Читать книгу Haus der Tränen - V.C. Andrews - Страница 8
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Aschenputtels Albtraum
»Was glaubst du, wer du bist, eine Prinzessin?«, brüllte Onkel Reuben von der Tür. »Alle sind auf und frühstücken. Clara wird nicht auf dich warten.«
»Ich war gerade dabei aufzustehen«, sagte ich. »Mir war nicht klar, wie spät es ist. In diesem Zimmer ist keine Uhr, und ich habe keine Armbanduhr.«
»Keine Uhr? Ich werde dafür sorgen, dass du eine Uhr bekommst. Solche Ausreden funktionieren hier nicht.«
»Das ist keine Ausrede. Es ist die Wahrheit«, entgegnete ich.
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er in der Tür. Erst warf er einen Blick den Flur hinunter, dann betrat er das Nähzimmer.
»Wir werden jetzt sofort einige Regeln festlegen«, verkündete er. »Erstens, du stehst vor allen anderen auf. Du deckst den Frühstückstisch und setzt den Kaffee auf. Bevor du zur Schule gehst, sorgst du dafür, dass der Tisch abgeräumt und Geschirr und Besteck wieder verstaut sind. Ich erwarte, dass du Tante Clara im Haushalt hilfst, wenn du aus der Schule kommst. Ich will sehen, wie du das Haus saugst, Böden wischst und Fenster putzt. Du wirst ihr auch bei der Wäsche helfen. Das hier ist keine Freifahrkarte, nur weil deine Mutter eine solche Versagerin ist, verstanden?«
Ich starrte ihn an.
»Wenn ich dir eine Frage stelle, erwarte ich eine Antwort. Du brauchst Disziplin. Du bist wie ein wildes Tier, das dort in diesem Loch mit meiner betrunkenen Schwester gehaust hat. Das alles hat heute ein Ende, hörst du? Nun?«
»Ich habe nicht wie ein wildes Tier gelebt«, fauchte ich ihn an.
Er grinste mich blöd an. »Es sieht ganz so aus, als würde ich dein Vormund. Das bedeutet, das du mir disziplinarisch unterstellt bist, und ich warne dich, Raven, ich verwöhne keine Kinder, indem ich die Rute spare. Verstanden? Nun?« Er erhob seine Riesenhand. Der Handballen war so breit wie ein Paddel.
»Ja«, sagte ich. »Ja.«
Er stand drohend über mir, sein Gesicht vor Wut dunkelrot. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er zuschlagen würde, wenn er es für angemessen hielt, und ich hatte Angst.
»Raven«, murmelte er mit abfällig verzogenen Lippen. »Was ist das eigentlich für ein Name für ein Mädchen? Sie muss betrunken gewesen sein, als du geboren wurdest.«
»Ich mag meinen Namen«, beharrte ich. Er jagte mir Furcht ein, aber ich hatte auch meinen Stolz.
Er stand dort noch einige Minuten und starrte auf mich hinunter. Ich zog die Decke bis zu den Schultern hoch, aber ich hatte das Gefühl, er könnte direkt durch mich hindurch sehen.
»Ich weiß, dass du älter wirst und schnell wächst, und ich erinnere mich daran, was mit deiner Mutter passiert ist, als die Jungen anfingen, hinter ihr herzugaffen. Diesen Weg schlägst du besser nicht ein. Ich will nicht, dass du meine Jennifer verdirbst, hörst du?«
Ich wandte mich ab, die Tränen in meinen Augen machten es mir unmöglich, weiter zu ihm hochzuschauen. Ich war doch keine Krankheit. Ich würde seine kostbare Jennifer schon nicht anstecken.
Er grunzte und verließ das Zimmer. Ich konnte hören, wie er Tante Clara erzählte, was er mir gesagt hatte und welche Aufgaben er mir zugeteilt hatte. Sie widersprach ihm nicht. Ein wenig später hörte ich, wie er mit Jennifer und William das Haus verließ. Ich wartete noch ein wenig und ging dann hinaus.
»Hast du Hunger, Liebes?«, fragte Tante Clara, als ich auf dem Weg zum Badezimmer war.
»Nur ein bisschen«, erwiderte ich.
»Der Kaffee ist noch warm, und ich kann dir Eier machen, wenn du willst, oder auch Haferflocken.«
»Ich komme schon allein zurecht, Tante Clara. Du musst nicht denken, dass du mich bedienen sollst«, sagte ich.
»Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhigte sie mich.
Ich zog mich an und machte mir Cornflakes zurecht. Tante Clara goss mir Orangensaft ein und setzte sich zu mir, während ich aß.
»Reuben bellt schlimmer, als er beißt«, sagte sie und versuchte mich zu beschwichtigen. »Er ist nur außer sich, weil alles solch eine Überraschung war. Kümmere dich nicht um all diese Anweisungen, die er dir gegeben hat.«
»Es macht mir nichts aus, dir zu helfen«, sagte ich ihr. »Zu Hause habe ich sowieso das meiste gemacht.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie nickte und nippte an ihrem Kaffee.
»Tante Clara, was passiert mit meiner Mutter? Muss sie wirklich so lange ins Gefängnis?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Reuben sprach davon, dass sie vielleicht in ein Drogenrehabilitationsprogramm aufgenommen wird, aber wir müssen abwarten. Du weißt, sie steckt nicht zum ersten Mal in großen Schwierigkeiten«, fügte sie hinzu.
Ich nickte. Es hatte keinen Zweck, so zu tun, als stimmte das nicht, oder sich in einer Traumwelt zu verkriechen. Wer lebte denn schon gerne hier bei einer Cousine wie Jennifer und einem Onkel wie Reuben? Da ging ich lieber auf die Straße.
»Ruh dich jetzt ein bisschen aus, Liebes«, sagte Tante Clara. »Du hast einen furchtbaren Schock erlitten. Nachdem ich mich um die Hausarbeit gekümmert habe, essen wir zu Mittag und direkt danach fahre ich mit dir zur Schule, um dich anzumelden, in Ordnung?«
»Ich helfe dir bei deiner Hausarbeit, Tante Clara. Das will Onkel Reuben doch sowieso«, sagte ich, »und so sorgen wir auch für Frieden.«
»Du bist doch wirklich clever«, meinte sie lächelnd. Sie tätschelte meine Hand. »Jetzt iss erst mal in Ruhe dein Frühstück zu Ende.«
Sie ging nach oben. Als ich fertig war, räumte ich den Tisch ab und spülte das gesamte Geschirr. Gerade als sie begann, Jennifers Zimmer aufzuräumen, gesellte ich mich zu ihr. Schockiert über das Chaos dort, blieb ich abrupt in der Tür stehen. Überall war Kleidung verstreut, auf dem Boden neben dem Bett stand ein Teller mit einem Rest Apfelkuchen. Daneben lag das Telefon. Sie hatte wohl mit irgendwelchen Freundinnen telefoniert und dabei Kuchen gegessen. Aber warum hatte sie ihn einfach dort liegen lassen? Machte sie sich keine Sorgen über Mäuse und Ungeziefer?
Das Bett war nicht gemacht und das Badezimmer, das sie sich mit William teilte, sah aus, als sei es in aller Eile verlassen worden. Das Make-up lag offen da, im Becken stand dreckiges Wasser, ein offener Lippenstift lag auf dem Beckenrand, aus der offenen Zahnpastatube tropfte die Creme, ein Waschlappen baumelte an der Türklinke, und auf dem Boden neben der Toilette stapelten sich Zeitschriften. Die Tür der Dusche stand offen, ein nasses Handtuch war auf den Boden geworfen worden.
Tante Clara begann sauber zu machen, ohne einen Kommentar über dieses Chaos abzugeben.
»Warum lässt sie ihr Zimmer und das Badezimmer so zurück, Tante Clara? Wenn wir schon davon reden, in einem Saustall zu leben«, murmelte ich. »Vermutlich schaut Onkel Reuben nicht allzu oft hier herein.«
»O doch«, sagte Tante Clara mit einem tiefen Seufzer. »Und ich bin auch dahinter her, dass sie Ordnung hält, aber Jennifer … Jennifer ist ein wenig verwöhnt«, gab sie zu.
»Ein wenig? Hier sieht’s aus, als sei sie völlig verzogen«, sagte ich, aber ich sprang ein und half meiner Tante. Ich putzte das Badezimmer, bis es makellos glänzte, ich wienerte sogar die Spiegel, die mit Lippenstift und Make-up verschmiert waren.
Williams Zimmer war viel aufgeräumter und sauberer. Das Unordentlichste war sein ungemachtes Bett. Nachdem ich mit seinem Zimmer fertig war, ging ich hinunter und räumte im Nähzimmer auf. Ich schob das Schlafsofa wieder zusammen, sodass es dort nicht wie in einem Schlafzimmer aussah. Als ich meine paar Sachen ordentlich weggeräumt hatte, konnte niemand sehen, dass ich dort geschlafen hatte.
»Das musst du nicht jeden Tag tun«, meinte Tante Clara. »Du kannst doch einfach die Tür schließen.«
»Ich bin sicher, dass Onkel Reuben das nicht gefallen würde«, entgegnete ich.
Sie widersprach nicht. Obwohl er nicht hier war, schien er wie ein drohender Schatten über uns zu schweben. So wie Tante Clara sich umschaute, schien sie zu glauben, dieser Schatten könnte ihm verraten, worüber wir redeten.
Nachdem wir die Schlafzimmer aufgeräumt hatten, begann sie das Wohnzimmer zu saugen. Ich polierte die Möbel und fegte den Küchenboden. Ich musste mich beschäftigen, damit ich nicht zu viel an Mama im Gefängnis denken musste.
»Du arbeitest gut mit, Raven. Ich hoffe, einige deiner guten Angewohnheiten färben auch auf meine Jennifer ab«, sagte sie ohne großen Optimismus.
Zum Mittagessen bereitete sie Hühnersalat zu. Wir setzten uns hin und unterhielten uns. Ich wusste wirklich nicht viel über sie. Sie erzählte, wo sie aufgewachsen war und wie sie Onkel Reuben kennen gelernt hatte. Er hatte damals gerade angefangen, für das Straßenbauamt zu arbeiten, und sie hatte die High School hinter sich.
»Er wirkte wie ein Atlas dort draußen auf dem Highway. Wenn er sein Hemd ausgezogen hatte, glänzten seine Muskeln in der Sonne. Damals war er viel schlanker«, erinnerte sie sich voller Zärtlichkeit. Sie lachte. »Eines Tages tat er so, als hätte er Straßenarbeiten direkt vor dem Haus meiner Eltern zu erledigen, damit er mich besuchen konnte. Etwa vier Monate später heirateten wir. Meine Mutter hoffte, ich würde wenigstens eine Ausbildung als Sekretärin machen, aber wenn man jung ist, ist man auch sehr impulsiv.« Einige Augenblicke schaute sie sehr nachdenklich drein. Dann schüttelte sie den Kopf und tätschelte mir die Hand. »Spring bloß nicht in die Arme des erstbesten Mannes, den du siehst, Liebes. Hör auf deinen Kopf statt auf dein Herz und lass dir Zeit.«
Anscheinend gab mir jede Frau den gleichen Rat. Langsam fing ich an zu glauben, dass Liebe eine Falle sei, die Männer ahnungslosen Frauen stellten. Sie erzählten uns, was wir hören wollten. Sie machten Versprechungen, füllten unsere Köpfe mit Träumen und ließen alles ganz einfach erscheinen. Und dann befriedigten sie sich, gingen davon und lockten eine andere unschuldige junge Frau in die Falle. Selbst Tante Clara, die ihren Liebsten geheiratet hatte, entdeckte, dass sie in der Falle saß. Onkel Reuben herrschte in seinem Haus wie ein menschenfressendes Ungeheuer und verwandelte sie in ein besseres Hausmädchen statt sie auf einen Sockel zu stellen, wie er es ihr sicherlich versprochen hatte. Und sie schüttelte bloß den Kopf und schlängelte sich durch ihre Leben wie eine Ratte, die in einem Labyrinth gefangen war.
Nach dem Mittagessen fuhr sie mich zur Schule. Sie war kleiner und schien ruhiger zu sein als meine alte. Der Schulleiter, Mr. Moore, ein stämmiger, stiernackiger Mann von etwa vierzig, bat uns in sein Büro. Er hörte, was Tante Clara zu sagen hatte und rief dann seine Sekretärin, der er rasch einige Anordnungen diktierte.
»Setzen Sie sich bitte mit ihrer früheren Schule in Verbindung, sprechen Sie mit dem Klassenlehrer und lassen Sie postwendend ihre Zeugnisse hierherschicken, Martha«, sagte er. Sein kompetentes Verhalten beeindruckte mich. »Sicherlich wissen Sie, dass wir beim Jugendamt Erkundigungen über sie einziehen müssen. Natürlich werden Sie und Ihr Mann ihre gesetzlichen Vertreter.«
»Ja, natürlich«, sagte Tante Clara. »Sie wird gut zurechtkommen«, meinte er abschließend und schaute mich an. »Ich weiß, es ist nicht einfach für dich, aber du solltest auch bedenken, wie es für deine neuen Lehrer ist. Sie müssen dich zusätzlich zu ihrer Arbeit auf den Stand der Klasse bringen. Die Unterrichtsthemen mögen die gleichen sein, aber jeder hat eine andere Art, die Dinge anzugehen, und daher gibt es Unterschiede. Manche Lehrer werden schneller mit dem Lehrplan fertig als andere.«
»Ich weiß«, bestätigte ich.
Er nickte und starrte mich einen Moment lang mit düsterem, besorgtem Blick an. Dann lächelte er.
»Auf der anderen Seite hast du eine Cousine, die auch hier zur Schule geht. Sie könnte dir von großer Hilfe sein. Ihre Tochter ist ein Jahr älter als Raven?«, fragte er Tante Clara.
»Ja.«
»Kein großer Unterschied. Bestimmt hat sie ähnliche Interessen. Sie kann dir auch helfen, unsere Bestimmungen und Regeln kennen zu lernen. Bleib sauber, dann kommen wir gut miteinander klar, okay?«
Ich nickte.
Mr. Moore schlug vor, dass ich sofort am Unterricht teilnehmen sollte. »Es hat keinen Sinn, noch mehr Zeit zu vergeuden. Sie kann noch am Mathematik- und am Sozialkundeunterricht teilnehmen. Zumindest bekommt sie in diesen Fächern schon ihre Bücher«, meinte er.
»Eine gute Idee«, stimmte Tante Clara zu.
Ein Schüler brachte mich zum Mathematikunterricht und stellte mich Mr. Finnerman vor, der mir ein Schulbuch gab und einen Platz in der ersten Reihe zuwies. Alle schauten mich an und beobachteten jede meiner Bewegungen. Ich erinnerte mich, wie sehr ich mich für neue Schüler interessiert hatte. Bestimmt waren sie alle nur neugierig.
Ein Mädchen, ein dunkelhäutiges Mädchen namens Terri Johnson, zeigte mir den Weg zum Sozialkundeunterricht und stellte mich unterwegs einigen anderen Schülerinnen vor. Sie nannte mich dann »das neue Mädchen«. Als wir uns dem Raum näherten, sah ich Jennifer, die mit zwei Freundinnen den Flur entlangkam. Sobald ihr Blick auf mich fiel, blieb sie stehen und stöhnte.
»Das ist sie«, hörte ich sie sagen, als sie an uns vorbeiging, ohne auch nur Hallo zu sagen.
Als der Sozialkundeunterricht beendet war, kam es noch schlimmer, denn ich musste den richtigen Schulbus nach Hause finden. Jennifer wartete nicht auf mich, und als ich den Bus gefunden hatte, saß sie mit ihren Freundinnen bereits hinten und tat so, als kenne sie mich nicht. Ich setzte mich nach vorne und unterhielt mich mit einem dünnen, dunkelhaarigen Jungen namens Clarence Dunsen, der stark stotterte. Dadurch war er schüchtern, aber auch sehr misstrauisch. Als er tatsächlich mit mir sprach, wartete er ab, ob ich mich über ihn lustig machte. Ich schaute zu Jennifer zurück, deren Gelächter lauter durch den Bus dröhnte als das jedes anderen.
Bitte, Mama, dachte ich, sei lieb, versprich ihnen, was sie wollen, kriech über den Boden, wenn es sein muss, aber komm wieder raus und hol mich nach Hause, nimm mich irgendwohin mit, nur hol mich fort von hier.
»Ich habe gute Neuigkeiten«, sagte Tante Clara, sobald wir das Haus betraten.
»Was denn?«, fragte ich atemlos und presste meine neuen Schulbücher fest gegen mich.
»Deine Mutter kommt nicht ins Gefängnis.«
»Gott sei Dank«, rief ich. Ich wollte gerade schon hinzufügen: »Gut dass ich dich los bin, Jennifer, du verzogenes Balg«, aber Tante Clara lächelte nicht, sondern schüttelte den Kopf. »Was ist denn noch, Tante Clara?«
»Sie muss in ein Rehabilitationszentrum. Das könnte einige Zeit dauern, Raven. Sie darf dich nicht einmal anrufen, bis ihr Therapeut es gestattet.«
»Ach«, sagte ich und sank auf einen Stuhl.
»Es hätte schlimmer sein können«, versuchte Tante Clara mich zu trösten.
»Toll. Ich habe eine Tante in der Drogenrehabilitation«, jammerte Jennifer. Der Blick, den sie mir zuwandte, war voller Hass. »Besser tust du, was ich gesagt habe und erzählst allen, deine Mutter sei tot«, drohte Jennifer mir.
Ich schaute sie nur an.
»Rede nicht so, Jennifer«, ermahnte Tante Clara sie. »Außerdem solltest du wissen, dass deine Cousine mir geholfen hat, dein Zimmer aufzuräumen. Sieh zu, dass es so bleibt.«
»Ja und? Sie soll das ganze Haus sauber machen. Du hast doch gehört, was Daddy gesagt hat. Sie lebt doch von uns, oder nicht?«, schoss Jennifer zurück.
»Jennifer!«, rief Tante Clara entsetzt. »Wo bleiben denn dein Mitgefühl und deine christliche Nächstenliebe?«
»Nächstenliebe? Ich liebe sie nicht. Es war schwierig genug zu erklären, wer sie ist. Alle wollten wissen, warum sie so dunkel ist. Ich musste ihnen erzählen, wer ihr Vater war«, beklagte sie sich.
»Jennifer.«
»Du bist nicht besser als ich, nur weil deine Haut weißer ist«, griff ich sie an.
»Natürlich ist sie das nicht«, bekräftigte Tante Clara. »Jennifer, ich habe dir nie beigebracht, so schreckliche Dinge zu sagen.«
»Das ist nicht fair, Mama. Meine Freundinnen wundern sich jetzt alle über unsere Familie. Das ist einfach nicht fair!«, stöhnte sie.
»Hör auf, so zu reden, oder ich sage es deinem Vater«, drohte Tante Clara.
»Erzähl’s ihm doch«, forderte sie sie heraus, grinste dämlich und ging nach oben.
»Ich weiß wirklich nicht, woher sie diesen Zug von Gemeinheit hat«, murmelte Tante Clara.
Ich schaute zu ihr auf. War sie blind oder steckte sie absichtlich den Kopf in den Sand? Man konnte doch ganz leicht sehen, dass Jennifer ihre Niederträchtigkeit von Onkel Reuben geerbt hatte.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Tante Clara. »Mach dir darüber keine Gedanken, Tante Clara. Ich komme schon zurecht – mit oder ohne Jennifers Freundschaft.«
Die Tür öffnete sich und wurde wieder geschlossen. William kam zögernd herein. Mit scheuem Blick schaute er zu mir hoch.
»Wie war es heute in der Schule, William?«, erkundigte sich Tante Clara.
Er öffnete sein Ringbuch und zog einen Rechtschreibtest heraus, bei dem er neunzig von hundert möglichen Punkten erreicht hatte.
»Das ist wunderbar! Schau dir das an, Raven«, sagte sie und zeigte ihn mir.
»Sehr gut, William. Wenn ich Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung habe, komme ich zu dir, damit du mir helfen kannst.«
Er wirkte dankbar, nahm den Test aber wieder rasch an sich und schob ihn zurück in sein Ringbuch.
»Möchtest du gerne Milch und Kekse haben, William?«, fragte Tante Clara ihn.
Er schüttelte den Kopf, warf mir mit etwas, das einem Lächeln ziemlich nahe kam, einen Blick zu und lief hinauf in sein Zimmer.
»Er ist so schüchtern. Mir war nie aufgefallen, wie sehr. Hat er denn keine Freunde, mit denen er nach der Schule spielt?«, fragte ich, während ich beobachtete, wie er hinausging.
Tante Clara schüttelte traurig den Kopf.
»Er bleibt zu viel allein, ich weiß. Sein Klassenlehrer rief mich an, um mit mir darüber zu sprechen. Seine Lehrer finden, er sei zu sehr in sich gekehrt. Alle bestätigen, dass er sich nie im Unterricht meldet. Er spricht auch kaum mit anderen Schülern. Du siehst ja, wie er ist. Er wirkt wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer verkriechen will. Ich weiß auch nicht warum«, meinte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Am liebsten hätte ich den Arm um sie gelegt.
»Er wird aus dieser Phase herauswachsen«, tröstete ich sie, aber sie lächelte nicht.
Sie schüttelte den Kopf. »Etwas ist nicht in Ordnung, aber ich weiß nicht was. Ich bin mit ihm zum Arzt gegangen. Er ist gesund, bekommt kaum je eine Erkältung, aber irgendetwas …« Ihre Stimme verklang. Dann wandte sie sich mir mit Tränen in den Augen zu und fragte: »Wie kommt es, dass ein kleiner Junge sich so verhält?«
Ich wusste es nicht.
Aber ich sollte es bald herausfinden.
Dann fehlten mir jedoch die Worte, es ihr zu sagen.