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Wolf im Schafspelz

Eine Zeitlang glaubte ich, Belinda würde das Mädchenpensionat nicht besuchen, oder Daddy würde sich erweichen lassen und den Termin bis zum Herbst verschieben. Mehrfach geriet er ins Wanken und hätte ihrem Flehen fast nachgegeben. Sie unternahm verzweifelte Anstrengungen, ihn dazu zu bringen, und sie ächzte und stöhnte, weil sie den Sommer nicht frei haben würde, um ihn gemeinsam mit ihren Freunden auszukosten.

Wenn Daddy wankelmütig wurde, richtete ich ihn wieder auf.

»Du weißt genau, daß sie es mehr denn je braucht, Daddy. Deine Idee ist gut. Laß dir von ihr keinen Sand in die Augen streuen. Wenn sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen weiß, werden wir alle Hände voll mit ihr zu tun haben«, rief ich ihm ins Gedächtnis zurück. Er kniff die Lippen zusammen und hielt an seinem Vorsatz fest, aber Belinda gab nicht auf.

»Wer geht schon im Sommer zur Schule? Doch nur, wer bei den Prüfungen durchgefallen ist. Ich bin nicht durchgefallen«, klagte sie und vergällte uns jeden Abend von neuem nach Kräften das gemeinsame Essen, um ihren Kopf durchzusetzen.

»Es wird dir gar nicht so vorkommen, als gingest du zur Schule, Belinda«, sagte Mutter zu ihr. »Es ist eine ganz besondere Schule mit einem wunderbaren Park und herrlichen Wohnheimen, nicht wahr, Olivia?«

»Ja«, sagte ich. »Dort wird einem alles geboten, und einige Lehrkräfte sind ganz ausgezeichnet.«

»Und trotzdem ist es eine Schule. Und ich muß in stickigen Klassenzimmern sitzen, während draußen die Sonne scheint und meine Freundinnen hier zu Hause segeln gehen und ihren Spaß haben, oder etwa nicht?« stöhnte Belinda. Sie schmollte, weigerte sich zu essen, stampfte durch das Haus, war beleidigt und ließ ihre schlechte Laune an allen anderen aus, als der Tag ihrer Abreise nahte.

In der Woche vor ihrem Aufbruch beharrte Belinda darauf, ihre Freunde und Freundinnen täglich ins Haus zu bestellen, damit sie sich von ihr verabschieden konnten, als zöge sie in den Krieg, und sie würden sie möglicherweise nie wiedersehen. Jedesmal, wenn jemand ging, war sie in Tränen aufgelöst.

»Niemand wird mir schreiben oder mich anrufen. Alle behaupten es, aber keiner wird es tun. Sie werden mich augenblicklich vergessen«, erklärte sie schluchzend.

»Wenn es dazu kommt, dann zeigt das nur, daß sie ohnehin keine guten Freundinnen waren«, sagte ich zu ihr.

»Richtig«, bestätigte Mutter.

»Oh … so ein Blödsinn!« rief sie aus. Ihr Gesicht war vor Frustration gerötet, als sie in ihr Zimmer rannte.

Tatsächlich genoß ich ihre Aufbruchstimmung und kostete ihre unablässigen Klagen, ihr Schluchzen und ihr Schmollen aus. Meinem Gesichtsausdruck konnte sie entnehmen, daß sie von mir kein Mitleid zu erwarten hatte, und ganz gleich, was sie zu Mutter sagte und welche düsteren Vorhersagen sie traf, fand Mutter immer wieder etwas Beschönigendes zu sagen.

»Du wirst neue Leute kennenlernen und neue Freundschaften schließen, interessante neue Dinge sehen und soviel lernen. Überleg dir nur, welche Gelegenheiten sich dir bieten, Belinda, meine Liebe. Ich wünschte, ich wäre noch einmal jung und könnte auch ein Mädchenpensionat besuchen.«

»Und ich wünschte, ich wäre alt und hätte all das hinter mir«, gab sie erbost zurück, und Tränen strömten über ihre Wangen.

Das brachte mich zum Lachen: Belinda wünschte sich, alt zu sein.

»Du machst dir keine Vorstellungen davon, was Alter bedeutet«, sagte ich zu ihr. »Sowie du die erste Falte in deinem Gesicht entdeckst, wirst du mit Selbstmord drohen.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Du bist grauenhaft zu mir, Olivia. Wenn ich fort bin, werde ich dir fehlen«, drohte sie mir an, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte und sie um so bitterer schmollen ließ.

Schließlich kam der Tag ihrer Abreise. Sie trug wenig dazu bei, sich darauf vorzubereiten. Carmelita mußte unter Mutters Aufsicht alles packen. Belinda packte nicht einmal ihre eigenen Toilettenartikel selbst ein. Es war abgemacht, daß wir alle gemeinsam mit der Limousine hinfahren würden, aber mir gelang es, mich im letzten Moment doch noch vor der Fahrt zu drücken. Daddy war enttäuscht. Niemand in unserer Familie konnte so gut mit Belinda umgehen wie ich. Dennoch war ich entschlossen, nicht stundenlang im Wagen zu sitzen und mir anzuhören, wie sie jammerte, daß wir alle grausam zu ihr waren.

Sie legte eine grandiose Darbietung hin, als Daddy sagte, sie solle aus dem Haus kommen und in den Wagen steigen. Sie stand auf den Steinplatten des Gehwegs und sah mich mit Tränen in den Augen an.

»Auf Wiedersehen, Olivia«, sagte sie und preßte die Hände auf ihr Herz. »Auf Wiedersehen, Haus. Auf Wiedersehen, ihr guten alten Zeiten. Hiermit verabschiede ich mich von meiner Kindheit und auch davon, jung zu sein und meinen Spaß zu haben. Man liefert mich Ungeheuern und Lehrerinnen mit grausamen Augen aus, die mir das Gefühl geben werden, ich sei ohnehin zum Scheitern verurteilt. Ich werde niemanden haben, den ich um Hilfe bitten kann, wenn ich müde bin oder mich einsam fühle.« Sie unterbrach sich und sah mich an. »Hör auf zu lächeln, Olivia. Du weißt, daß ich nicht übertreibe. Du bist selbst dort gewesen. Du weißt genau, wie es dort zugeht.«

»Belinda, dort wirst du endlich nicht mehr maßlos verhätschelt werden, falls es das ist, was du meinst, und zur Abwechslung kann es passieren, daß du größere Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen mußt als auf deine eigenen«, sagte ich.

»Du bist gemein. Ich hasse dich«, fauchte sie mich an und wandte sich dem Wagen zu, doch ehe sie einstieg, warf sie noch einen Blick auf mich. »Bitte, ruf mich an, Olivia. Ruf mich noch heute abend an. Bitte«, flehte sie.

»Ich werde dich anrufen«, versprach ich. »Und jetzt hör endlich auf, dich wie ein verzogenes Balg zu benehmen. Damit könntest du allen Beteiligten das Leben leichter machen«, sagte ich schroff.

Sie unterdrückte ihr Schluchzen, holte einmal tief Atem wie jemand, der unter Wasser taucht, und stieg in den Wagen. Ich mußte unwillkürlich lächeln. Vielleicht würde sie mir wirklich fehlen, überlegte ich, aber ich hoffte, sie würde sich ein klein wenig verändern, ein klein wenig erwachsener werden und genau das tun, was ich ihr angeraten hatte: uns allen das Leben erleichtern.

Auf Belindas Abreise folgte eine täuschende Phase der Ruhe. Daddy und ich waren mit seinen Firmen beschäftigt. Belinda rief ein paar Tage lang an und weinte am Telefon, ehe sie aufgab. Es sah schon ganz so aus, als sei uns doch noch ein ereignisloser Sommer beschert.

Nachdem Belinda jetzt zu den Akten gelegt war, so sicher abgeheftet wie ein Packen peinlicher Dokumente, wandte mir Daddy einen größeren Teil seiner Aufmerksamkeit zu und arrangierte so unauffällig, daß ich es nicht bemerkte, ein Rendezvous mit Clayton Keiser für mich, dem Sohn unseres Buchhalters. Dabei ging er keineswegs subtil vor. Eines Tages auf der Heimfahrt vom Büro teilte er mir mit, die Keisers kämen am Freitag zum Abendessen zu uns.

Natürlich hatte ich Clayton schon vorher getroffen. Er war fünf Jahre älter als ich, und auch er arbeitete jetzt, nach beendetem Studium am College, für seinen Vater. Ich hatte ihn immer nur mit einem flüchtigen Blick bedacht, und in der ganzen Zeit, seit ich ihn und seine Familie kannte, hatte ich kaum mehr als ein Dutzend Worte mit ihm gewechselt.

Harrison Keiser, Claytons Vater, sah aus, als hätte ihn ein Filmregisseur dafür ausgewählt, die Rolle des Buchhalters zu spielen. Er war ein hagerer Mann mit kleinen, funkelnden dunklen Augen und Detailbesessenheit, ganz gleich, wie unscheinbar oder bedeutungslos die jeweiligen Einzelheiten anderen Leuten auch erscheinen mochten. Sein Sohn Clayton war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und vereinte auch die Eigenschaften seines Vaters in sich. Beide hatten kleine runde Gesichter, dieselben Augen und dünne Nasen mit winzigen Nasenlöchern. Clayton hatte auch den teigigen Teint seines Vaters und dessen weiche, sehr feminine Lippen geerbt. Das Einzige, was er von seiner Mutter hatte, war das dichte, schimmernde kastanienbraune Haar, das er kurzgeschnitten trug, fast schon militärisch korrekt.

Ich war so viele Klassen unter ihm gewesen, daß ich mich aus meinen Schulzeiten nicht an ihn erinnerte, aber ich wußte, daß er unsportlich und der Inbegriff eines Bücherwurms war, mit dicken Brillengläsern und lammfromm. Er war zwar ein ausgezeichneter Schüler, aber er durfte nicht die Abschlußrede halten, weil in der Schule großer Wert auf Sport gelegt wurde. Daddy berichtete mir, damals sei eine heftige Diskussion entflammt, aber die Schule sei nicht von ihren Auswahlkriterien abgewichen, um Clayton zu seinem Recht kommen zu lassen. Ich glaubte, die Lehrer und die Verwaltung wollten ihn ganz einfach nicht als Schulsprecher und Repräsentanten vor sämtlichen Eltern und geladenen Gästen sehen.

Clayton war gerade fünf bis sieben Zentimeter größer als ich. Er war nach wie vor ein sehr schlanker, nahezu zerbrechlich wirkender Mann, doch er hatte diesen forschenden Blick, der mir das Gefühl vermittelte, er bildete sich ein Urteil über meine Aktiva und Passiva für ein Dokument, das den Titel »Olivia Gordon« trug und meinen Nettowert festlegte.

Anfangs nahm ich nicht wahr, was Daddy und Harrison Keiser ausgeheckt hatten, und mir fiel auch nicht auf, daß sich die Gespräche beim Essen an jenem Abend weitgehend um Clayton und mich drehten, bis Daddy schließlich sagte: »Vielleicht sollte Clayton Olivia zur Vernissage dieser neuen Ausstellung in der Galerie Sea and Shore einladen. Ich glaube, beide interessieren sich für Kunst.«

Ich weiß, daß ich knallrot anlief. Meine Blicke schossen von Daddy zu Clayton und von ihm zu meiner Mutter, die feixte wie die Katze in Alice im Wunderland.

»Gar keine schlechte Idee, was, Clayton?« warf Harrison Keiser hastig ein.

»Nein, Sir.«

»Also dann«, spornte ihn sein Vater an und wies mit einer Kopfbewegung in meine Richtung.

Clayton blickte von seinem Teller zu mir auf, als hätte er meine Anwesenheit gerade erst wahrgenommen. Er tupfte sich mit seiner Serviette die Lippen ab und räusperte sich.

»Ja. Hättest du Lust, dich von mir zum Abendessen einladen zu lassen und anschließend diese Vernissage zu besuchen, Olivia?« fragte mich Clayton vor der versammelten Tischrunde. Es hätte ebensogut auf der Titelseite der Lokalzeitung prangen können.

Dennoch brachte ich im ersten Moment kein Wort heraus. Es war, als hätten meine Stimmbänder eine Meuterei angezettelt. Ich sah, wie mich Daddy erwartungsvoll anstarrte. Endlich sog ich genug Luft für eine Antwort in meine Lunge. Natürlich sagte ich ja. Was hätte ich sonst schon tun können?

Das Gespräch wandte sich dann dem Thema zu, welches Restaurant das beste war, in das wir vor der Vernissage gehen konnten. Clayton hatte keine Meinung, ich ebensowenig. Tatsächlich wurde unser gesamter Abend von unseren Eltern geplant, als seien wir Figuren auf einem Schachbrett. Claytons Vater schlug vor, er solle zu seinem Herrenausstatter gehen, um sich einen neuen Anzug und eine neue Krawatte schneidern zu lassen. Seine Mutter fand, er solle sich eine neue Frisur zulegen. Meine Mutter sprach von einem Kleid, das sie gerade gesehen hatte, einem Kleid, von dem sie beschlossen hatte, es eigne sich perfekt für mich und würde einem solchen Anlaß durchaus gerecht.

Alle vier setzten ihre Diskussion über unsere arrangierte Verabredung fort, ohne sich auch nur ein einziges Mal an Clayton oder mich zu wenden und eine Meinung oder eine Reaktion von unserer Seite einzuholen. Clayton sah mich ein paarmal an, aber die meiste Zeit verbrachte er mit gesenktem Blick und konzentrierte sich auf das Essen, während er den Löffel und die Gabel mit der Präzision seines Vaters zum Mund führte und sich nahezu synchron mit seinem Vater die Lippen mit der Serviette abtupfte. Die beiden waren einander so ähnlich, daß es schon erschreckend war.

Gegen Ende des Abends, als die Keisers gingen, wandte sich Clayton endlich an mich. Alle anderen unterbrachen ihre Gespräche, als würde der Prinz endlich einen königlichen Erlaß verkünden.

»Ich komme um Viertel nach sechs, wenn dir das recht ist«, sagte er. »Wir werden fünfzehn Minuten brauchen, um das Restaurant zu erreichen. Damit hätten wir eine Stunde für das Abendessen, und von dort aus sind es etwa zwölf Minuten zur Galerie.«

Ich kam mir vor, als sollte ich meine Armbanduhr mit seiner synchronisieren. Daher nickte ich nur. Er kniff die Lippen zusammen, die größte Annäherung an ein Lächeln, die er zustande brachte, und dann wandte er sich seinen Eltern an der Tür wieder zu. Alle verabschiedeten sich und gingen.

Ich fiel sofort über Daddy her.

»Warum hast du mir das angetan? Ich hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen, und daher konnte ich nur ja sagen. Es ist mir gar nichts anderes übrig geblieben.«

»Er ist ein netter junger Mann, der sich in der Firma seines Vaters hervortut. Solche jungen Männer findet man heutzutage nicht mehr allzu leicht, Olivia.«

»Ich fände lieber selbst einen netten jungen Mann«, sagte ich.

»Ich versuche doch nur, dir zu helfen, meine Liebe. Es kann nichts schaden, einen Versuch zu unternehmen. Es kostet dich schließlich nichts außer deiner eigenen Zeit«, fügte er hinzu und rief mir abrupt ins Gedächtnis zurück, daß ich mit einem Großteil meiner Zeit ohnehin nichts anfing. »Und dann ist da auch noch diese Vernissage. So etwas magst du doch, oder nicht? Unter dem Strich ist es kein Opfer.«

»Ich weiß, Daddy, aber …«

»Dein Vater hat recht. Du solltest öfter ausgehen, meine Liebe. Selbst wenn aus Clayton und dir nichts wird, werden dich bei der Gelegenheit andere junge Männer herausgeputzt sehen und sich sagen, das ist jemand, den ich gern kennenlernen würde. Nur so geschehen wunderbare Dinge«, fuhr sie fort. »Es wird ja solchen Spaß machen, dir ein Kleid maßschneidern zu lassen, die passenden Schuhe zu finden, dir neuen Modeschmuck zu besorgen und zur Friseuse zu gehen.«

Mir wurde klar, daß Mutter diese Dinge nicht nur für mich wollte, sondern sie sich auch um ihrer selbst willen wünschte. Belinda war fort, und von Romantik wurde im Haus nicht mehr viel geredet.

»Also gut«, sagte ich und erbarmte mich, »aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich mit Clayton Keiser Spaß haben werde.«

»Solche Dinge weiß man im voraus nie, meine Liebe«, sagte meine Mutter. »Als ich das erste Mal mit deinem Vater ausgegangen bin, dachte ich mir dasselbe.«

»Nein, das ist nicht wahr, meine Liebe«, bemerkte mein Vater hastig.

»Ich habe es dir nie gesagt, Winston, aber an diesem ersten Abend habe ich mich vor dir zu Tode gefürchtet.«

»Wirklich?« sagte er lächelnd, als könnte er sich damit brüsten.

»Alle haben mir gesagt, ich solle mich vorsehen. Winston Gordon ist ein Mann, haben sie behauptet, der bekommt was er will, und er will eine ganze Menge. Seine Gelüste sind unstillbar«, erklärte Mutter.

Daddys Blick glitt von ihr zu mir, und als er Mutter dann wieder ansah, tauschten die beiden ein schnelles Lächeln miteinander aus.

»Tja, das mag damals zutreffend gewesen sein, aber mit zunehmender Reife habe ich gelernt, mich mehr zurückzuhalten. Ich strebe ein gewisses Gleichgewicht an und bemühe mich, alles sorgfältig zu durchdenken.«

»Sogar dieses Rendezvous hast du nach reiflicher Überlegung sorgsam für mich eingefädelt, Daddy?« sagte ich mit einem bitteren Lächeln.

Er dachte einen Moment nach und lächelte dann.

»Ja. Ja, Olivia, ich halte diesen jungen Mann für sehr vernünftig. Ich hoffe, der heutige Abend hat dir Spaß gemacht«, schloß er und zog sich mit einer Zigarre zurück.

Mutter tauchte in der kommenden Woche in einen Wirbel von Aktivitäten ein, um mein »perfektes Rendezvous« zu planen. Es sollte sich herausstellen, daß das Kleid, das ihr passend für den Anlaß erschienen war, doch nicht das Rechte war, und daher bestand sie darauf, nach Boston zu fahren. Ich versuchte, sie davon abzubringen.

»Für mich ist das kein wichtiges Ereignis, Mutter. Es ist nichts weiter als ein Rendezvous. Allein schon das Wort ist mir verhaßt. Es ist keine Verabredung, es ist ein Plan«, sagte ich.

»Unsinn. Jedesmal, wenn sich eine junge Frau in die Öffentlichkeit begibt, ist das ein großes Ereignis, Olivia. Du solltest dich so attraktiv und präsentabel wie möglich herrichten, oder etwa nicht?«

»Nein, wohl kaum«, sagte ich widerstrebend. Vielleicht hatte sie recht, sagte ich mir. Vielleicht legte ich nicht genug wert auf mein Äußeres, auf den Anblick, den ich bot. Vielleicht war es an der Zeit, daß ich endlich mehr zur Frau und weniger zur erfolgreichen Tochter wurde. Ich ließ mich von ihr herumführen, meine Maße nehmen, mich verhätscheln, mich frisieren und mich einkleiden, bis ich es wagte, mich im Spiegel anzusehen, und zu dem Schluß gelangte, daß auch ich attraktiv und hübsch sein und die Herzen der Männer brechen konnte. Belinda besaß in dieser Familie kein Monopol auf Schönheit. Es war höchste Zeit, daß ich ihr Konkurrenz machte. Am Abend der Vernissage fuhr Clayton um Punkt sechs Uhr fünfzehn vor unserem Haus vor und klingelte. Ich wartete oben, und mein Herz pochte, in erster Linie aus reiner Nervosität. Ich kam mir vor wie eine Schauspielerin mit Lampenfieber, unsicher, ob meine Füße sich bewegen würden. Ich hatte keinen Grund zur Unsicherheit. Mein Haar war nach der neuesten Mode geschnitten. Ich trug eine funkelnde Kette aus Gold und Diamanten und goldene Ohrringe mit winzigen Perlen. Mutter lieh mir auch zwei ihrer Ringe. Mein Kleid war aus smaragdgrüner Seide angefertigt und hatte einen V-Ausschnitt, der für meinen Geschmack zu tief war. Mutter bestand darauf, daß ich auf meinen Hals und meine Schlüsselbeine Make-up auftrug und auf den Teil meiner Brust, der hervorschaute, eine Spur von Rouge tupfte. Viele Male hatte ich Belinda dafür gescholten, daß sie sich allzu verführerisch zurechtmachte. Jetzt fiel es mir schwer, mich nicht selbst auszuschelten.

Bis Clayton eintraf, flatterte Mutter um mich herum wie eine magische Sylphe, die ihre winzigen Flügel spreizte, hier und dort eine Haarsträhne zurückstrich und sich vergewisserte, daß mein Parfum nicht zu aufdringlich und nicht zu dezent war.

»Oh, du bist schön, Olivia. Wirklich. Belinda würde vor Neid sterben«, sagte sie, und das zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht.

Belinda hatte am Nachmittag angerufen. Mutter hatte sie über die Vorbereitungen auf dem laufenden gehalten, und Belinda stöhnte und wimmerte, daß sie nicht da war und mich sehen konnte.

»Ich sitze hier fest und muß lernen, wie ich mit einem Buch auf dem Kopf herumlaufe und anständig dasitze, anständig dastehe und die richtige Gabel und den richtigen Löffel wähle, während du deine Verabredungen hast! Das ist ungerecht, Olivia.«

»Du hast viele Rendezvous gehabt, Belinda. Sogar eines zuviel«, rief ich ihr kühl ins Gedächtnis zurück. »Und außerdem hattest du mehr als genug Spaß, während ich im Mädchenpensionat war und diese Dinge gelernt habe.«

»So ein Blödsinn«, rief sie aus. »Wenn du dir wirklich etwas aus mir machen würdest, dann brächtest du Daddy dazu, daß er meine Gefängnisstrafe hier verkürzt. Etwas anderes als ein feines Gefängnis für Snobs ist das hier nicht, Olivia. Es ist mir noch nicht gelungen, auch nur eine einzige Freundschaft zu schließen. Ich sehe nichts weiter als einen Haufen Nasenlöcher. Die recken ihre Nasen alle viel zu hoch in die Luft.«

Darüber mußte ich lachen.

»Ich fühle mich scheußlich hier, einfach furchtbar. Sogar die männlichen Lehrkräfte sind … wie alte Damen. Sie würdigen mich keines Blickes, es sei denn, sie wollen mir etwas Blödsinniges beibringen, zum Beispiel, wie man jemanden bei der ersten Begegnung korrekt anspricht.«

»Überleg dir nur, wie vollendet deine Formen sein werden, wenn du die Schule hinter dir hast«, sagte ich.

»Das ist mir ganz egal«, sagte sie und listete der Reihe nach ihre zahllosen Klagen auf.

»Ich muß jetzt auflegen«, fiel ich ihr ins Wort. »Ich habe zu viel zu tun, um noch mehr Zeit am Telefon zu verschwenden.«

»Dann leg schon auf. Geh aus, und mach dir einen wunderschönen Abend, und dann kannst du an mich denken, wie ich hier eingesperrt bin und von Vorschriften reglementiert werde«, schloß sie.

Ich hörte die Türklingel und schnappte hörbar nach Luft.

»Clayton ist da«, kündigte Mutter an. Sie öffnete meine Schlafzimmertür wie einen Bühnenvorhang. »Ich wünsche dir viel Spaß, Olivia.«

»Danke, Mutter«, sagte ich.

Carmelita hatte Clayton geöffnet. Er stand in der Eingangshalle und blickte auf, als ich die Treppe herunterkam. Ich fand, in seinem Anzug mit Krawatte sähe er aus wie der Kassierer einer Bank, der auf eine Spareinlage wartet. Ich hoffte, wenn wir allein miteinander wären, würde ein Teil seiner Steifheit von ihm abfallen.

Daddy kam aus seinem Büro gestürmt.

»Da sieh mal einer an. Ist sie nicht wunderschön, Clayton?« spornte er den jungen Mann an.

»Ja, Sir«, sagte dieser und wandte sich an mich. »Du siehst sehr hübsch aus.«

»Danke.«

Carmelita stand abseits und beobachtete das Geschehen ausdruckslos. Als ich mich zu ihr umdrehte, zog sie jedoch eine Augenbraue hoch, und ein Ausdruck echten Erstaunens bildete sich auf ihrem Gesicht. Das bestärkte mein Selbstvertrauen. Ich nehme an, ich sah tatsächlich glänzend aus. Ich wünschte nur, Claytons Reaktionen wären eindeutiger gewesen, als er mit mir redete und mich ansah.

»Also«, sagte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr, »wir sind pünktlich dran. Sollen wir gehen?«

»Ja. Gute Nacht, Daddy«, sagte ich.

»Viel Spaß. Macht euch einen schönen Abend«, rief er uns nach.

An Claytons Wagen war nichts auszusetzen. Er hielt mir die Tür auf, und ich stieg ein und äußerte mich dazu, sowie auch er eingestiegen war.

»Er ist schon fünf Jahre alt«, sagte er, ohne jede Spur von Dankbarkeit für das Kompliment. Es erschien mir ganz so, als erwartete er es. »Heutzutage muß man einen Wagen im Grunde genommen etwa sieben Jahre behalten, um die Geldanlage optimal auszuschöpfen«, sagte er, und dann kam er auf den Zeitrahmen von Abschreibungsobjekten zu sprechen.

Als wir im Restaurant saßen und uns die Speisekarten gereicht wurden, ging Clayton sämtliche Hauptgänge durch und erklärte mir die Kosten-Nutzen-Rechnung.

»Wir haben die Buchhaltung für ein Dutzend Restaurants übernommen«, fuhr er fort, »und daher wissen wir, wofür man den besten Gegenwert bekommt.«

»Warum bestellst du dann nicht einfach für mich«, sagte ich trocken und reichte dem Kellner meine Speisekarte.

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Clayton und tat es. Endlich kam er auf etwas anderes als Aktiva und Passiva zu sprechen, oder zumindest glaubte ich das, als er begann, mir Fragen zu meiner Person zu stellen, zu meiner Arbeit in der Firma meines Vaters und womit ich mir ansonsten die Zeit vertrieb.

Während des Essens sah er laufend auf die Uhr und äußerte sich dazu, wie wir im jeweiligen Moment innerhalb des zeitlichen Rahmens dastanden. Meistens gelangte er zu dem Ergebnis, daß wir uns an unseren Zeitplan hielten, aber als die Nachspeisen, die er bestellt hatte, später als erwartet eintrafen, geriet er ein wenig außer sich.

»Wir brauchen wirklich nicht gleich zu Beginn da zu sein, Clayton«, sagte ich. Er sah mich an, als sei es ein Verstoß gegen das elfte Gebot, zu einer Veranstaltung zu spät zu kommen.

»Menschen erkennt man an ihrem Verantwortungsbewußtsein und auch daran, wie präzise sie sich an ihren Zeitplan halten«, erklärte er mir. »Das ist der Grund, aus dem unsere Klienten zuversichtlich sind, wenn sie unserer Firma ihre Geschäfte anvertrauen.«

»Ja, sicher. Aber nicht alles ist eine rein geschäftliche Angelegenheit, Clayton.«

»Letztendlich«, beharrte er, »ist eben doch alles ein Geschäft.«

Ich war nicht zu einer Auseinandersetzung aufgelegt. Wir aßen unseren Nachtisch, und ich ließ mich von ihm drängen. Er bemerkte, wir seien zwei Minuten später in der Galerie eingetroffen, als er vorgesehen hatte, aber das ginge schon in Ordnung.

»Gott sei Dank«, sagte ich. »Ich hatte schon begonnen, mir Sorgen zu machen.«

Er nickte, da ihm mein Sarkasmus entging.

Viele der geladenen Gäste kannten sowohl Clayton als auch mich. Ich sah die Belustigung in ihren Augen, als sie begriffen, daß wir ein Rendezvous miteinander hatten. Zahlreiche Besucher hatten etwas Nettes zu meiner äußeren Erscheinung zu bemerken.

Clayton schien tatsächlich eine Menge von Kunst zu verstehen, doch es gelang ihm, jedes Werk nach seinem potentiellen Marktwert einzuschätzen und sich darauf festzulegen, welches der Stücke eine gute Investition wäre und welches nicht.

»Vielleicht möchten manche Menschen ein Kunstwerk kaufen, weil es ihnen gefällt«, bemerkte ich, »und nicht wegen der Summe, die sie in zwanzig Jahren dafür einnehmen könnten.«

»Man sollte immer bedenken, welche Wertsteigerung man langfristig zu erwarten hat«, gab er zurück. »Ganz gleich, was man von seiner Geburt bis zum Tod unternimmt.«

Ich begann zu glauben, daß Clayton Keiser keine Empfindungen und kein Herz besaß, sondern lediglich einen Taschenrechner in der Brust. Dennoch überraschte er mich nach der Zeit, die er uns in der Galerie zugestanden hatte, mit der Frage, ob ich Lust hätte, mir ein Grundstück anzusehen, dessen Erwerb er in Betracht zog.

»Ich halte es für das perfekte Grundstück, um dort ein Haus zu bauen«, sagte er. »Gerade weit genug von den Nachbarn entfernt, damit man seine Ruhe hat, aber doch nicht so abgelegen, daß man sich isoliert fühlt. Und einen Ausblick hat man auch«, fügte er hinzu, »was natürlich den potentiellen Wiederverkaufswert erhöht.«

»Natürlich. Ja, das sähe ich mir gerne an«, sagte ich. »Läßt unsere knappe Terminplanung uns noch genügend Zeit dafür?« scherzte ich, doch er lächelte nicht.

»Ja, ich glaube schon.«

Wir fuhren etwa zwei Meilen aus Provincetown heraus, auf der Schnellstraße nach Süden, bis er verlangsamte und in eine Seitenstraße einbog. Von einer Straße konnte eigentlich kaum die Rede sein, eher von einem Feldweg, der mit Kies aufgeschüttet war, doch er endete auf einem Grundstück mit einer kleiner Anhöhe, eine perfekte Hanglage für ein Haus. Auf der anderen Seite fiel das Gelände sanft zum Meer ab. Man hatte einen phantastischen Ausblick auf den Nachthimmel.

»Was meinst du dazu?« sagte er.

»Es ist eine wunderschöne Lage. Du hast recht, Clayton.«

»Danke«, sagte er.

»Sollten wir vielleicht aussteigen?« fragte ich nach einem langen Moment des Schweigens.

»Nein. Der Boden könnte sich als schlammig oder uneben erweisen. Von hier aus sieht man ohnehin alles«, erwiderte er trocken, schaltete den Motor aber nicht an. Wieder zog sich das Schweigen in die Länge.

»Clayton?« sagte ich.

Er drehte sich eilig zu mir um, und ehe ich wußte, wie mir geschah, beugte er sich vor und küßte mich. Damit überrumpelte er mich derart, daß ich sprachlos war. Ich glaubte sogar, ich müßte lachen. Es war der unbeholfenste Kuß in der Geschichte der Menschheit, fand ich. Er verfehlte meine Lippen und küßte mich auf die Wange.

»Olivia Gordon, ich fühle mich wirklich zu dir hingezogen«, bemerkte er.

»Was?«

»Ich glaube, gemeinsam könnten wir sehr erfolgreich sein.«

»Clayton, wir sind gerade zum ersten Mal miteinander ausgegangen, und ich glaube kaum …«

Er stürzte sich wieder auf mich und packte mich diesmal an den Schultern, damit er mich an sich ziehen konnte. Seine Lippen landeten auf meinem Hals. Ich begann mich zu wehren. Er hielt mich fest und erstaunte mich mit der Kraft seiner Finger, und dann fiel er regelrecht über meine Brüste her, preßte seinen Mund darauf und rammte seine Zunge in den Spalt dazwischen. Von der heißen Nässe wurde mir augenblicklich übel. Er betatschte meinen Busen und manövrierte sein gesamtes Körpergewicht auf mich, wobei sein linkes Bein mein rechtes Bein gefangenhielt.

Ich stieß einen Schrei aus und wehrte mich weiterhin, aber er ließ nicht locker und stieß sein Becken an meine Hüfte. Ich spürte, wie er sich rieb und sich wand, und ich konnte seinen beschleunigten Atem und sein Stöhnen hören. Als er sich immer schwerer auf mich sinken ließ, fühlte ich mich wie eine Ertrinkende, jemand, der gewaltsam unter Wasser gedrückt wird.

Es gelang mir, meine rechte Hand zwischen unseren Körpern herauszuziehen, wo sie zwischen seiner und meiner eigenen Brust eingekeilt war, und ich begann, mit der Faust auf seinen Schädel einzuschlagen. Er schien sich nicht daran zu stören, falls er es überhaupt wahrnahm. Seine Bewegungen wurden immer hektischer, bis er wie unter großen Schmerzen aufschrie und auf mir zusammenbrach.

Lange Zeit lagen wir regungslos da. Ich fürchtete mich davor, mich abzuwenden oder mich aufzurichten, da ich Angst hatte, er würde zu einem weiteren Angriff ansetzen. Sein Atem ging jetzt wieder regelmäßiger.

Dann setzte er sich plötzlich auf, rückte seine Krawatte gerade und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Danke«, sagte er. »Das war sehr schön.«

»Bring mich sofort nach Hause«, sagte ich in dem schärfsten Befehlston, den ich aufbieten konnte. Ich war immer noch derart verblüfft und erschrocken, daß mein Herz unkontrolliert hämmerte.

»Selbstverständlich«, sagte er seelenruhig. »Es ist ohnehin der rechte Zeitpunkt.«

Er ließ den Motor an. Ich hielt möglichst großen Abstand von ihm und lehnte meine Schulter an die Tür. Er wendete den Wagen und fuhr den Schotterweg hinunter, ohne ein Wort zu sagen, ehe wir auf die Schnellstraße eingebogen waren.

»Dann gefällt dir das Grundstück also«, sagte er. »Ich werde es diese Woche kaufen. Dort kann ich uns ein wunderschönes Haus bauen.«

»Ohne mich«, sagte ich. »Das kommt gar nicht in Frage.«

»Wie bitte?«

»Ich weiß nicht, was dich auf den Gedanken gebracht hat, wir beide könnten jemals … Halt am besten einfach den Mund, Clayton. Bring mich nach Hause.«

»Wirklich? Und dabei dachte ich … Also gut. Du solltest wenigstens den Wert dieses Grundstücks bedenken und auch das Potential nicht außer acht lassen, das eine Eheschließung für unsere Familien und für uns nach sich zöge.«

Ich sagte nichts, bis wir mein Elternhaus erreicht hatten. Er wollte aussteigen, um mir die Tür aufzuhalten, aber ich sprang aus dem Wagen und schlug die Tür zu, ehe er auf meine Seite laufen konnte.

»Gute Nacht, Olivia«, sagte er. »Können wir uns wiedersehen?«

»Uns wiedersehen?« fragte ich und hätte fast laut gelacht. »Ich halte dich für eine krankhafte, widerliche Person. Ich will dich nie wiedersehen«, sagte ich und eilte ins Haus.

Meine Eltern waren beide noch auf. Mutter las, und mein Vater sah sich die Spätnachrichten im Fernsehen an. Sowie sein Blick auf mich fiel, drehte er die Lautstärke herunter. Mutter legte ihr Buch auf den Schoß und lächelte. Nachdem sie mich eine Zeitlang angesehen hatte, verflog dieses Lächeln jedoch.

»Was ist passiert?« fragte Daddy mit zusammengekniffenen Augen. Ich konnte meine Gefühle nicht vor ihm verbergen.

Außerdem war mein Haar zerzaust, und ich sah aus, als sei ich einen Hügel hinuntergerollt.

»Clayton ist ein Trottel«, erwiderte ich.

»Was ist passiert?« fragte Mutter, und ihre Lippen bebten vor Besorgnis.

»Es hat sich herausgestellt, daß er nicht der Gentleman ist, für den er sich ausgibt«, sagte ich. »Belassen wir es dabei. In Ordnung?« fragte ich und sah Daddy an.

»Von mir aus«, sagte er. »Ich nehme an, es ist nichts Schlimmes vorgefallen.«

»Nein, zum Glück nicht«, sagte ich und stolzierte die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Als ich mich im Spiegel betrachtete und sah, wie zerzaust ich wirkte und daß ich ganz und gar nicht mehr wie die hübsche junge Frau aussah, die ich am frühen Abend gewesen war, fing ich an zu weinen. Dann hielt ich die Tränen zurück und sagte mir, genau das hätte Belinda in einem solchen Moment getan.

Mit einem Unterschied. Belinda hätte sich wahrscheinlich weitaus weniger gewehrt.

In den darauffolgenden Tagen kam Daddy kein einziges Mal auf meine Verabredung zu sprechen und stellte mir auch keine Fragen. Jedesmal, wenn ich Harrison Keiser begegnete, fiel mir auf, daß er den Blick abwandte. Ich malte mir aus, daß Clayton ihm eine andere Geschichte erzählt und mir die Schuld daran zugeschoben hatte, daß nichts aus unserer Beziehung werden konnte.

Mutter gelangte zu dem Schluß, es sei eben nicht so bestimmt gewesen. Manchmal war ihre Haltung fatalistisch, vor allem, wenn es um Romantik ging. Etwa fünf Tage nach meinem katastrophalen Rendezvous, meiner einzigen Verabredung in einem ganzen Jahr, klopfte sie an die offene Tür meines Schlafzimmers.

»Wie geht es dir, Olivia?« fragte sie und verzog augenblicklich das Gesicht, weil sie eine unerfreuliche Antwort erwartete.

»Mir geht es gut, Mutter.«

»Es tut mir leid, daß deine Verabredung mit Clayton kein Erfolg war.«

»Mir nicht. Die Vorstellung, wie ein Leben an der Seite einer solchen Kreatur aussehen muß, ist mir ein Greuel«

Sie lächelte und setzte sich auf mein Bett. Mutter und ich hatten nie wirklich die Gespräche miteinander geführt, die andere Töchter mit ihren Müttern führten. Das meiste, was ich über Männer und Sex wußte, hatte ich mir selbst angelesen und zusammengereimt. Bei diversen Gelegenheiten hatte Mutter versucht, ein intimes Gespräch mit mir zu beginnen, aber wir waren beide kläglich gescheitert.

»Manchmal«, setzte sie an jenem Abend an, »habe ich das Gefühl, daß mich die Schuld an deiner … derzeitigen Lage trifft. Ich sage mir, ich hätte dir intensiver helfen sollen, jemanden zu finden, Olivia.«

»Das ist doch albern, Mutter.«

»Nein, nein, ganz und gar nicht«, beharrte sie. »Meine Mutter ist mir eine große Hilfe gewesen. Sie war eine sehr verständnisvolle und sensible Frau, eine wundervolle Gefährtin.«

»Ich komme schon allein zurecht«, sagte ich.

»Selbstverständlich, meine Liebe. Du bist zu intelligent, um nicht in jeder Hinsicht alles zu erreichen. Ich weiß, daß du viel intelligenter bist als ich, sogar noch intelligenter als dein Vater, obwohl ich niemals wagen würde, ihm das ins Gesicht zu sagen.«

Ich wollte protestieren, doch sie hob die Hand.

»Manchmal ist es jedoch besser für eine Frau, weniger intelligent zu wirken, Olivia.«

»Was?« Ich wollte gerade lächeln, als ich einen Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte, den ich bisher noch nicht an ihr gesehen hatte. Sie wirkte plötzlich weiser und aufnahmefähiger.

»Manchmal darf eine Frau nicht so unbesonnen handeln oder so direkt sein wie ein Mann. Das ist sogar tatsächlich meistens der Fall. Statt dessen muß sie subtiler vorgehen, fast schon intrigieren. Du mußt lernen, einen Mann wie ein Instrument zu spielen, damit du bekommst, was du willst. Oder um zu erreichen, daß er tut, was du willst.«

Ich lehnte mich zurück, ein wenig schockiert.

»Was willst du damit sagen, Mutter?«

»Ich will damit sagen, daß es ein Geheimnis gibt, wie man eine gute Beziehung zu einem Mann aufbaut und dafür sorgt, daß die Beziehung Bestand hat, und dieses Geheimnis besteht einfach nur darin, dem Mann das Gefühl zu geben, daß er immer alles bestimmt. Jedesmal, wenn ich etwas will, es wirklich dringend haben will, gelingt es mir, deinen Vater in dem Glauben zu wiegen, daß er derjenige war, der ursprünglich diesen Wunsch hatte. Daß alles ganz allein seine Idee war. Verstehst du, auf diese Art fühlt er sich nicht manipuliert.« Sie beugte sich lächelnd zu mir vor. »Obwohl er ständig manipuliert wird.«

Ich zuckte zurück, als hielte mich ein Gummiband an der Stuhllehne fest.

»Das ist nicht wahr, Mutter. Daddy weiß immer ganz genau, was er tut, und er unternimmt nie einen Schritt, ohne die Konsequenzen eingehend zu durchdenken.«

»Selbstverständlich«, stimmte sie mir zu. »Aber gerade darin, wie er Dinge einschätzt und zu einer Schlußfolgerung gelangt, besteht mein kleines Geheimnis. Ich glaube, in Gesellschaft von Männern solltest du entspannter sein, Olivia. Du benimmst dich ganz so, als ob du …«

»Als ob ich was, Mutter?«

»Als müßtest du ihnen Konkurrenz machen, gegen sie siegen, ihnen zeigen, wie sie ihre Sache besser machen können, und das wissen Männer an einer Frau einfach nicht zu schätzen. Du mußt dich bemühen, subtiler vorzugehen.«

»Ich soll Belinda ähnlicher werden, das meinst du doch?«

»In gewisser Weise stimmt das vermutlich«, gestand sie nickend ein.

»Und mich schwängern lassen und mitten in der Nacht in meinem Zimmer Babies bekommen?« warf ich ihr an den Kopf. Sie zuckte steif zusammen.

»Natürlich nicht, meine Liebe. Man muß wissen, wann man nein sagen und standhaft bleiben muß.«

»Du meinst wohl, solange man Männern trotz allem den Eindruck vermittelt, es sei ihre Idee aufzuhören, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie.

»Offen gesagt, Mutter, will ich keine Frau von dieser Sorte sein, kein solcher Mensch. Ich will immer genau das sagen, was ich empfinde, und ich lege Wert darauf, so ehrlich wie möglich zu sein, und wenn ein Mann das nicht ertragen kann, dann ist er eben kein Mann für mich.«

»Oh. Was für ein Jammer«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu mir.

»Der Meinung bin ich nicht, Mutter.«

Sie sah mich lange an und seufzte dann tief. »Ich wünsche mir doch nur, daß du glücklich wirst, Olivia.«

»Ich werde glücklich werden, Mutter, aber unter meinen eigenen Bedingungen, und dazu zählt Selbstachtung«, beharrte ich.

»Wie du meinst. Du bist so klug, Olivia. Ich bin sicher, daß du den richtigen Mann finden, ihm eine denkbar gute Frau sein und eine glückliche Ehe führen wirst.«

Sie stand auf und sah sich einen Moment in meinem Zimmer um. »Du könntest dein Zimmer ein wenig aufhellen, meine Liebe, es freundlicher und heiterer gestalten. Die Wände streichen lassen, neue Vorhänge und eine neue Tagesdecke besorgen. Die Einwilligung deines Vaters kannst du mühelos einholen«, fügte sie hinzu.

»Indem ich es so hinstelle, als sei es seine Idee?«

»Ja, ganz genau.«

»Mir fehlt es an nichts, Mutter. Von mir aus kann alles so bleiben, wie es ist«, sagte ich.

Sie nickte und wandte sich dann ab, um zu gehen, blieb jedoch in der Tür noch einmal stehen. »Falls du jemals mit mir reden möchtest, Olivia, dann sollst du wissen, daß ich jederzeit für ein Gespräch aufgeschlossen bin.«

»Danke, Mutter. Ich werde nicht als alte Jungfer sterben. Das verspreche ich dir«, sagte ich.

Sie lächelte, als hätte ich die Zauberformel ausgesprochen, und dann ging sie.

Ich sah mich im Spiegel an. Wie kannst du dir so sicher sein, Olivia Gordon? Wer läuft dort draußen herum und wartet auf eine Frau wie dich? Gewiß gibt es jemanden, sagte ich mir, jemanden, der sich nicht daran stört, daß ich unter anderem auch Verstand besitze.

Ich wollte gerade aufstehen und mich für das Abendessen zurechtmachen, als ich Daddys schwere Schritte auf der Treppe vernahm. Ich konnte hören, daß er regelrecht rannte, und daher ging ich zur Tür.

»Olivia«, sagte er, »du mußt mich begleiten.«

»Was ist passiert, Daddy?«

Sein Gesicht war gerötet. »Eine Peinlichkeit, eine enorme Peinlichkeit. Ich habe gerade eben einen Anruf von Rosemary Elliot bekommen, der ersten Vorsitzenden des Mädchenpensionats.«

»Was?«

»Deine Schwester ist von der Schule verwiesen worden, wegen … unmoralischen Verhaltens.«

Olivia

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