marionetten zu manipulieren. Sie blieben im Hintergrund, hinter dem Vorhang dessen, was als anständig und schicklich betrachtet wurde.
Ich erinnere mich genau, dass sie es als so unweiblich von mir empfand, sich für Aktien und Obligationen zu interessieren. Mutter starb ohne zu wissen, was der Unterschied zwischen einem Junk Bond und einer staatlichen Schuldverschreibung ist.«
»Den Unterschied kenne ich auch nicht«, gestand ich.
»Genau das meine ich. Deshalb ist es so wichtig, dass wir miteinander zurechtkommen. Ich bitte dich nicht darum, diese Unterschiede zu lernen oder dein Leben zu ändern, aber es gibt einen beträchtlichen Grundbesitz, der geschützt und erhalten werden muss. Das siehst du doch bestimmt ein.«
»Ja«, sagte ich.
»Gut. Also, ich bin froh, dass wir diesen kleinen Plausch miteinander hatten«, sagte sie. »Ich bringe dir in den nächsten Tagen etwas Papierkram vorbei, einige Angelegenheiten, die wir entscheiden müssen. Keine Sorge, ich werde dir alles ganz genau erklären. Ich habe das Gefühl«, sagte sie, erhob sich und griff nach ihrem Mantel, »dass es viel einfacher sein wird, mit dir darüber zu reden als mit Megan.
Übrigens«, fügte sie hinzu, als sie ihren Mantel anzog, »es überrascht mich nicht, dass sie Brody und Alison nicht die ganze Wahrheit erzählt hat. Morgen, weißt du noch? Alles wird auf morgen aufgeschoben«, sagte sie, lachte und ging.
Ich folgte ihr zur Tür. Sie drehte sich zu mir um, nachdem sie sie geöffnet hatte.
»Ich bin so froh, dass ich mich entschlossen habe, dieses Gespräch mit dir zu führen. Wer will schon so viel Unannehmlichkeiten am Hals haben bei all dem, was wir noch mit unserem Leben anfangen wollen. Und mach dir keine Sorgen wegen Grant. Ich rede mit ihm und sorge dafür, dass er alles versteht«, sagte sie.
Als sie hinausging, fragte ich mich, ob das nicht der wahre Grund war, warum sie so nett und vernünftig war: Grant zu zeigen, dass sie Dinge tatkräftig in die Hand nehmen konnte und besser mit mir fertig wurde als Megan, und ihm zu beweisen, dass sie diejenige war, die ihm half, sein kostbares Image zu retten.
Hoffte sie wirklich, ihrer Schwester den Mann auszuspannen?
Mit dem Wissen, das ich mittlerweile über sie alle besaß, war ich nicht bereit, auch nur einen Groschen darauf zu wetten, was sie einander antun konnten, ganz zu schweigen von mir.
Als ich die Tür schloss, drehte sich mir der Kopf.
Was war gerade geschehen? Was bedeutete das alles? Meinte sie es aufrichtig? Hatte sie wirklich die ganze Nacht darüber nachgedacht?
Am liebsten wäre ich nach oben gerannt, hätte gepackt und wäre mit der ersten Maschine nach London geflogen.
Jake blinzelte misstrauisch, als ich ihm erzählte, was alles passiert war, einschließlich Victorias Überraschungsbesuch und ihres Waffenstillstandsangebotes. Er hatte den Rolls-Royce nach einer routinemäßigen Inspektion in der Werkstatt zurückgebracht, und ich ging hinaus, um mit ihm zu reden.
»Sie ist gerade gegangen«, berichtete ich. »Sie sagt, sie kommt mit Papierkram zurück. Glauben Sie, ich sollte erst Mr Sanger alles lesen lassen?«
»Natürlich«, erwiderte er sofort. »Lassen Sie nie in Ihrer Aufmerksamkeit nach und schließen Sie nie die Augen, wenn Victoria im Spiel ist«, warnte er mich.
Ich lächelte.
»Es ist nicht nötig, dass Sie mich davor warnen, Jake, aber ich muss schon sagen, dass Sie sich nicht gerade wie ein stolzer Vater anhören.«
Er lachte und wurde dann ernst.
»Mit ihrer Erziehung habe ich nichts zu tun. Everett hat den größten Einfluss auf sie ausgeübt, einen viel größeren als Frances, trotz allem, was Victoria Ihnen vielleicht erzählt hat. Everett brachte ihr bei, wie man im Geschäftsleben emotional unbeteiligt, analytisch und kalt zu Werke geht. Ich erinnere mich, dass sie Frances einmal erzählte, Everett hätte sie gewarnt, dass sie es in der Geschäftswelt hauptsächlich mit Männern zu tun haben würde und dass Männer in dieser Welt wenig Achtung vor Frauen hatten. Sie würden immer versuchen, sie auszunutzen, zu betrügen, zu übervorteilen. Everetts Rat an Victoria lautete, sich naiv, unschuldig und schwach zu geben, und wenn sie genug Informationen besaß, den Konkurrenten an die Kehle zu gehen.
Im Laufe der Zeit genoss sie das. Er brachte ihr bei, Erfolg in der Geschäftswelt zu haben, er machte sie zu einer Jägerin, deren Beute das Ergebnis guter Gelegenheiten und schwacher Gegner war. ›Wenn Daddy noch lebte, wäre er stolz darauf, was ich geleistet habe‹, pflegte sie zu sagen.
Sie gleicht sehr meinem Großvater«, sagte Jake. »So weit ich mich noch an ihn erinnere, heißt das.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch, Rain. Ich halte es Victoria zugute, dass sie so erfolgreich im Geschäft ist. Everett hatte Recht. Die Männer hätten sie zum Frühstück verspeist, wenn sie nicht so entschlossen und clever wäre, wie sie es ist. Man bringt wenig Mitgefühl mit einem Konkurrenten auf, wenn es darum geht, Geld zu machen. Je höher die Ziele, desto geringer das Mitleid. Es gibt einiges, was man von Victoria lernen kann.
Sie betrachtet sie jedoch als einen ihrer Konkurrenten«, fuhr Jake fort. »Daher lautet mein Rat: Halten Sie sich den Rücken frei.«
»Okay, Jake.«
Er nickte und schaute sich um. Der Himmel war wolkenlos. Es stellte sich heraus, dass heute einer der schönsten Tage seit meiner Ankunft war. Der Wind war wärmer, die Luft ganz klar. Alles glitzerte.
»Wissen Sie, was Sie heute tun sollten«, meinte er. »Sie sollten mit Rain zum ersten Mal ausreiten. Sie wartet darauf. Wie wär’s?«
»Ich weiß nicht.«
»Kommen Sie. Es wird Ihnen gefallen. Sie hat nach Ihnen gefragt«, sagte er.
Ich lachte. Meinen Reitunterricht in Dogwood hatte ich sehr genossen, und ich freute mich darauf, wieder im Sattel zu sitzen.
»Okay, Jake«, sagte ich und ging, um mir Reithose und Reitstiefel anzuziehen, eine Ausstattung, die Großmutter Hudson mir für Dogwood gekauft hatte.
»Sehr professionell«, lobte Jake, als ich zurückkam. »Rain wird sehr beeindruckt sein.«
»Wir werden sehen«, sagte ich, und wir fuhren zu der Farm, auf der Jake sein Pferd untergebracht hatte.
Im Stall war ich begeistert, wie schön Rain geworden war. Sie war ein kastanienbraunes Pferd mit einer fast blonden Mähne. Sie schaute mich voller Neugierde an, als ich näher kam. Dann hob sie ihr linkes Vorderbein und stampfte auf den Holzboden.
»Das ist ihre Art, hallo zu sagen«, erklärte Jake mir. »Sie sagt nicht jedem hallo, Sie haben also einen tollen Anfang gemacht.«
Ich lachte und kraulte ihr die Schnauze. Jake gab mir einige Zuckerwürfel, um sie zu füttern, während er Sattel und Zügel holte. Ich wusste, wie man ein Pferd füttert, die Handfläche flach hält und sie die Würfel herausknabbern lässt. Sie nickte.
»Das war ihr Danke«, sagte Jake, als Rain zurückwich. Jake legte ihr den Sattel auf und befestigte den Gurt. »Das sollten Sie selbst machen. Stimmt’s?«
»Das war eines der ersten Dinge, die sie uns im Reitunterricht beigebracht haben«, bestätigte ich.
»Sie legen die Trense an«, forderte er mich auf und ich folgte ihm. Rain leistete keinerlei Widerstand.
Danach sah ich zu, wie Jake die Hufe reinigte. Er zog den Sattelgurt noch einmal nach und bat mich aufzusitzen, damit er die Steigbügel einstellen konnte. Als das erledigt war, führte er uns aus dem Stall.
»Reiten Sie mit ihr nach Westen. Der ausgetretene Pfad, den Sie dort sehen, führt auf den Gipfel dieses Hügels«, sagte er und deutete dorthin. »Von dort können Sie übrigens auf Ihren Besitz hinunterschauen, auf das Haus und alles rundherum. Folgen Sie weiter dem Pfad, er führt Sie wieder hierher zurück. Das sollte etwa anderthalb Stunden dauern.
Wenn Sie sie leicht mit den Beinen antreiben und sich ein bisschen vorwärts beugen, fällt sie in einen leichten Galopp. Das mag sie, aber sie wird Sie auch gerne auf die Probe stellen und sich widersetzen, wenn Sie sie zurücknehmen. Lassen Sie ihr nicht ihren Willen, kein bisschen. Sie ist wie ein verzogener Teenager. Sobald Sie ihr klar gemacht haben, dass Sie das Sagen haben, ist sie lammfromm. Okay?«
»In Ordnung, Jake«, sagte ich.
»Einen schönen Ritt. Ich warte auf Sie«, sagte er. »Ich muss mal mit dem Burschen reden, dem der Stall gehört.«
Er ging davon. Mein Herz raste. Ich spürte die große Kraft des Pferdes unter mir. Ungeduldig verdrehte es den Hals, weil ich so zögerte, aber ich hielt die Zügel einen Moment lang fest, weil ich tun wollte, was Jake mir empfohlen hatte.
»Wir gehen, wenn ich so weit bin«, sagte ich, dann lockerte ich den Griff und drückte die Schenkel ganz sanft zusammen. Sie ging vorwärts, den Kopf hoch aufgerichtet stolzierte sie auf den Weg zu. Ich schaute mich um und sah, dass Jake mich beobachtete.
»Genau so«, rief er. »Sie sitzen aufrecht und in perfekter Haltung. Ich wusste es doch.«
Er hatte Recht. Wenige Minuten, nachdem ich losgeritten war, kam alles, was ich gelernt hatte, und meine frühere Reiterfahrung wieder. Nachdem ich in Dogwood meine anfänglichen Ängste überwunden hatte, war ich leidenschaftlich gerne geritten. Die Ironie, dass ein armes Mädchen, aufgewachsen im Ghetto, plötzlich in teurer Reitkleidung zusammen mit einigen der reichsten jungen Frauen der Gegend unterrichtet wurde, entging mir nicht. Selbst jetzt brachte es mich zum Lächeln. Wenn ich früher zu Pferde saß, dachte ich immer daran, dass Mama Arnold vor Lachen brüllen würde und ihr dabei Tränen des Glücks über die Wangen laufen würden.
Ich spürte Rains Drang loszugaloppieren. Sie zog an den Zügeln, warf den Kopf hin und her, schnaubte, wieherte, tat alles, außer sich aufzubäumen und mich abzuwerfen. Ich zog die Zügel und ließ sie stillstehen. Sie senkte den Kopf, warf ihn hin und her, hob ihn wieder und scharrte mit dem rechten Vorderhuf. Schließlich beruhigte sie sich, und ich ließ sie langsam vorwärts gehen. Nach etwa fünf Minuten ließ ich ihr ein wenig die Zügel schießen, und sie fiel in einen leichten Galopp. Es war wunderschön – wie auf dem Wind zu reiten. Dann hatte ich Angst, ihr zu viel Spiel zu geben, und zog sie zurück, als wir uns dem Hügel näherten.
Langsam ritten wir hinauf. Ich blieb stehen und schaute mich um, wie Jake mich angewiesen hatte. Dort lag Großmutter Hudsons schönes großes Haus, das jetzt zum größten Teil mir gehörte, ins Tal geschmiegt. Der See glänzte wie Silber. Hoch über ihm kreisten zwei Krähen. Den Besitz aus dieser Perspektive zu sehen erfüllte mein Herz mit Freude.
Wie konnten wir ihn einfach verkaufen als eine Investition, das Land und das Haus behandeln wie irgendeine Aktie auf dem Markt? Sie besaßen zu viel Persönlichkeit, Geschichte. Das war nicht einfach ein Besitz; es war ein Zuhause.
Victoria würde mit mir deswegen kämpfen müssen, beschloss ich. Als ich das Anwesen aus dieser Höhe sah, war ich überzeugt davon, dass es Großmutter Hudsons Absicht war, mir die Kontrolle darüber zu geben, weil ich die Bedeutung eines Heims erkennen würde, es beschützen und schätzen würde.
Rain schaute hinüber, als ob auch sie die Aussicht zu schätzen wüsste. Sie war überhaupt nicht ungeduldig. Ich streichelte ihr den Hals.
»Bald werden wir einmal dort hinüber reiten, Rain. Du kannst mich dann besuchen«, versprach ich ihr. Dann folgten wir weiter dem Weg, durch einige Wäldchen, vorbei an einem funkelnden Wasserlauf, wo die Nachmittagssonne die Steine des Flusses in Juwelen und Kristalle verwandelte, als das Licht durch die umstehenden Bäume fiel.
Ich gab meiner vierfüßigen Namensvetterin noch einmal Gelegenheit zu galoppieren; dann verlangsamten wir das Tempo und ritten gemächlich zum Stall zurück, wo Jake uns erwartete. Er saß auf einem Stuhl und las die Zeitung. Als er sah, dass wir näher kamen, erhob er sich.
»Nun?«
»Es war wunderbar, Jake. Danke.«
»Sie sieht aus, als hätte sie ein gutes Training absolviert, Prinzessin. Gut gemacht.«
Nachdem wir mit ihr ein wenig hin und her gegangen waren und sie sich abgekühlt hatte, striegelte ich sie etwa eine halbe Stunde lang. In Dogwood ließen sie uns immer unsere Pferde striegeln. Das ist die beste Methode, sie an einen zu gewöhnen. Als Jake und ich gingen, war es bereits später Nachmittag.
»Ich sehe dich bald wieder, Rain«, versprach ich ihr. Sie drehte den Hals und nickte, als hätte sie mich genau verstanden.
»Das werden Sie«, sagte Jake. »Wenn Sie nach England zurückkehren, sollten Sie vielleicht auch reiten«, schlug er vor, als wir in das Auto stiegen.
»Vielleicht«, sagte ich. Ich schaute mich zu dem Reiterhof um, als wir davonfuhren. »Es ist wirklich schön hier, Jake. Ich habe dort oben eine Entscheidung getroffen. Ich werde nicht verkaufen«, sagte ich. »Solange ich kann, werde ich das Haus behalten.«
Er lachte.
»Gut«, sagte er.
»Wenn ich nach England zurückkehre, sollten Sie dort einziehen und sich darum kümmern«, fügte ich hinzu.
»Ich weiß nicht recht, Prinzessin.«
»Ich schon. Denken Sie darüber nach, Jake. Eines Tages möchte ich gerne hierher zurückkommen, weil dies mein Zuhause ist. Ich weiß, dass Sie sich darum kümmern werden, dass alles gut in Schuss ist. Okay?«
»Ich weiß nicht, Prinzessin«, wiederholte er. »Es birgt eine Menge Erinnerungen für mich. Ich werde es mir überlegen«, versprach er.
Tief in Gedanken versunken lehnte ich mich zurück. Träumte ich nur, schuf ich mir eine Fantasiewelt, um der harten Realität zu entfliehen? Wie konnte ich jemals hierher zurückkehren? Wohin würde ich zurückkehren?
»Wer ist das denn?«, fragte er, als wir die Auffahrt zu Großmutters Anwesen hinauffuhren. Ein silbernes Corvette-Kabrio parkte vor dem Haus.
Hatte Corbette noch einen anderen Sportwagen, fragte ich mich.
Ich stieg aus und näherte mich dem Auto. Dann hörte ich eine Stimme, die mich vom Bootssteg her rief. Mein Halbbruder Brody winkte mir.
Jake hatte gewartet, um zu sehen, ob ich ihn noch brauchte.
»Wer ist es?«, fragte er blinzelnd.
»Es ist Brody«, sagte ich.
»Oh.«
»Megan muss ihm schließlich die Wahrheit über mich erzählt haben«, sagte ich.
Jake nickte.
»Dann wollt ihr beide wohl ein bisschen ungestört sein. Ich komme morgen wieder. Sie wissen, wo ich bin, wenn Sie mich brauchen. Danke, dass Sie Rain ihren Auslauf verschafft haben«, sagte er und fuhr davon, als Brody schnell näher kam.
Voller Erwartung stand er dort.
»Ich habe fast eine Stunde auf dich gewartet. Fast hätte ich aufgegeben. Ich dachte, du wärst weggegangen, vielleicht zurück nach England. Meine Mutter schien nichts über deine Pläne zu wissen, als ich sie danach fragte«, fuhr er fort.
»Ach ja?«
»Ich wusste, dass sie und mein Vater hier draußen gewesen waren, aber sie wollte nicht darüber reden.
Deshalb«, sagte er achselzuckend und schaute sich um, »beschloss ich, mit meinem neuen Auto die erste große Tour hierher zu machen. Gefällt es dir? Dad hat es mir vor einer Woche gekauft wegen meiner guten Noten und meiner Leistungen auf dem Footballfeld – mir ist dieses Jahr eine Rekordzahl von Touchdowns gelungen, weißt du«, berichtete er stolz.
Er sprach schnell, offensichtlich nervös, was so gar nicht zu dem Brody passte, den ich bisher kennen gelernt hatte. Er wirkte immer so selbstsicher, voller Selbstvertrauen, fast arrogant. Dazu hatte er auch einigen Grund. Er war ein sehr gut aussehender junger Mann, groß – fast einen Meter neunzig – , seine Schultern waren so breit, dass er fast den Türrahmen damit füllte. Heute trug er wie beim ersten Mal, als ich ihn kennen gelernt hatte, sein blau-goldenes Schuljackett und eine schwarze Hose mit weichen schwarzen Lederslippern. Sein Haar war so rabenschwarz wie meines, aber seine Augen waren eher grün als braun, obwohl auch haselnussbraune Flecken in ihnen funkelten. Er hatte einen Mund wie ich, aber einen festen, entschlossen wirkenden Kiefer. Sein Teint war kräftig mit einem rosa Hauch auf den Wangen und vollen dunkelroten Lippen.
»Du meinst, deine Eltern wissen nicht, dass du hierher gekommen bist?«, fragte ich.
»Mittlerweile wissen sie es vermutlich. Ich habe ihnen einen Zettel in der Küche hinterlassen. Letztes Mal, als ich das machte, kam dieses gemeine Gör von einer Schwester zuerst dorthin und warf den Zettel in den Mülleimer, um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich vermutete, dass sie so etwas gemacht hatte, als ich zu meinem wütenden Vater nach Hause kam. Sofort durchsuchte ich die Küchenabfälle und fand den Notizzettel. Als ich ihn Dad zeigte, gab er Alison einen Monat lang Hausarrest. Aber wie üblich wurde ihre Strafe gemildert und sie durfte nach einer Woche wieder raus.«
»Deinen Eltern wird es nicht gefallen, dass du hierher gekommen bist, Brody«, sagte ich.
»Warum nicht?«, fragte er mit unschuldigem Blick.
So viel zum Versprechen meiner Mutter, ihm und Alison endlich die Wahrheit zu sagen. Hatten sie Brody überhaupt von Großmutter Hudsons Testament und dem Streit darüber erzählt?
»Du warst reiten, ja?«, fragte er.
»Jake bat mich, sein Pferd zu bewegen.«
»Ich bin bisher nicht viel geritten, aber ich würde es gerne«, sagte er.
Er warf einen Blick auf das Haus.
»Ich muss immer denken, ich sehe gleich Großmutter Hudson. Es fällt mir schwer, an dieses Haus ohne sie zu denken.«
»Ja.«
»Also«, meinte er. »Ich würde dich gerne irgendwo nett zum Essen einladen.«
»Musst du nicht nach Hause fahren? Es ist doch eine lange Fahrt«, gab ich zu bedenken.
»Was glaubst du, was ich vorhabe, herfahren, am Haus zu wenden und wieder nach Hause rasen?« Er lachte. »Es war eine lange Fahrt. Du hast Recht. Ich muss schon etwas mehr tun, damit es sich gelohnt hat«, sagte er und warf mir sein charmantes Lächeln zu.
»Ich bin ein bisschen müde, Brody«, sagte ich. »Ich bin schon eine ganze Weile nicht mehr geritten, und es verlangt einem eine Menge ab, besonders wenn man mit einem neuen Pferd anfängt. Man muss manchmal sehr streng sein, und das strengt dich selbst auch an.«
»Ja, sicher«, sagte er. Er schaute zu Boden, sah dann aber mit strahlendem Blick wieder auf. »Dann hast du bestimmt nicht viel Lust zu kochen. Weißt du, was ich mache? Ich kennen nicht weit von hier einen chinesischen Schnellimbiss. Ich hole uns ein paar Gerichte, Frühlingsrollen und Glückskekse. Was meinst du dazu?«
»Du solltest wirklich nach Hause aufbrechen, Brody.«
»Sei doch nicht albern. Nun komm schon. Wir hatten noch nie Gelegenheit, einander kennen zu lernen, und meine Großmutter hatte dich offensichtlich sehr, sehr gern. Wenn sie dich mochte, musst du etwas Besonderes sein. Sie mochte nicht sehr viele Leute.«
»Brody, hör mal zu …«
»Was magst du, Hühnchen, Shrimps, Hummer? Vergiss es. Ich hole alles drei und du kriegst die Reste«, schlug er aufgeregt vor.
»Brody …«
»Ich bestehe darauf«, sagte er. Er schaute zum Haus hinüber. »Technisch gesprochen gehört mir doch ein Teil des Hauses durch meine Mutter, stimmt’s?«
Ich starrte ihn an. Er war so überschwänglich und in mancher Hinsicht so unschuldig im Vergleich zu mir. Was sollte ich tun? Einfach mit der Wahrheit herausplatzen und für noch mehr Ärger in dieser Familie sorgen? Warum brachte meine Mutter nicht den Mut auf, das Richtige zu tun, damit so etwas nicht passierte? Wenn sie es nicht konnte, hätte Grant es tun müssen, fand ich, oder war seine Angst, sein kostbares öffentliches Image zu beflecken, so groß, dass er mit all den Lügen in seinem Haus leben konnte?
»Erwartest du jemand anders? Ist es das? Diesen Burschen, mit dem du vergangenes Jahr in dem Theaterstück aufgetreten bist vielleicht?«
»Nein«, widersprach ich schnell. Ich hätte darüber nachdenken und diese Gelegenheit beim Schopfe packen sollen, aber ich reagierte nicht schnell genug.
»Ich weiß, dass du keine andere Verabredung hast. Du sagtest doch, du wärst müde. Stimmt’s?«
»Nein, ich habe heute keine andere Verabredung«, gab ich zu.
»Also? Dann ist es doch in Ordnung, oder?«, fragte er. Er hob die Arme. »Dir sind alle denkbaren Entschuldigungen ausgegangen, Rain. Es sei denn, du hast Angst, mir zu sagen, dass du mich nicht ausstehen kannst.«
»Natürlich ist es das nicht, Brody.«
»Also?«
»Okay«, gab ich nach.
»Toll.«
Er sprang förmlich in sein Auto.
»Ich muss dich einmal zu einer Spritztour in diesem Auto mitnehmen. Es ist wie ein kleines Flugzeug«, sagte er. Er ließ den Motor an und lächelte, als er Gas gab. »Ich bringe dir etwas Moo Goo Gai Pan mit«, sagte er und wirbelte mit dem Auto um mich herum. »Ich bin zurück, bevor du Kung Fu auf Chinesisch sagen kannst.«
Ich musste lachen. Warum sollte ich eigentlich gemein oder unfreundlich zu ihm sein?
Er winkte mir zu und raste die Auffahrt zu schnell hinunter, so dass er hart auf die Bremse treten musste, um einen langsamen Kombi vorbeizulassen. Er schaute sich zu mir um, lächelte, hob die Hände und fuhr dann davon.
»Das ist ein Fehler«, sagte ich. »Aber es ist nicht alleine meine Schuld. Das Ganze ist nicht meine Schuld.«
Ich ging ins Haus, erfüllt von aufgewühlten und verwirrten Gefühlen. Wann und wie würde die Wahrheit zu Tage treten und endlich alle Lügen aus dieser Familie wegwischen?