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Das ist meine Party

In den ersten Tagen war Belinda wahrhaft eine Invalide. Sie aß kaum etwas, und was sie doch aß, konnte sie häufig nicht bei sich behalten. Ihr sonst so rosiger Teint schwand, und erst gegen Ende der Woche kehrte ein wenig Farbe in ihre Wangen zurück, gerade rechtzeitig für ihre Pläne. Am Samstag kamen nach dem Mittagessen drei Jungen aus ihrer Highschool, um sie zu besuchen. Sie brachten ihr Blumen und Pralinen mit. Carmelita erschien in der Tür des Wohnzimmers, in dem sich Mutter, Daddy und ich aufhielten.

»Drei junge Männer sind gekommen, um Belinda zu besuchen«, kündigte sie unbeteiligt an.

»Drei?« fragte Daddy und zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, Sir.«

»Jungen?«

»Ja, Mr. Gordon.«

Daddy sah mich an, und ich zog eine finstere Miene.

»Das ist aber nett«, bemerkte Mutter. Sie lächelte mich an, obwohl ich weiterhin finster blickte.

»Führen Sie sie herein«, ordnete Daddy an und nahm eine steife Haltung ein wie sonst vor geschäftlichen Treffen, von denen er erwartete, daß sie sich schwierig gestalten würden. Er hatte eine Art an sich, die Schultern hochzuziehen und gleichzeitig den Hals einzuziehen, bis er einem Raubvogel ähnelte. Daddy hatte eine gewölbte Brust und eine kräftige Gestalt, und wenn er sich aufblähte und seine Augen wie Stahl funkelten, wirkte er sehr einschüchternd.

Ich kannte jeden der Jungen, die Carmelita hereinführte. Sie alle waren im Lauf des Jahres bereits hier gewesen, um Belinda zu einer Verabredung abzuholen. Zuerst trat Arnold Miller ein, der mein Hauptverdächtiger gewesen war, weil Belinda in den letzten Monaten soviel Zeit mit ihm verbracht hatte. Er war sehr groß, mindestens eins dreiundneunzig, hatte hellbraunes Haar und grüne Augen mit braunen Sprenkeln, und er sah gut aus. Nach allem, was Belinda mir erzählt hatte, mochte sie ihn, weil er im Sport das As der Schule war, der beste Basketballspieler und ein Baseballstar. Die meisten Mädchen wünschten ihn sich als ihren Freund. Beneidet zu werden war etwas, was Belinda weit mehr auskostete, als geliebt zu werden.

Arnolds Eltern besaßen ein Sägewerk und ein Geschäft für Gartengeräte, eines der größten Einzelhandelsgeschäfte in Provincetown. Arnold war das älteste von drei Kindern, ausnahmslos Jungen, Ich hielt ihn für relativ schüchtern, aber ich war nicht sicher, ob er nur in meiner Gegenwart in diese Rolle schlüpfte. Belinda hatte lediglich gekichert, als ich sie vor ein paar Monaten zum ersten Mal nach ihm gefragt hatte.

Neben Arnold stand Quin Lothar, der sein bernsteinfarbenes Haar lang trug. Es fiel ihm fast auf die Schultern, was Daddy bei jungen Männern verabscheute. Auch Quin war sehr beliebt, weil er in der Schule seine eigene Band hatte, mit der er Musik machte, aber meiner Meinung nach sah er nicht annähernd so gut aus wie Arnold. Quins Gesichtszüge waren zu grobschlächtig, und er hatte eine niedrige Stirn und Augenbrauen, die über seinen braunen Augen zu weit vorstanden. Sein rechter Mundwinkel schien sich immer in seine Wange einzuschneiden, und daher erweckte er gewöhnlich den Eindruck, hochnäsig zu grinsen. Als ich ihn jetzt ansah, sagte ich mir, er müsse der Vater sein. Er wirkte auf mich, als sei er durchaus in der Lage, Belinda zu schwängern und sich nichts daraus zu machen.

Mit seiner abgetragenen Hose und seinem ausgewaschenen Pullover war er schlampig gekleidet. Offenbar legte er keinen Wert auf sein Äußeres und auch nicht darauf, einen guten Eindruck auf meine Eltern zu machen.

Der dritte junge Mann war Peter Wilkes, ein pummeliger kleiner Kerl mit einem weichen, runden Gesicht. Sein Vater war der Direktor der Cape Coast Sparkasse. Belinda behauptete, er hätte genug Geld, um es mit beiden Händen rauszuwerfen. Die anderen duldeten ihn und bezeichneten ihn als wandelndes Portemonnaie, nicht nur hinter seinem Rücken, sondern auch in seiner Gegenwart. Wenn sie sich etwas wünschte, prahlte Belinda, dann bräuchte sie es nur im Schaufenster anzusehen, und schon ginge er hin, um es für sie zu kaufen.

Er trug ein weißes Frackhemd mit Kragenknöpfen, eine sportliche Hose und elegante Schnürschuhe, aber irgendwie sah er auch nicht besser aus als die beiden anderen. Vielleicht lag es daran, wie sich die Kleidungsstücke an seinem korpulenten Körper machten.

Quin war zum Sprecher ernannt worden.

»Guten Tag«, sagte er. »Wir wollten nachsehen, wie es Belinda geht. Wir dachten uns, wir könnten sie vielleicht ein wenig aufheitern«, fügte er hinzu. Peter faltete seine Wangen zu einem Lächeln zusammen und hob eine Pralinenschachtel hoch.

»Wenn es Ihnen recht ist, gäbe ich ihr gern die Pralinen«, sagte er. »Importware, versteht sich.«

Arnold hatte Blumen mitgebracht. Er nickte lediglich und hielt den Strauß hoch wie die Freiheitsstatue ihre Fackel.

Daddy sagte nichts. Manchmal hielt er seine Worte einen kleinen Moment länger als üblich zurück und sprach erst dann, wenn niemand mehr damit rechnete. Das tat er, um andere Leute aus dem Takt zu bringen, sie auf die Probe zu stellen. Die eintretende Stille war nur kurz, doch sie löste bei den drei Knaben Unbehagen aus. Sie warfen einander schnelle Blicke zu, krümmten sich buchstäblich und sahen erst mich, dann meine Mutter und schließlich den Fußboden an, ehe sie ihre Augen wieder Daddy zuwandten.

»Ich habe auch ein paar Notizen mitgebracht – über den Unterricht, den sie verpaßt hat«, fügte Peter hinzu und zog einige Zettel aus seiner Hosentasche.

»Das ist sehr aufmerksam«, sagte Mutter schließlich.

»Habt ihr Jungen denn keine Angst, euch so kurz vor Ende des Schuljahres anzustecken und selbst krank zu werden?« fragte Daddy und kniff die Augen argwöhnisch zusammen. »Nein, Sir«, erwiderte Arnold eilig.

»So nah kommen wir ihr nicht«, fügte Quin hinzu, und sein Mundwinkel schnitt sich noch tiefer in seine Wange. Peter strahlte inzwischen.

»Das möchte ich doch hoffen«, murmelte Daddy. »Olivia«, sagte er und drehte sich zu mir um. Ich wußte, was das hieß. Er wollte, daß ich die Jungen in Belindas Zimmer führte und als Anstandsdame dortblieb.

Mit sichtlichem Widerwillen erhob ich mich.

»Vielleicht schläft sie«, sagte ich.

»Sie weiß, daß wir kommen«, warf Quin hastig ein. »Wir haben heute vormittag angerufen, um ihr zu sagen, daß wir etwa um diese Zeit hier sein werden.«

»Sie hätte uns etwas davon sagen sollen«, murrte ich und sah Daddy an. Er nickte zustimmend, sagte jedoch kein weiteres Wort. Statt dessen wandte er sich seiner Zeitung zu und zog dann eine seiner Zigarren aus dem Etui auf dem Beistelltisch.

»Sind das Havannas, Mr. Gordon?« fragte Peter, als Daddy die Zigarre anzündete.

Daddy zog die Augenbrauen hoch.

»Was weißt du über Zigarren?«

»Nicht viel, aber mein Vater raucht Havannas. Ich kann Ihnen welche besorgen«, fügte er hinzu. Seine aufdringlichen Versuche, sich einzuschmeicheln, waren nicht zu übersehen. »Ich bin durchaus in der Lage, mir meine Havannas selbst zu beschaffen«, erwiderte Daddy finster.

»Seid ihr gekommen, um Belinda zu besuchen oder um mit meinem Vater zu quasseln?« fragte ich die drei.

Quin versetzte Peter einen Rippenstoß, und sie folgten mir alle aus dem Wohnzimmer und die Treppe hinauf.

»Normalerweise ist es meinen Eltern nicht recht, daß meine Schwester männliche Besucher in ihrem Zimmer empfängt«, sagte ich, als ich sie nach oben führte. Einer der Jungen kicherte, aber ich gab ihm nicht die Genugtuung, mir anmerken zu lassen, daß ich ihn gehört hatte.

Vor Belindas Schlafzimmertür blieb ich stehen und drehte mich um, während sich die drei eifrig um mich drängten. Was war das bloß für eine Macht, die Belinda ausübte und bewirkte, daß junge Männer derartige Begeisterung und ein solches Begehren an den Tag legten, fragte ich mich. Lag es schlichtweg an ihrer Promiskuität, oder hatte sie tatsächlich etwas ganz Besonderes an sich, etwas, was ich nie ausstrahlen würde, etwas, was einem in die Wiege gelegt wird und den wahren Reiz ausmacht? Etwas Erregendes, ein Versprechen, das die männlichen Hormone aufwühlt, als rührten Hexen einen Trank in ihrem Kessel?

»Einen Moment«, sagte ich. Ich konnte den heißen Atem der erwartungsvollen Knaben in meinem Nacken spüren. Wenn sie Pferde gewesen wären, hätten sie geschnaubt, dachte ich. Ich klopfte an.

»Ja?« rief Belinda.

»Du hast Besuch. Bist du salonfähig?«

»Ja, Olivia. Sie können reinkommen«, sagte sie, und ich öffnete die Tür.

Jeder, der Belinda in diesem Moment sah, hätte meinen Bericht über die Geburt angezweifelt. Sogar ich mußte zugeben, daß ihre strahlende Erscheinung mich beeindruckte. Ich wußte, daß Carmelita nach dem Frühstück nicht mehr oben gewesen war, und daher stand eindeutig fest, daß Belinda ihr Zimmer aufgeräumt und die Vorhänge weit aufgezogen hatte, damit der helle Sonnenschein hereinströmen konnte und alles frisch und sauber wirkte.

Belinda trug eines ihrer durchsichtigen Nachthemden. Es war tief ausgeschnitten und zeigte die Konturen ihrer reifen Brüste. Sie trug ihr seidig gebürstetes Haar offen, und es fiel ihr auf die Schultern. Die Spitzen wölbten sich sanft nach außen. Belindas Haar hatte schon immer einen kräftigeren Farbton und mehr Glanz aufgewiesen als meines, und sie tat viel mehr für ihr Haar, als es mir bei meinem eigenen Haar die Mühe wert gewesen wäre. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie die Wände ihres Zimmers von oben bis unten verspiegelt. Sie schien es nie müde zu werden, ihr eigenes Spiegelbild zu betrachten.

»Deck dich anständig zu, oder zieh deinen Morgenmantel an«, befahl ich ihr. Sie errötete und zog sich schnell die Decke über die Brust.

»Wer macht mir denn seine Aufwartung?« erkundigte sie sich wie eine Südstaatenschönheit.

Die drei Jungen betraten zaghaft ihr Zimmer.

»Sie behaupten, sie hätten dich angerufen, und daher wüßte ich nicht, wie du dich fragen kannst, wer es ist, Belinda«, bemerkte ich. Sie ging nicht auf meine Bemerkung ein und konzentrierte sich auf die Knaben.

»Die sind für dich«, sagte Arnold eilig und hielt ihr den Strauß roter Rosen hin.

»Oh, sind die schön, nicht wahr, Olivia? Ob wir wohl eine Vase dafür finden könnten?«

»Wir?« fragte ich.

Sie legte den Kopf zur Seite und lächelte albern.

»Also, ich glaube nicht, daß es sich gehören würde, wenn ich selbst aus dem Bett aufstünde«, sagte sie und ließ die Lider flattern.

Mit einem Murren trat ich vor und nahm ihr die Blumen ab. Auf der Kommode stand eine Vase. Ich ging ins Bad, um sie mit Wasser zu füllen.

»Ich hoffe, du darfst Süßigkeiten essen«, hörte ich Peter Wilkes zu Belinda sagen.

»Natürlich darf ich das«, sagte Belinda. »Olivia hat auch eine große Schwäche für Süßigkeiten«, fügte sie laut hinzu, als ich aus dem Bad kam.

»Nein, ganz und gar nicht«, sagte ich. Ich stellte die Vase auf den Nachttisch und stopfte die langstieligen Rosen hinein.

Belinda begann kichernd die Schachtel zu öffnen. Sie zog eine Praline heraus, steckte sie zwischen ihre Lippen, schloß die Augen und stöhnte so lüstern, daß die drei Jungen die Augen weit aufrissen und herumruckelten, als würden sie gemartert.

»Belinda, das ist wirklich ekelhaft«, sagte ich. »Wenn du die Praline essen willst, dann iß sie. Du brauchst sie nicht vorher mit deinem Speichel vollzutropfen.«

Sie lachte und sog die süße Leckerei in ihren Mund. Dann bot sie den Jungen Pralinen an, und jeder von ihnen nahm sich eine. Ich schüttelte heftig den Kopf, als sie mir die Schachtel hinhielt.

»Könntest du sie bitte auf meinen Tisch stellen, Olivia«, sagte sie.

Ich seufzte tief und bemühte mich gar nicht erst, meine Verärgerung zu überspielen. Wie war es dazu gekommen, daß ich plötzlich ihre Zofe war, fragte ich mich, doch ich tat, worum sie mich gebeten hatte.

»Erzählt mir alles, aber auch wirklich alles, was ich verpaßt habe, und laßt nichts aus, auch wenn es euch nur wie eine belanglose Kleinigkeit erscheint«, sagte Belinda. Sie klatschte in die Hände und ließ sich auf ihr großes, flauschiges rosa Kissen sinken. Ihr Haar fiel wie ein Rahmen um ihr Gesicht und betonte den strahlenden Glanz ihrer Augen.

»Arnold hat die Baseballsaison gestern mit einem Zu-Null-Sieg beendet«, verkündete Peter. »Er hat die gesamten neun Innings geschafft und nur drei Treffer verpaßt!«

»Oh, erzählt mir bloß nichts über Sport. Spielstände und Fouls, etwas anderes bekomme ich von euch Jungen nie zu hören. Das ist langweilig.«

»Langweilig?« sagte Peter.

Quin lachte.

»Klar ist es das«, sagte er. »Sport ist immer langweilig.« Er beugte sich zu Belinda vor. »Ich habe einen neuen Song für die Band geschrieben. Wir nennen ihn: ›Führe mich an den Strand‹.«

»Den müßt ihr mir unbedingt vorspielen«, sagte Belinda.

»Klar. Komm zu uns in die Garage, sowie es dir wieder gutgeht.«

»Am Montag werde ich wieder gesund sein, nicht wahr, Olivia?«

»Auf mich wirkst du jetzt schon reichlich gesund«, sagte ich trocken.

»Quin ist gestern erwischt worden, als er auf der Toilette geraucht hat. Am Montag kommt er nicht zur Schule«, enthüllte Arnold mit einem hämischen Lächeln.

»Ach, wirklich! Erzähl mir das ganz genau«, sagte Belinda und beugte sich so gespannt vor, als hätte Quin in ihrer Abwesenheit etwas Bedeutendes bewerkstelligt.

»Froschauge ist reingekommen, als ich sie gerade erst angezündet hatte. Er muß mich von seiner Tür aus beobachtet haben und hat nur auf die Gelegenheit gelauert. Er hat es auf mich abgesehen, seit ich damals diese komische Brille getragen und ihn nachgeahmt habe, erinnerst du dich noch?«

»Natürlich erinnere ich mich daran. Es war schrecklich komisch.«

Als Belinda lachte, lachten alle anderen ebenfalls.

»Und da fragen sich die Leute, warum ich nicht ins Lehrfach gehen will«, murmelte ich. Sie drehten sich zu mir um.

»Du hast doch selbst gesagt, du hättest Mr. Garner auch nicht leiden können, als du in der Highschool warst, Olivia«, sagte Belinda.

»Ich habe gesagt, er brächte nicht gerade viel Begeisterung für seine Arbeit auf, aber als einen Frosch habe ich ihn nicht bezeichnet.«

Wieder lachten alle, als hätte ich etwas Komisches sagen wollen.

»Jerry hat Barbara einen reichlich teuren Ring geschenkt. Es ist schon fast so etwas wie ein Verlobungsring«, fuhr Peter fort. »Er hat mir erzählt, sie hätten vor, kurz nach dem Schulabschluß zu heiraten.«

»Das weiß ich schon. Marcia Gleason hat es mir gestern abend am Telefon erzählt«, sagte Belinda.

»Selbstmord-Jerry, so nennen wir ihn«, sagte Quin lachend. »Macht euch nicht über ihn lustig«, stöhnte Belinda, als stünde sie dicht vor den Tränen. »Er und Barbara sind wirklich verliebt. Es ist wunderbar; wenn man jemanden findet, mit dem man sein ganzes Leben verbringen möchte, jemanden, der sich mehr aus einem macht als aus sich selbst, jemanden wie meinen Vater.«

Das Lächeln der drei Jungen verflog, und sie akzeptierten die Zurechtweisung. Belinda hielt sie wie Marionetten an ihren Fäden, dachte ich und sah sie mir der Reihe nach genauer an. Wer war der Vater ihres toten Fötus? Gewiß nicht Peter Wilkes, es sei denn, Belinda hatte ihn dazu gebracht, ihr im Gegenzug etwas Kostspieliges zu kaufen. Das brachte sie fertig, sagte ich mir.

»Ist diese Woche sonst noch jemand an Grippe erkrankt?« erkundigte ich mich. Einer von ihnen wußte bestimmt die Wahrheit über Belinda.

Quin und Arnold sahen einander an und schüttelten dann die Köpfe.

»Ich glaube nicht«, sagte Arnold. »Bobby Lester ist ausgefallen, aber er hat sich beim Spiel den Knöchel verstaucht.«

»Uns bleiben nur noch wenige Wochen bis zu den Abschlußprüfungen. Es ist ein harter Schlag, den Unterricht jetzt zu verpassen«, sagte Peter. »Und dabei fällt mir etwas ein, Belinda. Hier sind meine Notizen aus dem Kurs für englische Literatur.«

»Oh, danke, Peter. Das ist ganz süß von dir.«

»Süßer als die Pralinen?« fragte ich. Belinda lachte.

»Meine Schwester ist manchmal so komisch«, erklärte sie. Sie nahm die Notizen entgegen und legte sie neben sich ab. »Später werde ich für die Prüfungen lernen.«

»Das wäre ja etwas ganz Ungewöhnliches«, hauchte ich tonlos, aber doch laut genug, daß sie mich hören konnten.

»Olivia!«

»Du weißt, daß du die Prüfung in Englisch bestehen mußt, wenn du deinen Abschluß machen willst, Belinda.«

»Du hast gesagt, du würdest mir beim Lernen helfen«, jammerte sie. Die Blicke der Jungen wanderten von ihr zu mir, während wir miteinander redeten.

»Das tue ich auch, wenn du dich ernsthaft bemühst.«

»Es ist mir ernst damit.«

»Ich komme diese Woche zu euch raus und lerne mit dir«, erbot sich Peter eilig.

»Das ist sehr nett von dir, Peter. Seht ihr, jemand macht sich etwas aus mir«, rief sie freudig aus. Ihre Blicke glitten von einem Jungen zum anderen, und jeder einzelne von ihnen schmolz zu einem anbetenden Bewunderer, als sie ihren Blick wie eine Segnung die Runde machen ließ und sie innerhalb von Sekunden in Andächtige verwandelte. Dieser Anblick widerte mich an. Wo gab es heute noch wahre Männer? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Daddy sich so benommen hatte, als er im Alter dieser Jungen war.

»Ich wünschte, du hättest das Spiel gesehen, Belinda. Als ich diesen letzten Ball geworfen habe …«

»Jetzt fängst du schon wieder damit an, über Sport zu reden. Wenn du nicht sofort aufhörst, mache ich die Augen zu und schlafe ein«, drohte sie.

Wenn sich das Gespräch nicht um sie drehte, verlor sie jedes Interesse.

»Ich wollte damit doch nur sagen, daß ich an dich gedacht habe. Dieser Wurf ist für Belinda, habe ich mir gesagt«, erklärte Arnold.

»Oh.« Sie wurde wieder munter, und ihr Grübchen zeigte sich. »Das ist natürlich etwas ganz anderes. Du hast meinetwegen gewonnen. Ich will, daß das alle erfahren«, verkündete sie. Arnold nickte wie ein Soldat, der den Befehl erhalten hat, durch die Straßen von Provincetown zu ziehen und die Neuigkeiten herauszuplärren.

»Meine Band ist aufgefordert worden, auf der Abschlußfeier am Strand zu spielen«, platzte Quin heraus, weil er Belindas Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken wollte.

»Das ist ja wunderbar«, rief Belinda aus.

»Darf ich dich abholen und dich auf die Party begleiten?« fragte Arnold hastig.

»Ich kann meinen Vater bitten, daß er mir den Cadillac leiht«, schlug Peter vor.

»Ich nehme mein eigenes Motorrad. Du kannst uns beim Aufbauen zusehen«, mischte sich Quin ein.

Belinda ließ sich die Angebote durch den Kopf gehen und sah mich an.

»Was tätest du, Olivia?«

»Ich ginge zu Fuß hin«, sagte ich trocken.

Belinda brach in ein anhaltendes Gelächter aus.

»Zu Fuß. Das finde ich großartig. Ja, genau. Also, wer begleitet mich zu Fuß?«

»Wenn du das möchtest«, sagte Arnold hastig, »komm ich natürlich mit dir.«

Vielleicht war er doch der Vater, sagte ich mir. Sie hatte es zu schnell bestritten.

»Ich bin mir noch nicht sicher. Ich werde darüber nachdenken«, sagte Belinda auf ihre saudumme Art. Sie ließ ihr Versprechen, die Angebote anzunehmen, wie Köder vor ihnen baumeln, und die drei standen da und knabberten wie erbärmliche dumme Fische daran.

Ich zog mich in eine Ecke des Zimmers zurück. Dort saß ich, beobachtete sie und hörte mir an, wie sie alle endlos und ewig über ihre Pläne für den Abend nach den Prüfungen redeten. Sie strahlten eine Aufregung aus, an der ich liebend gern teilgehabt hätte. Als ich die Schule abgeschlossen hatte, hatte ich keine Abschlußparty besucht. Daddy, Mutter, Belinda und ich waren einfach nur ins Steak and Brew House gegangen und hatten dort zu Abend gegessen. Hinterher hatte ich dann in meinem Zimmer gesessen, aus dem Fenster in die Nacht hinausgeschaut und an die Lagerfeuer am Strand gedacht, an die Musik und das Gelächter, all die Dinge, an denen ich nicht teilnahm. Niemand hatte mich zu der Party eingeladen, und es war mir ein Greuel, Parties mit meinen Freundinnen zu besuchen, ausnahmslos Mauerblümchen. Das Schlimmste war herumzustehen und zu hoffen, irgendein Junge würde mich beachten, als sei ich eine Bettlerin, die als milde Gabe ein wenig Freundlichkeit ersehnte. Diese Genugtuung würde ich keinem Jungen jemals gönnen. Wenn Einsamkeit der Preis war, den ich bezahlen mußte, bis sich ein Richtiger für mich fand, dann war ich bereit, ihn zu bezahlen, beschloß ich und bemühte mich dann, nicht mehr daran zu denken.

Aber das Einschlafen fiel mir nicht leicht, wenn ich mich fragte, was für eine Sorte Mann wohl an meine Tür klopfen, mir Pralinen und Blumen bringen und so aufgeregt herumstehen würde wie diese drei, die sich um Belinda scharten, eifrig auf ein Kompliment versessen, auf einen freudigen Blick, ein Versprechen, das über meine Lippen kam.

»Es ist schon ziemlich spät«, kündigte ich schließlich an. Sie drehten sich alle zu mir um, als merkten sie eben erst, daß ich noch da war.

»Ja, ich muß rechtzeitig zu einer Probe erscheinen«, sagte Quin.

»Ich hoffe, dir geht es jetzt wieder besser«, sagte Arnold.

»Das hoffe ich auch«, schloß sich Peter an.

Belinda beugte sich vor und ließ die Decke wieder unter ihre Brüste fallen. Drei Augenpaare wurden groß und hefteten sich auf den tiefen Spalt zwischen ihren Brüsten. Ich räusperte mich vernehmlich und nickte ihr zu, und sie zog die Decke wieder hoch.

»Ich rufe dich morgen an«, versprach Arnold.

Die beiden anderen versprachen es ihr ebenfalls und verließen dann das Zimmer. Ich folgte ihnen zur Tür und sah ihnen nach, wie sie die Treppe hinunterliefen, ehe ich mich wieder zu Belinda umdrehte.

»War das nicht nett?« fragte sie.

»Welcher von ihnen war es, Belinda?«

»Wie bitte?«

»Du weißt genau, was ich meine. Wer war der Vater?« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich es nicht weiß, Olivia. Und außerdem hat Daddy gesagt, wir sollten nicht mehr darüber reden«, rief sie aus und begrub ihr Gesicht im Kopfkissen.

»War es einer von ihnen?Ja, nicht wahr?«

»Bitte, Olivia.«

»Ganz gleich, wer es ist – weiß er es? Weiß er, was sich in diesem Zimmer abgespielt hat?«

»Hör auf, Olivia.« Sie schlug sich die Hände auf die Ohren. »Ich höre dir nicht länger zu.«

Ich trat dicht an ihr Bett.

»Hast du ihn angerufen und ihm erzählt, was vorgefallen ist und wozu sich dein Vater gezwungen gesehen hat? Ja oder nein?«

»Nein. Ich weiß nicht, wen ich anrufen sollte, das habe ich dir doch gesagt.«

»Es ist einfach ekelhaft, Belinda. Als wäre es nicht schon ekelhaft genug, zu tun, was du getan hast, aber daß du dann auch noch zu allem Überfluß nicht weißt …«

Sie fing an zu weinen.

»Ich werde bestimmt wieder krank, und dann kann ich nächste Woche nicht zur Schule gehen«, drohte sie an.

»Für die Schule wird das kein großer Verlust sein«, murrte ich.

Ich ließ sie heulend liegen und ging nach unten, um Daddy zu suchen. Er saß in seinem Büro und ordnete Papiere in Akten ein. Dort bewahrte er all unsere persönlichen Steuerunterlagen und familiären Dokumente auf. Bei meinem Eintreten wandte er sich vom Aktenschrank ab.

»Findest du nicht, es war ziemlich dreist, einfach hier aufzutauchen, Daddy? Bestimmt ist einer von ihnen …«

»Laß das, Olivia«, sagte er und hob eine Hand. »Wir haben es aus unserem Gedächtnis gelöscht.«

»Ich weiß, Daddy. Ich bin nur … so wütend auf sie, weil sie uns das angetan hat.«

»Ja, ich weiß, aber du mußt auf sie aufpassen, Olivia. Diese Lektion haben wir gelernt.«

Warum Daddy bei Belinda und niemandem sonst, nicht einmal meiner Mutter, Schwäche duldete, war eine Frage, die mir wie eine Gräte im Hals steckte.

»Ich verlasse mich darauf, daß du auf sie aufpaßt«, sagte er. »Auf dich wird sie hören.«

»Bisher hat sie es nicht getan, Daddy. Das hat sich in einer schrecklichen Form erwiesen.«

»Ich weiß, aber ich glaube fest daran, daß sie sich ändern wird«, beharrte er.

Ich starrte ihn einen Moment an, und er mußte den Blick abwenden, etwas, was bei ihm nur äußerst selten vorkam. Zwischen Daddy und mir bestand eine unausgesprochene, aber gelebte Verbindung, ein beiderseitiges Verständnis. Wir wußten, daß wir einander nicht belügen konnten.

Im Moment log er mich an, und ihm war klar, daß ich es wußte. Er glaubte nicht wirklich, daß Belinda sich ändern konnte.

Warum log er?

Meine Wut auf Belinda blies sich auf wie ein Ballon, der mit Haß gefüllt ist, weil sie Daddy dazu brachte, daß er log.

Eines Tages, gelobte ich mir, würde sie begreifen, was sie angerichtet hatte, und sie würde um Vergebung flehen. In meinem Innersten war ich jedoch der Überzeugung, daß es bis dahin zu spät sein würde und ich diese Vergebung nicht mehr gewähren konnte.

Erstaunlicherweise bestand Belinda ihre Abschlußprüfungen in Englisch, wenn auch nur mit knapper Not und einer Menge Nachhilfeunterricht. Ich hatte jedoch ganz entschieden den Eindruck, daß sie auch von Seiten ihrer Lehrer ein wenig Hilfe bekommen hatte, vielleicht aufgrund von Daddys gesellschaftlichem Rang. Im Lauf der Woche vor den Abschlußfeierlichkeiten bat Mutter Daddy, uns nach Boston zu bringen, damit wir dort ein hübsches Kleid für Belinda finden konnten. Sie wollte etwas ganz Besonderes aus ihr machen. Es war, als hätte Mutter eine Möglichkeit gefunden, die Schrecklichkeit, die sich ereignet hatte, wettzumachen: Sie befaßte sich so eingehend mit den Festlichkeiten für Belinda, daß ihr keine Zeit blieb, an etwas anderes zu denken oder sich zu erinnern. Mit einer einzigen Einkaufsorgie fegte sie die dunklen Wolken fort, die beharrlich in den Winkeln unseres Hauses hingen. Es würden keine Schatten mehr zurückbleiben, keine Erinnerungen, und alles würde wieder strahlend hell und fröhlich sein. Daddy schien ihr diesen Gefallen nur zu bereitwillig zu tun und ihr in eine Welt zu folgen, deren Motto war: »Nichts Böses sehen, nichts Böses hören.«

Im letzten Moment beschloß Mutter, sich sogar selbst zu überbieten und einen Modeschöpfer in unser Haus kommen zu lassen, damit er ein Modellkleid für Belinda entwarf. Die Kosten würden ohne weiteres dreimal so hoch sein wie die für ein Kleid von der Stange, aber wieder einmal kapitulierte Daddy vor der Schlacht, und zu meinem Erstaunen legte er sein berühmtes Maß »Was springt unter dem Strich dabei heraus?« zur Seite. Diesmal gab es kein »Unter-dem-Strich«.

Ich mußte zugeben, daß Belinda am Tag der Abschlußfeier zauberhaft aussah. Auch der Nachmittag war wie geschaffen für eine Party im Freien. Eine sanfte warme Brise wehte vom Meer her, und der Himmel war türkis mit Wattewolken, die sich kaum wahrnehmbar am Horizont bewegten.

Es war beschlossen worden, Belinda sollte dasselbe Mädchenpensionat besuchen, in dem ich gewesen war, nur würde sie gleich dort beginnen und schon im Sommer an den Kursen teilnehmen. Daddy hielt es für klug, sie so schnell wie möglich von hier fortzuschaffen und ihr eine förmliche Erziehung angedeihen zu lassen, die sie damenhafter machen sollte. Seine Absichten waren unmißverständlich: Er wollte einen Siegespreis für den richtigen jungen Mann aus ihr machen.

Meine Abschlußfeier hatte nicht im Freien stattfinden können. Sie war auf einen regnerischen Tag gefallen. Im Auditorium war es stickig und sehr ungemütlich gewesen, da Dutzende von kleinen Kindern weinten, überall Blitzlichter aufflackerten und stolze Eltern und Großeltern winkten und wie Besucher in einem Zoo gafften. Ich war mir vorgekommen wie ein Tier in einem Käfig, gemeinsam mit meinen Klassenkameradinnen eingepfercht, während wir darauf warteten, daß die Reden endeten.

Belindas Abschlußfeier hatte eher etwas von einem vornehmen Picknick. Das Gelände war mit Luftballons und Girlanden geschmückt. Der Sonnenschein ließ alle fröhlich und lebhaft und vor Glück ausgelassen wirken. Kleine Kinder konnten umherlaufen und abseits von den Erwachsenen spielen. Der Marsch »Land of Hope and Glory« wehte melodisch durch die warme Luft. Alle erhoben sich, und die Schulabgänger kamen heiter und aufgeregt durch den Mittelgang, um ihre Plätze auf dem Podium einzunehmen.

Vielleicht lag es daran, daß es nicht meine eigene Abschlußfeier war, aber mir schien zudem alles viel reibungsloser abzulaufen. Die Reden waren nicht so lang, und im Nu wurden die Abschlußzeugnisse verteilt. Daddy überraschte mich mit seiner Aufregung. Er benahm sich genauso wie all die anderen stolzen Väter und eilte durch den Gang, um Belinda zu fotografieren, während sie ihr Abschlußzeugnis entgegennahm. Bei meinem Abschluß hatte er auf den professionellen Gruppenfotografen vertraut und war keinen Moment von seinem Sitz aufgestanden. Belinda nahm ihr Abschlußzeugnis mit ihrem gewohnten Flair entgegen und drehte sich fast vollständig im Kreis, um in Daddys Richtung zu lächeln.

»Dem Himmel sei Dank«, murmelte Mutter an meiner Seite. »Ich hatte meine Befürchtungen.«

Hinterher feierten wir im Clam and Claw, einem Restaurant unweit der Spitze von Cape Cod, das sich auf Meeresfrüchte spezialisiert hatte. Daddy lud einige seiner Geschäftspartner ein, sich uns anzuschließen, und schon bald sah ich, daß sich Belinda zu langweilen begann. Sie sprudelte über vor Glück, als Peter Wilkes im Restaurant auftauchte.

»Oh, das ist gut«, sagte sie, als er kam. »Ich dachte schon, ich würde vor Langeweile sterben.«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Daddy und unterbrach sein Gespräch, um zu Peter aufzublicken.

»Ich vermute, ich bin etwas zu früh dran«, sagte Peter.

»Das macht nichts. Dir ist es doch recht, Daddy?« fragte Belinda überschwenglich.

Daddy lächelte seine Gäste verlegen an.

»Tja … du hast doch noch gar nicht aufgegessen, Belinda.«

»Oh, noch mehr kann ich nicht essen, Daddy. Ich bin satt.«

»Wohin gehst du?« fragte ich, als sie aufstand.

»Zur Strandparty, wohin denn sonst, du Dummkopf. Weißt du es nicht mehr? Daddy hat gesagt, daß es ihm recht ist«, fügte sie hinzu.

Ich sah Daddy an. Sein Blick traf meinen, und dann wandte er eilig den Kopf ab.

»Aber du wirst früh nach Hause kommen, Belinda. Schulabschluß oder nicht …«

»O Winston, seien Sie doch kein Unmensch«, sagte Mr. Collins. Er war einer von Daddys Geschäftspartnern. »Ein junges Mädchen schließt nur einmal im Leben die Highschool ab.«

»Dafür sei dem Himmel gedankt«, sagte Mutter, und alle am Tisch außer mir lachten.

Belinda lief um den Tisch herum., um alle zu umarmen und jedem einen Kuß zu geben. Sogar mir schlang sie die Arme um den Hals.

»Danke, große Schwester«, sagte sie. »Der Koffer ist einfach prima.«

Ich hatte ihr für ihre Reise zum Mädchenpensionat ein hochwertiges Gepäckstück geschenkt, einen praktischen Gegenstand, einen der wenigen praktischen, die sie erhalten hatte.

Peter lächelte mich matt an und eilte hinter Belinda her, die ihn an der Hand zur Tür zog.

»Tschüß«, rief er.

Ich warf einen Blick auf Daddy. Er sah hinter den beiden her, schaute mich kurz an und wandte sich dann ab, um sich mit Mr. Collins zu unterhalten.

Gut eine Stunde später verließen wir das Restaurant. Der Abend erwies sich als ebenso schön wie der Tag. Es war eine richtig laue Nacht. Als wir nach Hause fuhren, sah ich auf das Meer hinaus und überlegte mir, wie wunderbar es sein mußte, jetzt eine Strandparty zu besuchen. Ein nahezu wolkenloser Himmel gab den Blick auf unzählig viele Sterne frei. Nie war der große Bär so deutlich, so scharf zu sehen gewesen.

Als wir zu Hause ankamen, ging ich sofort in mein Zimmer. Ich wünschte mir nichts weiter als einzuschlafen, einzuschlafen und zu vergessen, einzuschlafen und zu träumen, ich sei ein anderer Mensch und an einem anderen Ort. Es dauerte lange, bis ich einschlief, weil ich mich von einer Seite auf die andere wälzte und zeitweilig mit weit offenen Augen dalag. Der Schlaf verbarg sich hinter einer verschlossenen Tür und war noch nicht bereit, mich in seinen Armen zu wiegen.

Erst mußt du leiden, sagte ich mir. Du mußt unter deiner Einsamkeit leiden.

Endlich schlief ich ein, wurde jedoch kurz darauf von einem erst sanften und dann lauten Klopfen an meiner Tür geweckt. Im ersten Moment glaubte ich, ich hätte es nur geträumt. Dann setzte ich mich auf und hörte es wieder.

»Ja?«

Daddy streckte den Kopf zur Tür herein.

»Es ist mir schrecklich unangenehm, dich damit zu belästigen, Olivia, aber … ich meine … deine Mutter macht sich auch Sorgen.«

»Sorgen? Warum denn das?«

»Es ist kurz vor drei Uhr morgens, und Belinda ist noch nicht nach Hause gekommen.«

»Das hat dir früher nie Sorgen bereitet«, sagte ich mit scharfer Stimme.

Er zögerte.

»Ja, nun, wenn man bedenkt, was passiert ist …«

»Darüber sollten wir doch nicht reden, oder, Daddy?« fauchte ich. Ich war nicht besonders gnädig gestimmt.

»Bitte, Olivia.«

»Was willst du von mir, Daddy?«

»Könntest du sie suchen?«

»Am Strand?«

»Ja«, sagte er. »Wir wollen nicht, daß sie sich noch mehr Schwierigkeiten einhandelt.«

»Ich kann nicht glauben, daß sie so etwas täte«, sagte ich. Er blieb in der Tür stehen.

»Ich mache mir in erster Linie Sorgen um deine Mutter«, sagte er.

»Also gut«, sagte ich. »Ich gehe sie suchen.«

»Danke, Olivia.«

Ich stand auf und zog eine Hose und einen Pullover an. Auf dem Weg zur Tür schnappte ich meine leichte Jacke und eilte durch den Korridor und die Treppe hinunter, von meiner Wut angetrieben. Wie konnte sie bloß derart unsensibel und selbstsüchtig sein? Sie wußte, was Daddy und Mutter durchgemacht hatten. Beide waren großzügig und verziehen ihr alles, doch Belinda nutzte sie immer wieder aus.

Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zur Küstenstraße. Ich wußte, daß es am östlichen Ende des Kaps einen Strand gab, den die Schulkinder immer bevorzugt hatten, sogar schon vor meinen Zeiten. Wie zu erwarten sah ich auf dem Weg, daß dort noch Wagen geparkt waren. Sie würden die ganze Nacht durchmachen.

Ich fand eine Lücke, parkte und stampfte dann über den Sandstrand auf eines der Lagerfeuer zu. Zu meiner Rechten hörte ich Gelächter und Radiomusik, die der Wind zu mir trug. Er peitschte mein Haar und sprühte mir Sand ins Gesicht. Der Ozean mit seinen weißen Schaumkronen rollte tosend auf den Strand.

Um das Feuer sah ich Pärchen, die sich in Decken gehüllt hatten, aber keines der Mädchen war Belinda. Sie blickten neugierig zu mir auf. Manche von ihnen hatten Whiskey und Wein mitgebracht.

Ich setzte meinen Weg zum nächsten Lagerfeuer fort, und meine Wut kochte über wie heiße Milch in einem Topf. Auch hier war von Belinda nichts zu sehen, aber ich erkannte Marcia Gleason und Arnold Miller. Arnold wäre fast aus seiner Decke herausgesprungen, als er sah, wie ich auf ihn zusteuerte.

»Wo ist meine Schwester?« fragte ich barsch.

»Belinda?« sagte er benommen und setzte sich langsam auf. Ich konnte sehen, daß Marcias Oberkörper unter der Decke entblößt war.

»Nein, meine anderen zehn Schwestern. Natürlich meine ich Belinda. Wo steckt sie?«

»Ich bin nicht sicher …«

»Jemand wird sich eine Menge Ärger einhandeln, wenn ich sie nicht innerhalb einer Minute finde«, drohte ich. »Wissen deine Eltern eigentlich, wo du im Moment steckst und was du tust, Marcia?« fragte ich bissig.

»Ich dachte, sie wäre nach Hause gegangen«, jammerte Marcia. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, wollte sie mit Quin einen Spaziergang machen. Die beiden sind über den Hügel gelaufen«, fügte sie hinzu und wies auf die Böschung hinter sich. Ich sah einen Moment lang finster auf sie hinab.

»Ich hoffe, ich brauche nicht wiederzukommen«, sagte ich und lief auf die kleine Anhöhe zu, die sich am Strand erhob. Ich konnte hören, wie Arnold Marcia dafür ausschalt, daß sie mir einen Tip gegeben hatte.

Nachdem ich den kleinen Hügel erklommen hatte, sah ich lange Zeit gar nichts. Dann fiel mir zu meiner Rechten eine Bewegung auf, und ich entdeckte zwei Köpfe, die aus einem Schlafsack herausschauten. Als ich näher kam, sah ich unmißverständliche Bewegungen im Schlafsack. Blut schoß mir ins Gesicht.

»Belinda!« schrie ich, aber meine Stimme wurde vom Wind fortgetragen. Im Näherkommen schrie ich ihren Namen noch einmal, und schließlich hielten beide inne und zögerten. Ich rief noch einmal nach ihr.

»Olivia?« hörte ich sie sagen.

»Du verdammtes Miststück«, schrie ich, und sie stoben auseinander wie Ratten. Quin tastete im Sand nach seinen Kleidern. Als ich endlich neben den beiden stand, zog er gerade seine Hose hoch. Belinda hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Wie kannst du das bloß tun?« herrschte ich sie an.

»Wir wollten gerade …« Quin tastete nach seinen Turnschuhen.

»Ich weiß genau, was ihr gerade getan habt, Quin Lothar«, sagte ich.

»Ich muß jetzt gehen. Es ist schon spät«, sagte er und sprang auf, ohne sich die Zeit zu lassen, in seine Schuhe zu schlüpfen. Im nächsten Moment war er in der Dunkelheit verschwunden.

Belinda wimmerte.

»Du hast mir meine Abschlußparty verdorben«, sagte sie schluchzend.

»Ich habe dir … Weißt du überhaupt, daß Mutter und Daddy vor Sorge außer sich sind? Und nachdem ich dich jetzt gefunden und selbst gesehen habe, was du hier treibst, hatten sie allen Grund zur Sorge. Wie konntest du das tun – nach allem, was passiert ist?« fragte ich, und meine Verwunderung war deutlich zu hören. Kannte Belinda tatsächlich keine Grenze?

»Wir haben aufgepaßt«, sagte sie.

»Es ist beruhigend, das zu wissen. Springst du eigentlich in jeden x-beliebigen Schlafsack am Strand, Belinda?«

»Nein. Heute ist meine Abschlußparty!« erklärte sie, als sei das eine offizielle Genehmigung, jegliche Moral abzulegen.

»Zieh dich an, und komm augenblicklich mit mir nach Hause«, sagte ich.

»Aber alle bleiben die ganze Nacht hier.«

»Daddy hat mich geschickt«, betonte ich, um sie zu beeindrucken. Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Belinda, ich gehe nicht ohne dich nach Hause.«

»Es ist einfach abscheulich«, rief sie aus. »Du warst froh, daß du herkommen und mich holen konntest. Du willst nämlich nicht, daß ich meinen Spaß habe, weil du nie deinen Spaß hast.«

»Wenn du das hier darunter verstehst, deinen Spaß zu haben, dann hast du vollkommen recht«, fauchte ich sie an. »Und jetzt zieh dich an. Und zwar sofort!«

Sie kroch aus dem Schlafsack und begann sich anzuziehen. Ich konnte ihr nicht dabei zusehen. Mein Ekel war zu groß. Daher wandte ich mich ab und sah in die Richtung, aus der das Tosen der Brandung zu vernehmen war.

Sollte Belinda etwa recht haben? War ich tatsächlich hergekommen, um sie zu holen, weil ich neidisch auf sie war? Wenn mir in der Highschool jemand begegnet wäre, zu dem ich mich hingezogen fühlte und der sich zu mir hingezogen fühlte, wäre ich dann auch am Strand gewesen?

Etwas in meinem Inneren sagte nein, ich wäre vernünftiger gewesen, aber in jenem Augenblick fühlte ich mich deshalb nicht wohler, und ich empfand mich auch nicht als überlegen. Statt dessen fühlte ich tiefe Traurigkeit

Belinda schmollte, als wir über den Strand zum Wagen stapften. Musik und Gelächter folgten uns.

»Ich werde nicht immer da sein, um dich vor dir selbst zu beschützen, Belinda«, sagte ich zu ihr, als wir den Wagen erreicht hatten.

»Prima!« warf sie mir an den Kopf.

Auf der Heimfahrt siedete sie. Sowie wir das Haus betreten hatten, stolzierte sie die Treppe hinauf und knallte die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich zu. Daddy kam mir entgegen.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?« fragte er.

»Ja«, sagte ich und beschloß, ihm die grausigen Einzelheiten zu ersparen. Er schien sie ohnehin nicht hören zu wollen.

»Danke, Olivia«, sagte er. »Du bist die Stärke dieser Familie, ihr stählernes Rückgrat. Und so wird es immer sein«, fügte er mit einem Nicken hinzu. Es war, als hätte er mich zum Erben seines Throns ernannt, ob er es wollte oder nicht.

Er hatte klargestellt, wer ich zu sein hatte.

Ich schlief ein und träumte von dem Schlafsack, den wir leer am Strand zurückgelassen hatten.

Olivia

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