Читать книгу Olivia - V.C. Andrews - Страница 6

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Prolog

Der Frühling auf dem Kap überraschte mich immer wieder von neuem. Es war fast so, als rechnete ich nie mit seiner Rückkehr. Die Winter konnten lang und trostlos sein, die Tage von der eisigen Kälte der Nacht klirrend, aber der graue Himmel und die kälteren Winter machten mir nie soviel aus wie anderen Leuten, vor allem meiner jüngeren Schwester Belinda. Solange ich zurückdenken kann, glaubten unsere Schulkameraden, der Winter sei mir ohnehin lieber. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann oder wie es begann, aber eines Tages sprach jemand von mir als Miss Cold und von Belinda als Miss Hot, und bis zum heutigen Tage blieben diese Etiketten an uns haften.

Als sie ein kleines Mädchen war, stürzte Belinda mit Begeisterung aus dem Haus, um an die frische Luft zu eilen, den Wind in ihrem Haar einzufangen, sich im Kreis zu drehen und zu lachen, bis ihr schwindlig wurde und sie in den Sand fiel, hysterisch, aufgeregt und mit Augen, die fast so hell leuchteten wie zwei Geburtstagskerzen. Alles, was sie tat, war eine Explosion. Sie redete nie langsam, sondern sprach immer so, als würden die Worte ihre Lunge sprengen und sie müßte sie hervorsprudeln, ehe es zu spät war, und sie starb. Ganz gleich, was sie tat oder sagte, es endete im allgemeinen damit, daß sie keuchte: »Ich mußte es euch einfach sagen, ehe ich sterbe!«

Im Alter von zwölf Jahren wiegte sie beim Gehen die Hüften wie eine reife Frau, drehte kokett die Schultern und ähnelte einer gründlich ausgebildeten Kurtisane. Sie wedelte mit den Händen wie eine Geisha mit ihrem Fächer, und sie tat so, als wollte sie ihre koketten Augen und ihr verlockendes Lächeln zwischen ihren kleinen Fingern verbergen. Ich sah, wie erwachsene Männer die Köpfe nach ihr umdrehten und sie anstarrten, bis ihnen aufging, wie jung sie war, und dann warfen sie fast immer einen zweiten Blick auf sie, um ihren Eindruck zu bestätigen, wobei sich ihre Gesichter vor Enttäuschung verfinsterten. Ihr Gelächter war ansteckend. Wer in ihrer Nähe war, wenn sie lachte, verzog das Gesicht ausnahmslos zu einem strahlenden Lächeln, als hätte sie jeden mit einem Zauberstab berührt, um den Trübsinn, die Traurigkeit oder die Depressionen zu verscheuchen. In ihrer Gegenwart verwandelten sich andere Leute, vor allem Jungen, in Trottel, die nicht mehr ernst zu nehmen waren und denen plötzlich alles andere entfallen zu sein schien; sie vergaßen ihre Verantwortlichkeiten, ihre Pflichten, ihre Termine und insbesondere ihren eigenen Ruf. Auf Belindas Geheiß hin ließen sie sich zu den albernsten Dingen hinreißen. »Du siehst aus wie ein Frosch, Tommy Carter. Laß uns hören, wie schön du quaken kannst. Mach schon«, spottete sie, und Tommy Carter, zwei Jahre älter als sie und kurz vor seinem letzten Jahr in der Highschool, kauerte sich hin wie eine Kröte und quakte zum Gelächter und Applaus der anderen. Im nächsten Moment hatte sich Belinda von ihm abgewandt und trieb jemand anderen an die gefährlichen Grenzen, an denen der gesunde Menschenverstand und die Würde enden.

Ich wußte schon immer, daß sie sich in Schwierigkeiten bringen würde. Mir war nur nie klar, wie weit die Katastrophe reichen würde. Ich versuchte, ihr Benehmen zu korrigieren, ihr beizubringen, wie sie sich damenhafter gab, und vor allem, daß man gegenüber Jungen und Männern Vorsicht walten lassen mußte. Sie überhäuften sie ständig mit Geschenken, und sie nahm alle an, wenn ich sie auch noch so nachdrücklich davor warnte.

»Damit gehst du eine Verpflichtung ein«, sagte ich. »Gib diese Dinge zurück, Belinda. Nichts ist gefährlicher, als einen jungen Mann mit leeren Versprechungen hinzuhalten.«

»Ich fordere sie doch nicht auf, mir Geschenke zu machen«, protestierte sie. »Nun ja, vielleicht lasse ich ab und zu eine Andeutung fallen, aber ich setze niemanden unter Druck. Und deshalb bin ich niemandem etwas schuldig. Es sei denn, ich möchte jemandem etwas schuldig sein«, fügte sie dann mit einem schelmischen Lächeln hinzu.

Aus irgendwelchen Gründen blieb es weitgehend mir überlassen, Belinda die Ermahnungen zu erteilen, die sie so dringend brauchte.

Unsere Mutter scheute vor Verantwortung und Verpflichtungen zurück. Jedes unerfreuliche Wort und jeder unschöne Anblick waren ihr verhaßt. In ihrem Vokabular wimmelte es von Beschönigungen, Worten, die nur dazu dienten, die dunklen Wahrheiten über unsere Welt zu verschleiern. Die Leute starben nicht, sie »gingen endgültig von uns«. Daddy war nie gemein zu ihr, er war nur »nicht bei Laune«. Aus ihrem Mund klang das so, als sei gute Laune etwas, dessen Vorrat sich erschöpfte und jederzeit aufgefüllt werden konnte, wie ein leerer Tank. Wenn eine von uns krank war, behandelte sie uns, als seien wir selbst schuld daran. Erkältungen zogen wir uns aus Unachtsamkeit zu, Bauchschmerzen, weil wir etwas Falsches gegessen hatten. Jede körperliche Beeinträchtigung war die Folge einer schlechten Wahl, die wir getroffen hatten, und wenn wir uns gehörig anstrengten, würde alles vergehen und wir würden wieder froh sein.

»Kneif die Augen ganz fest zu, und wünsch es weg. So mache ich es«, sagte sie in solchen Momenten.

Das Schlimmste war für mich, wie sie über alles hinwegging, was Belinda anrichtete. Ihre Versäumnisse waren nie etwas anderes als »nur ein vorübergehender Rückfall«. Ihre Streiche und der Unfug, den sie anstellte, waren immer darauf zurückzuführen, daß »ihre Jugend die Oberhand gewinnt. Sie wird bald aus diesem Stadium herauswachsen«.

»Dazu wird es nie kommen, Mutter«, sagte ich dann mit der Autorität einer Hellseherin.

Aber Mutter hörte nie auf mich. Sie wedelte dicht an ihren Ohren mit den Fingern in der Luft herum, als seien meine Worte nichts weiter als lästige Fliegen, die sich auf diese Art vertreiben ließen. Jedesmal, wenn ich mich beklagte, war ich »mit dem falschen Fuß aus dem Bett aufgestanden«.

Man brauchte nur zu blinzeln, und alles würde vorübergehen: Stürme, die Krankheiten, Belindas schlechtes Benehmen, Daddys miserable Laune, Konjunkturrückgänge, Kriege, Seuchen, Verbrechen, all das würde von allein verfliegen, gemeinsam mit allem anderen, was auch nur im entferntesten unerfreulich war.

Das Zimmer unserer Mutter war immer voller Blumen. Sie haßte Feuchtigkeit und modrige Gerüche. Sie füllte ihre Tage mit den Melodien von Spieluhren aus und trug tatsächlich eine Brille mit rosarot getönten Gläsern, denn sie haßte »die stumpfen Farben, das Ausbleichen der Dinge, die ärgerlichen dunklen Wolken, die ihre Gesichter mit den häßlichen Prellungen herausstrecken«.

Belinda, beschloß ich, hatte viel mehr von ihr als von unserem Daddy. Wir hatten beide Mutters zierliche Gestalt geerbt, und es stand schon früh fest, daß keine von uns beiden viel größer als eins fünfundfünfzig werden würde. Mutter maß barfuß kaum mehr als einen Meter fünfzig. Belinda war noch kleiner als ich, und ich muß zugeben, daß ihr Gesicht einen vollendeten Schnitt aufwies. Ihre Augen waren blauer. Meine waren eher grau. Sie hatte die kleinere Nase, und ihr Mund hatte perfekte Proportionen. Ihre Lippen waren immer ein wenig hochgezogen, was das winzige Grübchen in ihrer linken Wange zur Geltung brachte. Als sie noch ganz klein war, legte Daddy einen Finger darauf und tat so, als sei es ein Knopf. Dann wurde von Belinda erwartet, daß sie tanzte, und das tat sie dann auch, und wie!

Schon im Alter von zwei oder drei Jahren war sie überschwenglich.

Daddy lächelte so strahlend, daß dieses Lächeln seinem Herzen entspringen mußte, wenn sie sich im Wohnzimmer im Kreis drehte und Pirouetten beschrieb wie eine Ballerina, mit ihrem hoch erhobenen rechten Arm und dem Zeigefinger auf ihrem Scheitel. Mutter lachte und klatschte, wie es auch unsere jeweiligen Gäste taten.

»Kann Olivia nicht auch tanzen?« fragte Colonel Childs, einer von Daddys engsten Freunden, eines Tages. Ich blickte auf, und Daddy starrte mich einen Moment lang an, ehe er langsam den Kopf schüttelte und mir dabei eindringlich ins Gesicht sah.

»Nein, Olivia tanzt nicht. Olivia denkt«, sagte er mit einem beifälligen Nicken. »Sie plant und organisiert. Sie ist mein kleiner General.«

Als wir älter wurden und Daddy mich weiterhin von Zeit zu Zeit seinen kleinen General nannte, zog mich Belinda damit auf, indem sie in den Korridoren oder am Eßtisch vor mir salutierte. Dann lachte sie, drückte mich an sich und sagte: »Ich mache doch nur Spaß, Olivia. Sieh mich nicht so haßerfüllt an.«

»Wenn man sich selbst ernst nimmt und eine gewisse Selbstachtung besitzt, dann heißt das noch lange nicht, daß man haßerfüllt ist, Belinda. Du solltest es mal ausprobieren.«

»Oh, nein, das kann ich nicht. Mein Gesicht läßt sich nicht zu solchen Falten in der Stirn verziehen. Meine Haut rebelliert dagegen. Sie spannt sich an und schnellt zurück«, rief sie aus, und als sie fortlief, wehte ihr perlendes Lachen hinter ihr her wie die Bänder eines Drachens.

Es war frustrierend, sie zu beobachten. Wie kam es bloß, daß weder meine Mutter noch mein Vater sahen, was ich sah? Unser Daddy war selten ungehalten über die Dinge, die Belinda sagte oder tat, und wenn er es doch war, dann fiel sein Mißmut so schnell von ihm ab, daß man meinen könnte, es sei nichts geschehen. Sowie er seine Stimme gegen sie erhoben hatte, riß er sich zusammen und zügelte sein ansonsten heftiges und aufbrausendes Temperament.

Viele Male war ich Zeuge seiner Wutausbrüche gewesen und hatte erlebt, wie er gegen Politiker, Regierungsbeamte, Anwälte und andere Geschäftsleute wetterte. Ich sah ihn Dienstboten so streng ins Gebet nehmen, daß sie sich mit niedergeschlagenen Augen, gesenkten Köpfen und blassen Gesichtern zurückzogen. Seine Worte waren so ätzend, daß er jemanden mit einem Satz lebendigen Leibes häuten konnte.

Aber wenn er Belinda ausschalt, trat er im gleichen Moment den Rückzug an. Ich konnte nahezu sehen, wie er die Hand ausstreckte und die Worte zurücknahm, sie wieder zwischen seinen Lippen verbarg. Wenn sich auch nur ein Tränenschleier über ihre Augen zog und sie glasig werden ließ, behandelte er sie, als hätte sie eine tödliche Wunde davongetragen, und es endete gewöhnlich damit, daß er ihr etwas Neues kaufte oder ihr etwas Wunderbares versprach. Es war, als ermöglichten ihm nur ihr Lächeln und ihr Lachen, den Tag zu überstehen.

Manchmal, wenn wir alle zusammen am Eßtisch saßen oder nach dem Essen im Wohnzimmer etwas im Fernsehen anschauten oder lasen, sah ich Daddy an und stellte fest, daß er Belinda anstarrte, sein Gesicht voller Bewunderung, während sich seine Augen an ihren zarten Zügen labten wie die eines Kunstsammlers, der eine seltene Antiquität oder ein Meisterwerk zu würdigen versteht.

Warum sieht er mich nicht so an, fragte ich mich bekümmert. Ich hatte nie etwas getan, wofür er sich hätte schämen müssen oder was ihn unglücklich gemacht hätte. Ich wußte, daß er stolz auf meine Leistungen war, aber er benahm sich, als erwartete er genau das und nicht weniger von mir. Mir wurde klar, daß er alles, was ich leistete, als selbstverständlich hinnahm, und doch entsprach ich immer seinen Erwartungen, sei es nun, daß ich in der Schule einen Preis gewann, von seinen Geschäftspartnern Komplimente bekam oder zu Hause Erfolge zu verbuchen hatte.

Als ich das Mädchenpensionat mit den größtmöglichen Auszeichnungen abschloß, gab er mir einen Kuß auf die Stirn und drückte mir die Hand. Ich erwartete schon fast, daß er mir einen Orden an die Brust heften und mich befördern würde. Meine Belohnung bestand darin, daß ich einen verantwortungsvollen Posten im Familienbetrieb bekam, bis zu dem Tage, an dem ein feiner junger Herr an Daddy herantreten und um meine Hand anhalten würde, um mich zu ehelichen. Ich verstand nie, aus welchem Quell er derlei Hoffnungen und Erwartungen schöpfte. Daddy weigerte sich schlichtweg zu sehen, daß sich die Zeiten geändert hatten und junge Männer heute nach Frauen mit anderen Eigenschaften als der Ausschau hielten, daß sie »aus guter Familie« stammten, und er begriff auch nicht, daß die jungen Männer heute nicht mehr so förmlich waren. Es war fast, als glaubte er, unsere Familie sei von dem gesellschaftlichen und politischen Wandel ausgenommen, der alle anderen betraf.

Wenn sein Glaube jemals angezweifelt wurde, schüttelte er den Kopf und sagte: »Es ist nicht gut für das Geschäft, wenn sich die Leute schlecht benehmen. Aus schlechtem Benehmen läßt sich kein Profit schlagen. Wann immer man in diesem Leben etwas tut, sollte man sich einen Moment Zeit nehmen und sich fragen: Was springt unter dem Strich dabei heraus? Wer danach handelt, wird immer die richtige Wahl treffen.«

Das gehörte zu den Dingen, die er Belinda beibringen sollte, fand ich, aber sie belehrte er nie. Tatsächlich erteilte er ihr nur äußerst selten einen Ratschlag. Ihr war es gestattet, ein freier Geist zu sein, der unbekümmert, spontan und ohne jede Reue durch unser Haus und unser Leben flatterte, für immer befreit von jeder Verpflichtung, Sorge und Verantwortung.

Wenn ich Daddy ihretwegen zur Rede stellte, nickte er und vermittelte mir den Eindruck, ich sei im Recht, und dann hörte er plötzlich auf zu nicken und sagte: »Du wirst eben auf sie aufpassen müssen, Olivia.«

»Wann wird sie endlich anfangen, auf sich selbst aufzupassen, Daddy? Dieses Jahr beginnt ihr letztes Schuljahr«, gab ich zurück.

»Manche Frauen werden eben nur ältere Mädchen«, brachte er vor.

Ich war der Meinung, er fände nur Ausflüchte für sie, und das versetzte mich jedesmal wieder in Wut. Weshalb fand er immer diese Ausreden für Belinda? Warum packte er sie nicht eines Tages einfach am Genick und schüttelte sie, bis dieses alberne kokette Lächeln von ihrem Porzellangesicht fiel und vor ihren Füßen zerschellte? Warum brachte er sie nicht dazu, erwachsen zu werden? Warum zwang er sie nicht, den Konsequenzen ihres Handelns ins Gesicht zu sehen? Genau darin drückt sich nämlich Reife aus, verkündete ich in meiner imaginären Ansprache, einer Ansprache, die meine Eltern nur selten zu hören bekamen, und wenn es doch einmal dazu kam, dann schenkten sie ihr so gut wie keine Beachtung.

»Ich will nicht erwachsen werden«, hatte Belinda einmal dreist gestanden. »Erwachsen sein ist langweilig und unerfreulich und bringt finstere Mienen und Sorgen mit sich. Ich will für den Rest meines Lebens ein kleines Mädchen bleiben und Männer um mich haben, die sich um mich kümmern.«

»Besitzt du denn gar keine Selbstachtung, nicht einmal einen Funken davon?« fragte ich sie.

Sie zuckte die Achseln und ließ etwas Zartes in diesen Augen und auf diesen Lippen spielen, die auf so viele Gesichter ein Lächeln zauberten.

»Ich werde sie dann haben, wenn ich sie brauche«, erklärte sie.

Manchmal schnürte sich mein Magen zusammen, wenn ich mit ihr sprach. Dann spürte ich, wie sich die Muskeln in meinen Armen und Beinen zu stählernen Tauen anspannten. Die Frustration drohte mich zu zerbrechen. Am liebsten hätte ich sie geohrfeigt und eine Spur von Verstand in dieses alberne kleine Gesicht gehämmert.

Und dann umarmte sie mich jedesmal und sagte: »Du wirst genug Selbstachtung für uns beide haben, Olivia. Das weiß ich ganz genau. Ich kann ja so froh sein, dich als ältere Schwester zu haben.«

Hinterher eilte sie aus dem Haus, um ihre Freundinnen zu treffen und mit ihrer Schar von männlichen Verehrern zu flirten, und mir blieb es überlassen, die Aufgaben oder Pflichten zu erfüllen, die Daddy uns beiden aufgetragen hatte.

Ich muß gestehen, daß ich manchmal dastand, ihr beim Flirten zusah und wünschte, ich wäre ihr ähnlicher. Wenn sie nachts ihr Gesicht auf das Kopfkissen legte, war ihr Kopf immer von zuckersüßen Gedanken erfüllt, wogegen meiner zur Hauptstraße für die Parade der Sorgen und die Inspektion der Pflichten wurde. In ihren Ohren hallten Musik und verlockende Versprechungen. Meine waren mit Fakten und Terminen angefüllt. Ich war Daddys lebender Terminkalender. Er konnte seine Fingerspitzen auf Belindas Grübchen legen und ihr dieses Lächeln entlocken, das sein Herz wärmte, aber auf mich brauchte er nur mit dem Finger zu zeigen, damit ich ihm den Zweck eines geschäftlichen Treffens in allen Einzelheiten darlegte.

Es war nicht etwa so, als wäre er undankbar gewesen. Ich glaubte ihm, wenn er mit seinem »kleinen General« prahlte, aber etwas in meinem Inneren, die Belinda in mir, wünschte sich, daß er mich auch in anderer Hinsicht erwähnte. Ich weiß, daß er mich für bedeutsamer und vielversprechender hielt, wenn es darum ging, der Familie zum Erfolg zu verhelfen, aber sagte er sich denn nie, daß auch ich hübsch war? Konnte ich nicht attraktiv und verantwortungsbewußt zugleich sein?

Leider, schloß ich, dürften sich meine Befürchtungen bewahrheitet haben: Daddy war wie die meisten Männer; er wurde schwach, wenn er ein kokettes Lächeln sah, eine alberne, oberflächliche Geste, eine schnelle Umarmung und einen Kuß bekam, als wäre Zuneigung eine Art Ersatz für Verantwortungsbewußtsein und Fleiß.

Etwas in meinem Inneren sagte mir, wenn ich von Männern bewundert werden wollte, müßte ich meine Schwester nachahmen und anstelle von Gedanken und Ideen Seifenblasen in meinem Kopf schweben lassen.

Aber wäre ich dann glücklicher gewesen? Die meisten Männer, die mir in meinem Leben begegnet waren, wollten mich davon überzeugen, daß es der Fall wäre, aber ich war wild entschlossen, nicht wie meine Mutter das Spielzeug eines Mannes zu werden. Belinda hält sich für glücklich, aber sie begreift nicht, wie wenig die Männer wirklich von ihr halten und wie gering ihr Respekt vor ihr ist, schloß ich. Sie mochten sich zwar nach ihr sehnen und sie begehren, aber wenn sie ihre Lüste gestillt hatten, wenn sie sie ausgenutzt hatten, ihrer überdrüssig waren und sie achtlos liegen ließen, wo würde sie dann enden, wenn nicht im Elend? Sie würde an einem abgeschiedenen Ort um ihre verlorene Jugend und Schönheit weinen und die Welt dafür hassen, daß es so etwas wie den Alterungsprozeß gab. Sie würde als kleines Mädchen sterben.

Ich würde als Frau sterben, und ich würde mich nicht dazu mißbrauchen lassen, einen Mann zufriedenzustellen. Ja, ein Teil von mir wollte so sein wie Belinda, aber das war der Teil von mir, den mir Männer eingeimpft hatten, der Teil, den ich unterdrücken konnte.

Nennt mich ruhig den kleinen General. Nennt mich Miss Cold und Belinda Miss Hot, dachte ich.

Aber am Ende wird man vor mir Respekt haben, und was zählt am Ende wirklich mehr, Respekt oder Liebe? Niemand wußte wirklich, was Liebe war. Wie viele Ehemänner und Ehefrauen besaßen schon dieses sogenannte Zauberband?

Es war eine simple Entscheidung, fand ich: Träumer oder Realist zu sein und den Tag danach zu gestalten, was ich wollte, und nicht, was ich mir erhoffte.

Belinda tanzte, und mein Vater lächelte. Meine Mutter floh vor Schmerz und Dunkelheit, und ich, ich stand hinter ihnen allen wie eine undurchdringliche Mauer und hielt Katastrophen von unserer Schwelle fern. Am Ende würden sie mich alle zu schätzen wissen.

Und was hätte erstrebenswerter sein können als das?

Der glasklare Klang von Belindas Lachen fiel in die dunklen Korridore meiner eigenen Zweifel und erfüllten meinen Geist mit kleinen Funken, die dafür sorgten, daß ich mir nie absolut sicher war.

Olivia

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