Читать книгу Im Netz der Lügen - V.C. Andrews - Страница 7

Оглавление

1

Neugier führt ins Verderben

»Ich gehe, Tante Sara!« rief ich in Richtung Küche, als ich zur Haustür eilte, nachdem ich gehört hatte, wie Kenneth Childs auf die Hupe seines Jeeps drückte. Cary hatte mich Kenneth zu Beginn des Sommers vorgestellt, und schon kurz darauf hatte mich Kenneth als seine Assistentin engagiert. Kenneth war ein richtiger Einzelgänger und ziemlich schlampig, daher half ich ihm im Haushalt, kochte, putzte und sorgte für Ordnung, aber ich ging ihm auch in seinem Atelier zur Hand. Während ich fegte und scheuerte und Staub wischte, wartete ich. Ich wartete darauf, daß er sich mir gegenüber öffnen und mir sagen würde, ich sei seine Tochter.

Als Großmama Olivia mir enthüllt hatte, in Wahrheit sei ihre Schwester Belinda meine Großmutter, begriff ich, daß Onkel Jacob und Tante Sara nicht wirklich mein Onkel und meine Tante waren. Sie waren mein Cousin und meine Cousine, ebenso wie Cary und May. Da Jacob jedoch der Bruder meines Stiefvaters war, nannte ich ihn weiterhin Onkel, und Sara nannte ich nach wie vor Tante Sara. Cary freute sich darüber, daß wir nicht so nahe Blutsverwandte waren, wie wir ursprünglich geglaubt hatten. Ironischerweise verhielt er sich mir gegenüber daraufhin schüchterner, als wisse er nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte, nachdem eine wirkliche Beziehung zwischen uns keine unverzeihliche Sünde mehr wäre.

Ich schob den Gedanken an Cary und unsere aufkeimende Freundschaft weit von mir, als ich meine Sachen packte und aus dem Haus lief, um Kenneth zu begrüßen. Wie üblich saß Ulysses, Kenneth’ Hund, auf der Ladefläche des Jeeps. Seine rosa Zunge hing heraus, er hechelte und erweckte ganz den Eindruck, als sähe er meinem Eintreffen mit großer Vorfreude entgegen. Sein pechschwarzes Fell war mit grauen Fäden durchzogen, vor allem um die Schnauze herum. In einem seiner seltenen herzlichen Augenblicke hatte Kenneth zu mir gesagt, Ulysses sei lebhafter geworden, seit ich begonnen hätte, mich um ihn zu kümmern. »Und das trotz seines Alters«, hatte Kenneth hinzugefügt, denn Ulysses war, in Menschenjahre umgerechnet, schon fast hundert.

Diese Bemerkung über Ulysses war bislang das Freundlichste gewesen, was Kenneth je zu mir gesagt hatte. Er hatte lediglich mit einem beifälligen Murren reagiert, als er gesehen hatte, wie gründlich ich sein Haus geputzt und aufgeräumt und seinen ganzen Haushalt auf Vordermann gebracht hatte; dafür, daß ich in seinem Atelier dasselbe getan hatte, hatte ich nichts weiter als ein Nicken bekommen. Die meiste Zeit über war er derart in seine Arbeit vertieft, daß wir kaum ein Wort miteinander wechselten. Er hatte von Anfang an deutlich gemacht, daß er keinerlei Störung dulden würde, die seine Konzentration beeinträchtigte, was hieß, daß ich mich lautlos wie ein Geist bewegen mußte, sobald er das Atelier betrat und mit seiner Arbeit begann.

»Ein Künstler muß sich aus der wirklichen Welt zurückziehen und in die Welt seiner eigenen Schöpfung eintauchen, wenn er es zu etwas bringen will«, erklärte er mir. »Es kostet ihn einige Zeit, dorthin zu gelangen, und wenn er abrupt herausgerissen wird, ganz gleich, aus welchen Gründen, dann ist es, als müßte er jedesmal, wenn er sich seiner schöpferischen Arbeit erneut zuwendet, noch einmal von vorn anfangen. Begreifst du das?«

Ich nickte, und das schien ihn zufriedenzustellen.

»Morgen«, sagte er, als ich aus dem Haus kam und in den Jeep kletterte.

»Guten Morgen.«

Ich hatte mir das Haar zurückgebürstet und es mit einer von Lauras fliederfarbenen Seidenschleifen zusammengebunden, und ich trug das, was ich den ganzen Sommer über fast schon wie eine Uniform tragen würde: ein Sweatshirt, eine Latzhose und ein paar Turnschuhe ohne Socken. Das Sweatshirt war marineblau, in ausgeblichenen weißen Buchstaben war »Provincetown« darauf gedruckt, und es stammte ebenfalls von Laura.

Anfangs, als ich gerade erst nach Provincetown gekommen war, um dort bei Onkel Jacob und Tante Sara zu leben, hatte ich es sonderbar gefunden, Lauras Sachen zu tragen. Ich sah, wie sehr es Cary störte; aber wenn ich mich weigerte, die Dinge anzuziehen, die Tante Sara mir vorschlug, war sie zutiefst verletzt. Cary akzeptierte inzwischen, daß ich in ihren Sachen herumlief, und ich… ich hatte das Gefühl, Laura wäre es lieb gewesen, daß ich ihre Kleider trug, obwohl ich ihr nie persönlich begegnet war und sie nur aus den Geschichten kannte, die ich über sie hörte, und durch die Fotos, die ich von ihr gesehen hatte.

Ulysses beugte sich vor, um sich von mir umarmen zu lassen und mir das Gesicht abzulecken.

»Guten Morgen, Ulysses«, sagte ich lachend. »Friß mich bloß nicht zum Frühstück.«

»Ich glaube, heute wird es den ganzen Tag über bewölkt bleiben. Vielleicht regnet es sogar«, sagte Kenneth, als er den Jeep wendete und wir auf dem unebenen Feldweg dahinholperten.

Für die Leute aus den Neuenglandstaaten, allen voran die Einwohner von Cape Cod, war das Wetter das unverfänglichste Gesprächsthema. Jeder konnte etwas dazu sagen, und es hatte nichts mit Politik oder Religion zu tun, obwohl ich Richter Childs vor kurzem bei einer von Großmama Olivias förmlichen Essenseinladungen tatsächlich hatte sagen hören, die Demokraten seien wohl schuld daran, daß es im letzten Jahr soviel geregnet habe.

»Die Unwetter machen mir nichts aus. Stürme hat es in West Virginia auch gegeben, aber ich würde nicht gern in einen Orkan geraten«, sagte ich.

»Nein. Ich habe etliche Orkane miterlebt, und das ist nicht gerade angenehm.«

Wir bogen in die Schnellstraße ein und fuhren zur Landspitze hinaus, auf der Kenneth lebte. Der Jeep lief zwar einwandfrei, doch er wirkte so abgenutzt und verwittert wie ein altes Paar Schuhe, von denen man sich nur äußerst ungern trennt, weil sie so furchtbar bequem sind. Trotz seines Erfolgs als Künstler verzichtete Kenneth weitgehend darauf, sich mit den typischen Luxusartikeln des Reichtums zu belasten. Er wäre in einem blitzblanken Straßenkreuzer absolut fehl am Platze gewesen. Und außerdem hätte sich ein solcher Wagen für die Fahrt über die Strandpiste, die zu seinem Haus führte, ohnehin nicht geeignet.

Ich arbeitete erst seit einer Woche bei ihm, doch ich wußte bereits, daß er nicht viel Zeit damit zubrachte, sich am Meer zu entspannen. Gelegentlich unternahm er einen Spaziergang, um eine künstlerische Frage zu durchdenken, und seine bronzene Hautfarbe war in erster Linie auf diese Spaziergänge und seine Fahrten in dem offenen Jeep zurückzuführen.

Wie üblich trug er Ledersandalen, zerlumpte Jeans und eines seiner ausgeblichenen blauen T-Shirts. Das T-Shirt, das er heute anhatte, wies auf der rechten Seite ein paar kleine Löcher auf. Mit seinem Vollbart, der ungemein widerspenstig und struppig war, hätte er mühelos als Stadtstreicher durchgehen können, dachte ich mir. Das dunkelbraune Haar band er sich jedoch immer ordentlich zu einem Pferdeschwanz zurück. Meistens knotete er ganz einfach ein kurzes Stück Schnur darum. Heute wurde sein Haar von einem dicken Gummiring zusammengehalten. Im rechten Ohrläppchen saß ein winziger goldener Ohrring, und um den Hals trug er an einer Kette aus winzigen Muschelschalen ein glattgeschliffenes, schimmerndes Stück schwarzes Treibholz, das wie ein Halbmond geformt war.

Er sprach nicht beim Fahren und hatte den Blick auf die Straße geheftet. Seine Miene war so unbewegt, daß sie mich an die Gesichter seiner Statuen erinnerte. Nur seine Kiefermuskeln zuckten kaum wahrnehmbar. Ich fand, es war eines jener Gesichter, die das Herz einer jeden Frau schneller schlagen ließen, wenn er sie ansah (und auch dann, wenn er nicht einmal in ihre Richtung schaute).

Trotz des bewölkten Himmels war die Luft warm. In Provincetown wimmelte es von Touristen, die das Städtchen im Sommer überschwemmten. Es herrschte wesentlich mehr Verkehr als sonst, und schon um diese frühe Stunde liefen Menschen durch die Straßen. Kenneth empörte sich nicht über diese Invasion von Ortsfremden, wie viele der anderen Bewohner von Cape Cod, die mir bisher begegnet waren. Er verbrachte so wenig Zeit in der Stadt, daß er die Touristen entweder gar nicht wahrzunehmen oder sich nicht an ihnen zu stören schien. Dazu kam für ihn natürlich auch noch die Aussicht, daß sich seine Arbeiten schneller verkauften, wenn die Touristensaison begann. Geld sei Geld, und es mache keinerlei Unterschied, ob es von den Fremden oder den Einheimischen stamme, sagte er zu mir, als ich einmal Onkel Jacobs Einstellung zur Sprache brachte.

»Hast du schon etwas in dem Marmorblock gesehen?« fragte ich, als wir uns dem Strandweg näherten, der sich an den Dünen entlangschlängelte und zu seinem Haus und dem angegliederten Atelier führte.

Er warf mir einen raschen Blick zu, richtete die Augen wieder auf die Straße vor sich und schüttelte dann den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Nichts.«

»Wie kannst du sicher sein, daß sich das Bild von selbst einstellen wird?« fragte ich.

Er ließ sich so viel Zeit mit seiner Antwort, daß ich schon glaubte, er würde nichts darauf erwidern.

»Bisher ist es noch immer so gewesen«, sagte er schließlich.

Am ersten Tag, an dem er mich in sein Atelier geholt hatte, damit ich für ihn arbeitete, hatte ich gesehen, daß ein Marmorblock von fast zwei Metern Höhe und mehr als einem Meter Breite dort stand. Er hatte mir erzählt, der Marmorblock sei erst in der vergangenen Woche geliefert worden.

»Damit verhält es sich genauso wie mit einer leeren Leinwand«, erklärte er. Als ich sagte, das verstünde ich nicht, legte er eine Hand auf den Stein und senkte den Kopf, wie zu einem andächtigen Gebet.

»Die alten Griechen haben fest daran geglaubt, daß das Kunstwerk bereits im Stein vorhanden ist«, sagte er. »Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, es freizulegen, es herauszuholen.«

»Es ist im Stein?«

»Ja«, behauptete er, und meine Ungläubigkeit hätte ihm beinahe ein Lächeln entlockt. »Genau das ist gemeint, wenn man vom ›Seherblick‹ des Künstlers spricht. Mit der Zeit wird sich das im Stein vorhandene Kunstwerk mir zu erkennen geben.«

Ich starrte den Marmor an und suchte nach einem Anhaltspunkt, nach dem geringsten Hinweis auf eine Form, die sich im Inneren verbergen könnte, doch ich sah absolut nichts. Und ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis er etwas darin entdeckte. Nach seinen Angaben waren schon mehr als zwei Wochen vergangen, und noch immer hatte sich ihm nichts offenbart, doch das schien ihn weder zu verärgern noch nervös zu machen. Er besaß eine Geduld und eine innere Ruhe, die ich schon bald an ihm bewunderte.

Obwohl ich die ganze Woche über versucht hatte, ihn unauffällig auszufragen, um mehr über ihn in Erfahrung zu bringen, wußte ich nach wie vor nur sehr wenig von ihm. Von sich aus sagte er rein gar nichts, und ihn dazu zu bringen, daß er meine Fragen beantwortete und mir Informationen gab, war mit dem Versuch gleichzusetzen, einem Jagdhund die Zecken aus dem Fell zu ziehen.

Das Haus und das Atelier kamen jetzt in Sicht.

»Hattest du schon immer eine künstlerische Ader?« fragte ich ihn. »Sogar schon als Kind?«

»Ja«, sagte er. Wir hielten vor dem Haus an, und er schaltete den Motor aus. Dann beugte er sich über die Rücklehne, um eine Tasche mit Lebensmitteln vom Boden aufzuheben, die er gekauft hatte, ehe er mich abgeholt hatte.

»Hat meine Mutter jemals Werke gesehen, die du geschaffen hast?« fragte ich schnell weiter. Er hielt nicht in der Bewegung inne, sondern öffnete mit den Lebensmitteln unter dem Arm die Tür.

»Jeder, den ich kenne, hat früher oder später etwas von mir gesehen«, sagte er und lief auf das Haus zu. Ich sah enttäuscht hinter ihm her. Ich gebe ihm laufend Gelegenheiten, ein Gespräch über die Vergangenheit zu beginnen, sagte ich mir, und jedesmal schlägt er mir die Tür vor der Nase zu. Ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühte, gemeinsame Interessen zu entdecken und ein Gesprächsthema zu finden, das möglicherweise zu einer Unterhaltung über die Vergangenheit führen würde und bei dem vielleicht die Enthüllungen ans Licht kämen, die ich erwartete – Kenneth schenkte mir entweder überhaupt keine Beachtung, oder er schweifte ab. Bisher war es ihm gelungen, sich hinter seiner Arbeit zu verschanzen und seine persönlichsten Gedanken für sich zu behalten.

Ich stieg aus dem Jeep, und Ulysses folgte mir.

Kenneth blieb in der Tür stehen.

»Pack nur schnell die Sachen weg, und komm dann rüber ins Atelier. Ich möchte, daß du Ton für mich anrührst. Ich habe beschlossen, diese Vasen für die Bakerfields zu töpfern, um Zeit totzuschlagen, während ich auf meine Eingebung warte. Sie sind jetzt schon seit Monaten hinter mir her, und diese Leute sind so reich, daß es geradezu unanständig ist. Es spricht doch wirklich nichts dagegen, daß ich sie um einen kleinen Teil ihres Geldes erleichtere«, fügte er trocken hinzu und trat ins Haus.

Standen alle Künstler ihren Kunden so verächtlich gegenüber? fragte ich mich. Er benahm sich ganz so, als täte er jedem, der seine Kunstwerke mochte, einen Gefallen, statt dankbar für all die Aufmerksamkeit zu sein, die man ihm entgegenbrachte. Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Künstlern wären liebend gern in seiner Lage gewesen.

Ich begann mich zu fragen, ob ich diesen Mann, der möglicherweise mein Vater war, überhaupt mochte, ganz zu schweigen davon, ob ich irgendwann einmal lernen würde, ihn zu lieben. Genügten die Blutsbande, um zwei Menschen aneinanderzuketten? Liebe mußte doch anderen Dingen entspringen, wobei das Vertrauen an erster Stelle stand. Mit dem Vertrauen hatte ich inzwischen meine Schwierigkeiten, da ich alle Menschen und alles, woran ich jemals geglaubt hatte, der Reihe nach verloren hatte.

Als ich den Entschluß faßte, den Job anzunehmen und für Kenneth zu arbeiten, hatte ich gehofft, wenn ich einfach nur in seiner Nähe wäre und sähe, wie und wo er lebte, würde es mir möglich sein, ihn zu verstehen, aber Kenneth’ Haus, seine Einrichtung, seine Kleidung und seine übrige Habe waren so unergründlich wie alles andere in seinem Leben auch. An dem Tag, als mich Cary erstmals zu dem Haus hinausgefahren hatte, hatte ich mich an die Fenster vorgewagt und heimlich hineingelugt. Cary hatte mir Kenneth’ Möbel wie Dinge aus einem Trödlerladen geschildert. Bei diesem ersten Blick in das Haus war mir klargeworden, daß Cary nicht übertrieben hatte.

Ich gab mir redlich Mühe mit den zerschlissenen und ausgefransten Teppichen, dem abgenutzten Sessel, dem Sofa und den zerschrammten Holztischen, doch jeder Versuch, diese Möbel zu reinigen und zu polieren, schien ihr Alter und ihre Schäden nur noch deutlicher hervortreten zu lassen. Auch das Haus selbst hatte einen gründlichen Hausputz nötig. Ich fand in fast allen Ecken Spinnweben, und alle Ritzen waren mit Sand gefüllt. Die Fenster waren mit Salz und Staub verkrustet, und die Küche strotzte geradezu vor Schmutz. Das Innere des Herdes war mit einer dicken Fettschicht überzogen, und die Herdplatten waren dreckig. Es kostete mich den größten Teil meiner ersten Woche, die Küche soweit zu säubern, daß sie wieder benutzbar war. Wieder fragte ich mich, ob wohl alle Künstler so waren wie Kenneth Childs, und falls das tatsächlich der Fall sein sollte, weshalb dann irgend jemand wirklich Künstler werden wollte.

Die Zustände in seinem Schlafzimmer unterschieden sich nicht von denen im Rest des Hauses. Ich mußte husten, als ich den Staub unter dem Bett und hinter der Kommode hervorholte. Ich fegte und schrubbte die Holzböden, zog all seine Kleider aus dem Schrank und räumte sie ordentlich sortiert wieder ein, nachdem ich die meisten Sachen gewaschen und gebügelt hatte. Ich räumte die Schubladen der Kommode aus und brachte System und Ordnung in das Ganze; dann putzte ich die Fenster und polierte alles, was sich nur irgend polieren ließ.

Anfangs glaubte ich wirklich, er sei zerstreut und geistesabwesend. Er schien keinerlei Unterschiede wahrzunehmen, und wenn ihm doch eine Veränderung auffiel, dann benahm er sich ganz so, als hätte er genau das erwartet. Ich mußte um jedes anerkennende Wort ringen.

»Bist du mit meiner Hausarbeit zufrieden?« fragte ich schließlich. Darauf hatte er mir ein zustimmendes Brummen gewährt.

Dieser Mangel an Wertschätzung für meine Arbeit versetzte mich in Wut; zornig lief ich aus dem Haus, um Ulysses am Strand spazierenzuführen und etwas Dampf abzulassen. In vieler Hinsicht war Kenneth genauso selbstsüchtig und egozentrisch wie meine Mutter. Er nahm so wenig Notiz von den anderen Menschen in seiner Umgebung, daß ich wahrscheinlich einfach hätte gehen und nicht wiederkommen können, und es hätte drei oder vier Tage gedauert, bis er mein Verschwinden überhaupt gemerkt hätte. Aber ich konnte nicht einfach alles hinwerfen und nach Hause zurückkehren. Es konnte gut sein, daß Kenneth die Antworten auf all meine Fragen kannte. Wenn er doch bloß nicht so auf seine verdammte Kunst fixiert gewesen wäre! Er war nicht wie mein Stiefdaddy, der sich damals in unserem winzigen Wohnwagen die Mühe gegeben hatte, mich für jede Kleinigkeit zu loben, die ich im Haushalt tat, sogar für Dinge, die meines Erachtens so unwesentlich waren, daß kein anderer sie zur Kenntnis genommen hätte. Es schien, als zählte für Kenneth nichts anderes als seine Kunst, und wenn ich mich nicht reibungslos und unaufdringlich in die Welt einfügte, die er um sein Werk herum erschaffen hatte, dann würde er mir mit Sicherheit jeden Zutritt zu seinem Leben verweigern, ganz gleich, ob ich nun seine Tochter war oder nicht.

In der kurzen Zeit, seit ich Kenneth kannte, hatte ich festgestellt, daß Spaziergänge am Strand eine beruhigende Wirkung auf mich ausübten. Der Rhythmus der Wellen, das Glitzern auf der Wasseroberfläche und die gewaltige Weite des Horizonts rückten alles in die richtige Perspektive und machten mir begreiflich, daß ich Geduld aufbringen mußte. Falls es sich bei Kenneth tatsächlich um meinen Vater handelte, dann würde er mir das auf seine eigene Art zu verstehen geben, aber ich mußte ihm Zeit lassen. Ganz gleich, wie lange es auch dauern sollte, ich würde so lange warten, bis er mir die Wahrheit sagte.

Daher schluckte ich meinen Stolz hinunter und wandte mich wieder meinen Aufgaben zu: Ich sorgte für Sauberkeit und Ordnung in Kenneth’ Haus, ich bereitete ihm die Mahlzeiten zu und ging ihm in seinem Atelier zur Hand. Gelegentlich kam es vor, daß er mich dort allein ließ, dann schlenderte ich umher und sah mich zwischen seinen Zeichnungen und Skulpturen um… immer auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, nach Kleinigkeiten, die mehr über ihn sagten und die mir vielleicht einige Aufschlüsse über mich selbst geben würden.

Das Atelier nahm einen großen Raum ein. Auf einer Seite standen Tische und ein Brennofen, und auf den Tischen lagen seine Werkzeuge und Materialien, die ich kürzlich erst aufgeräumt und neu sortiert hatte. In der hinteren Ecke stand ein abgewetztes kleines Tweedsofa mit einem Tisch aus Sperrholz davor. Jedesmal wenn sich jemand auf das Sofa setzte, wirbelte eine Staubwolke aus den Polstern auf; daher verwandte ich viel Zeit darauf, sie gründlich mit dem Staubsauger zu bearbeiten.

Es gab in diesem Atelier etwas Seltsames, und das war eine Tür in der Rückwand, die mit einem Kombinationsschloß versehen war. Kenneth hielt sie immer verschlossen. Ich nahm an, daß er seine gefährlichen Chemikalien dort aufbewahrte; als ich ihn fragte, ob ich auch dort saubermachen sollte, sprang er mir beinahe ins Gesicht: »Nein. Dort hast du nichts zu suchen.«

Aber ich konnte nichts dafür, daß meine Gedanken immer wieder zu dieser Tür zurückkehrten. Weshalb hielt er es für nötig, diesen Raum abzuschließen? Er sperrte gewöhnlich nicht einmal seine Haustür zu, und er machte sich auch nicht die Mühe, die Tür zu seinem Atelier zu verriegeln. Als ich mich eines Nachmittags allein im Atelier aufhielt, versuchte ich, durch Ritzen in der verschlossenen Tür zu spähen, doch dahinter war es so dunkel, daß ich nichts erkennen konnte. Ich berichtete Cary von diesem Raum, und auch er war gespannt darauf, was sich wohl hinter dieser Tür verbergen mochte.

Heute brachte ich den größten Teil des Vormittags damit zu, Kenneth bei seiner Arbeit zu helfen. Ich sah ihm zu, wie er die Vasen formte. Wenn ich bisher in seinem Atelier gewesen war, während er an etwas werkte, hatte er schlichtweg so getan, als sei ich gar nicht da. Nachdem er mich einmal harsch angefahren hatte, achtete ich natürlich sorgsam darauf, keinen Mucks von mir zu geben; doch nun hatte er sich bereits zweimal an mich gewandt, und jetzt äußerte er sich ein drittes Mal, aber seine Bemerkungen galten immer nur seiner Kunst.

»Ja, ich bin schon immer künstlerisch veranlagt gewesen, soweit ich zurückdenken kann«, sagte er und kehrte damit wieder zu dem Gespräch zurück, das wir am frühen Morgen begonnen hatten, »aber heute bin ich in allererster Linie Bildhauer. Die Bildhauerei ist wahrscheinlich die älteste Kunstform, und sie hat im Grunde nur geringfügige Veränderungen erfahren. Ich rede natürlich von der echten Bildhauerei«, fügte er mit einem raschen Blick auf mich hinzu. »Ich halte nichts von diesen neuen Ansätzen, vom Schweißen und vom Einsatz von Neonröhren. Das ist eine Masche, aber noch lange keine Kunst. Ein Künstler muß authentisch sein, das ist das Wichtigste. Ein Künstler muß immer der Wahrheit treu bleiben und einen möglichst klaren Ausdruck für seine Impulse finden.«

Er trat einen Schritt zurück und sah die Vase an, die er gerade formte. Sie unterschied sich von allen anderen Vasen, die ich jemals gesehen hatte. Sie war nahezu s-förmig.

»Ich kann mich nicht erinnern, Arbeiten von dir in Großmama Olivias Haus gesehen zu haben«, sagte ich. »Wie kommt es, daß sie keines deiner Werke besitzt? Schließlich ist sie doch sehr eng mit deinem Vater befreundet, und er ist so stolz auf dich.«

Kenneth zuckte zusammen, als hätte ich ihm einen Peitschenhieb versetzt. Er sprach nie über seinen Vater, und nach allem, was ich wußte, hatten die beiden auch keinen Umgang miteinander. Ohne meine Frage zu beantworten, wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

»Durch die Verwendung von weichen, formbaren Materialien wie diesem«, erklärte er, »kann ein Bildhauer momentane Eindrücke einfangen und sie festhalten, ähnlich, wie es ein Maler auf einer flüchtigen Skizze tut.«

»Sehr interessant«, sagte ich.

»Alles, was ich herstelle, sind Einzelstücke. Ich glaube nicht daran, daß wahre Kunst sich zur Massenproduktion eignet. Es ist ein Widerspruch in sich, ein Kunstwerk zu reproduzieren. Wenn man von einem Kunstwerk spricht, dann ist ganz automatisch von einem Einzelstück die Rede.«

»Aber wie sollten dann Menschen, die sich keine Kunstwerke leisten können, jemals an schöne Gegenstände kommen? Nicht jeder kann ein Original bezahlen.«

»Sollen die Leute doch in Museen gehen«, erwiderte er. Er unterbrach sich und warf einen Seitenblick auf mich. »Ich habe schon Objekte an Menschen verschenkt, die es sich nicht leisten konnten, sie zu kaufen, wenn ich den Eindruck hatte, sie wüßten meine Kunst zu schätzen. Manche Anwälte übernehmen hin und wieder einen Fall umsonst; auch ein Künstler kann anderen etwas Gutes tun«, fügte er hinzu. »In dieser Stadt wimmelt es von Geschäftsleuten, die sich als Künstler ausgeben. Wenn man seine Kunst um des Geldes willen betreibt, dann ist man ein Heuchler«, fügte er erbittert hinzu.

»Aber jeder Mensch braucht doch Geld zum Leben. Die Leute müssen essen«, protestierte ich.

»Das kommt erst an zweiter Stelle«, sagte er. »Man räumt diesen Dingen keine Priorität ein. Die Kunst hat Vorrang.« Er unterbrach sich und sah mir fest in die Augen. »Geht es dir mit deiner Musik etwa nicht so?«

»So gut bin ich nun auch wieder nicht.«

Er wandte sich mit einem Achselzucken ab.

»Wenn du dich selbst nicht für gut hältst, dann bist du es auch nicht«, murmelte er. »Du mußt an dich selbst glauben, wenn du willst, daß andere an dich glauben.« Die Härte seiner Worte ließ Tränen in meine Augen treten. Ich spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle bildete, und einen Moment lang mußte ich den Blick abwenden, doch das fiel ihm nicht auf, oder wenn er es doch merkte, dann wollte er nicht darauf eingehen.

»Jetzt kriege ich langsam Appetit«, sagte er. »Warum gehst du nicht rüber ins Haus und überlegst dir, was wir zu Mittag essen könnten?«

Ich nickte und glitt von meinem Hocker. Ehe ich das Atelier verließ, wandte ich mich zu ihm um. Er arbeitete noch immer an seiner Vase und war sich anscheinend gar nicht im klaren darüber, welche Fragen seine Worte bei mir ausgelöst hatten. Würde ich jemals etwas finden, woran ich von ganzem Herzen glauben konnte? Kenneth hatte seine Kunst, Mommy hatte ihre Schauspielerei gehabt, und sogar Onkel Jacob hatte seinen Fischfang Aber wenn man an sich selbst glaubt, entfernt man sich dann zwangsläufig so weit von allen anderen, daß niemand sonst mehr an einen glauben kann?

Zum ersten Mal ging mir auf, daß Kenneth Childs sich hinter seiner Kunst verschanzte, sie wie einen Schild oder eine Festung einsetzte, damit kein Mensch zu nah an ihn herankam. Aber warum nur? fragte ich mich, und mir ging auf, daß ich, sofern ich das erst einmal verstände, auch die Antworten auf all meine übrigen Fragen finden und verstehen würde, was zwischen uns beiden war.

Manchmal zog Kenneth es vor, das Mittagessen in seinem Atelier einzunehmen und dabei das Werk vor Augen zu haben, das gerade im Entstehen war, damit er beim Essen in Ruhe darüber nachdenken konnte. Wenn er das tat, nahm ich mein Mittagessen mit an den Strand und aß es dort, mit Ulysses an meiner Seite. Auffallend freundlich und herzlich war Kenneth jedoch stets dann, wenn wir das Mittagessen gemeinsam in der Küche einnahmen. Das waren die Momente, in denen ich das Gefühl hatte, daß er sich bemühte, in meiner Gegenwart locker und entspannt zu sein und persönlichere Gespräche zuzulassen.

An jenem Tag aßen wir gemeinsam in der Küche zu Mittag. Ich bereitete belegte Brote für uns zu… portugiesisches Brot mit Käse und Truthahnbrust –, dazu servierte ich selbstgemachte Limonade.

»Wie kommst du hier in der Schule zurecht?« fragte er mich.

»Ganz gut. Ich hatte vorher gute Lehrer. Mama Arlene hat immer zu mir gesagt, mit der Schule verhielte es sich so wie mit allem anderen im Leben auch ... es hängt von einem selbst ab, was man daraus macht.«

»Wer sind diese Mama Arlene und dieser Papa George? Du hast sie schon öfter erwähnt, und ich kann mich nicht daran erinnern, daß irgendwelche Verwandten der Logans diese Namen getragen hätten«, sagte er. Wenn er das Gesicht verzog, vertieften sich die Falten auf seiner Stirn so sehr, daß es aussah, als habe jemand einen Bleistift genommen und sie aufgemalt.

Während ich ihm erklärte, wer die beiden waren, hörte er mir geduldig zu, aß weiter und nickte zwischendurch.

»Trotz allem, was ich inzwischen über meine Familie in Erfahrung gebracht habe, sehe ich die beiden immer noch als meine Großeltern an«, schloß ich.

»Aber Papa George ist gestorben, und Mama Arlene ist fortgezogen und lebt nicht mehr in Sewell, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe sein Grab besucht, als ich am Grab meines Stiefdaddys war.«

Er musterte mich eindringlich und sah dann zum Fenster hinaus. Ich glaubte schon, sein Interesse würde von etwas anderem abgelenkt werden, wie es so häufig geschah – vom Flug einer Seeschwalbe oder von der Form einer Wolke. Aber statt dessen wandte er sich mir wieder zu.

»Was genau hast du über deine eigene Familie in Erfahrung gebracht?« fragte er. Mein Herz begann heftig zu pochen. War es jetzt soweit? War das der Augenblick, auf den ich gewartet hatte?

»Als erstes habe ich, zu meinem Erstaunen, herausgefunden, daß Mommy gemeinsam mit meinem Stiefdaddy aufgewachsen ist und daß die beiden wie Bruder und Schwester miteinander gelebt haben. Keiner von beiden hat mir jemals etwas davon erzählt.«

Er nickte.

»Ja«, sagte er, »sie sind wie Geschwister aufgewachsen, die beiden. Die drei, sollte ich besser sagen, denn Jacob war schließlich auch noch da. Als ich klein war und oft mit ihnen gespielt habe, hatte ich keine Ahnung, daß die Logans Haille adoptiert hatten. Für mich gehörte sie einfach zur Familie. Und dann, ich glaube, ich war damals neun oder zehn Jahre alt, hat Jacob es mir eines Tages erzählt. Er ist einfach so damit herausgeplatzt, aus heiterem Himmel, wie Kinder es eben tun. Er hat sowas Ähnliches gesagt wie: ›Haille ist in Wirklichkeit gar nicht unsere Schwester. Sie ist uns untergeschoben worden.‹«

Kenneth lachte; ich rührte mich nicht von der Stelle und gab auch keinen Laut von mir, da ich fürchtete, er könnte jeden Moment verstummen und ich würde niemals etwas über meine Vergangenheit erfahren. Er fuhr fort: »Ich hatte zu dieser Zeit keine Ahnung, was das heißen sollte, deshalb habe ich noch einmal nachgefragt. Dann bin ich zu meinem Vater gegangen und wollte von ihm wissen, was das bedeutet, und er erklärte mir, die Logans hätten sie adoptiert, aber erst viele Jahre später erfuhr ich, wer ihre Mutter war. Niemand hält seine Familiengeheimnisse so gut unter Verschluß wie die Logans, allen voran Olivia Logan.«

»Litt meine Mutter darunter, ein Waisenkind zu sein?«

»Ich glaube, es hätte ihr gar nicht viel ausgemacht, wenn Olivia sie nicht immer wieder daran erinnert hätte«, sagte er.

»Vielleicht kommt es daher, daß sie…«

»Woher kommt was?«

»Daß sie so unbändig war«, sagte ich zögernd. Ich verabscheute es, schlecht über sie zu reden, vor allem jetzt, nachdem sie tot war und sich nicht mehr verteidigen konnte. »Sie hat sich einfach nur aufgelehnt.«

Kenneth stimmte mir nicht zu, aber er widersprach mir auch nicht. Er sah nur wieder zum Fenster hinaus und sagte dann: »Ich mag Olivia. Wir beide bringen einander einen gewissen Respekt entgegen, wenn wir uns zufällig begegnen. Sie ist so eine Art Königinwitwe von Provincetown. Niemand ist blaublütiger als sie. Aber Haille hat sich von alledem nie beeindrucken lassen. Du hast nicht unrecht mit deiner Vermutung. Ich glaube, sie fand es schrecklich, nicht zu wissen, wo sie herkam, und die Erwartungen, die Olivia an sie gestellt hat, waren ihr ein Greuel.«

»Jeder Mensch möchte wissen, wer seine Eltern sind«, sagte ich.

Er drehte sich wieder zu mir um, und erneut hielt ich den Atem an.

»Manchmal sollte man froh sein, wenn man es nicht weiß«, erwiderte er schließlich.

»Wieso sollte man froh darüber sein, es nicht zu wissen?«

»Nun, man ist dann nicht gezwungen, die Sünden anderer wiedergutzumachen oder zu vergessen. Man kann ganz einfach man selbst sein, und heutzutage ist jeder glücklich dran, der es sich leisten kann, ein Individualist zu sein, vor allem, wenn er damit gleichzeitig seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Dabei fällt mir ein, daß ich in die Stadt fahren muß, um einige Dinge zu besorgen«, fügte er hinzu und stand auf. »In ein paar Stunden bin ich wieder zurück.«

Ich saß da und hatte das Gefühl, einmal mehr an einer Mauer des Schweigens abgeprallt zu sein, die meine Vergangenheit umgab. Wie konnte er bloß so kalt sein? Wenn er mein Vater war, warum gab er es dann nicht einfach zu? Fürchtete er etwa, ich würde ihn dann bitten, mich bei sich aufzunehmen? Fürchtete er, er würde fortan für mich sorgen müssen?

Vielleicht konnte ich tatsächlich froh sein, daß ich nicht wußte, wer mein Vater war. So durfte ich mir in meiner Phantasie einen Vater nach meinen Wünschen erschaffen: einen Mann, der nichts zu verbergen hatte. Er würde wie ein mythologischer Gott sein, der auf Nebelschwaden über das Meer gesegelt und selbstbewußt durch die Straßen von Provincetown geschlendert war; und als er Mommy erblickte und sie ihn gesehen hatte, hatten sich die beiden augenblicklich ineinander verliebt und wunderschöne Nächte gemeinsam am Strand verbracht. Eines Tages war er dann so plötzlich wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war, und dann war ich geboren worden.

Da ich jetzt hier lebte, würde mein mythologischer Vater eines Tages oder eines Nachts auftauchen, wenn ich mich gerade am Strand aufhielt, und er würde mir sagen, daß alles in Ordnung war. Ich war kein Waisenkind, und ich hatte eine Bestimmung.

Träume, dachte ich. Sie sind die Reichtümer der Armen, die sie in Schatztruhen verstauen und auf dem tiefen Grund ihrer Phantasie versenken. Aber sind Träume genug?

Ich räumte auf, spülte das Geschirr und machte mit Ulysses seinen nachmittäglichen Spaziergang. Die Wolkendecke war aufgerissen, und der Himmel sah aus wie eine Patchworkdecke mit langen Streifen aus tiefem Blau. Nach wie vor wehte eine kräftige Brise, und mein Haar tanzte um mein Gesicht herum.

Ich war ganz in meine eigenen Gedanken vertieft, und das Rauschen der Brandung war so laut, daß ich weder die Hupe noch die Rufe hörte, bis ich mich zu dem Haus umdrehte und sah, daß Cary in seinem kleinen Lastwagen hergefahren war und jetzt auf einer Düne stand und mir wild mit beiden Armen zuwinkte. Ich lief auf ihn zu.

»Was tust du denn hier?«

»Die See ist heute so rauh. Mein Vater hat beschlossen, früher ans Ufer zurückzukehren; daher dachte ich mir, ich fahre raus und sehe einmal nach dir. Wo ist Kenneth?«

»Er macht Besorgungen und meinte, es könnte eine ganze Weile dauern«, erwiderte ich.

Cary bückte sich und tätschelte Ulysses, ließ mich dabei jedoch nicht aus den Augen.

»Hat er etwas gesagt?«

»Nur sehr wenig. Heute beim Mittagessen dachte ich schon, er würde etwas herauslassen, aber ...«

»Aber?«

»Er behauptete, manche Leute könnten froh sein, wenn sie nicht wissen, wer ihre Eltern sind.«

»Das hat er gesagt?« Ich nickte.

»Wie seltsam.«

»Ich weiß nicht, warum er derart verbittert ist. Ich wünschte, ich könnte ihn dazu bringen, mir mehr zu erzählen.«

»Vermutlich wird er das mit der Zeit ohnehin tun.«

»Bis dahin werde ich runzlig und grau sein«, jammerte ich. Cary lachte und stand auf. Er streckte mir die Hand entgegen, um mich auf die Düne zu ziehen.

»Irgendwie kann ich mir dich nicht runzlig und grau vorstellen.« Er ließ meine Hand immer noch nicht los, obwohl ich jetzt neben ihm stand. Seine Augen musterten mein Gesicht. »Die Sonne läßt deine Sommersprossen rauskommen«, sagte er. Als ich aufstöhnte, fügte er eilig hinzu: »Aber ich finde das süß.«

»Süß? In meinem Alter ist das kein Kompliment mehr«, fauchte ich, riß mich von ihm los und lief auf das Haus zu.

»He«, rief er mir nach, doch ich lief weiter. Plötzlich war mir danach zumute, meinen ganzen Frust hinauszuschreien. »Es tut mir leid«, sagte er, als er mich eingeholt hatte. »Ich wollte damit nicht sagen…«

»Schon gut«, sagte ich. »Es ist einfach nur so, daß ich es satt habe, von allen wie ein kleines Kind behandelt zu werden.«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

Ich lief langsamer und verschränkte die Arme. Das Blut, das in meine Wangen geströmt war, wärmte mein Gesicht. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich plötzlich so zornig war. Vielleicht war es gar kein Zorn; vielleicht fürchtete ich mich einfach nur davor, daß niemand mich und meine Fragen jemals ernst nehmen würde. Cary berührte meinen Ellbogen, und ich drehte mich unwirsch zu ihm um.

»Wenn du möchtest, spreche ich ihn darauf an… ganz ohne Umschweife. Ich habe keine Angst vor ihm«, sagte er prahlerisch.

»Wenn er mir schon nichts sagen will, warum sollte er dann dir etwas verraten?«

»Vielleicht wäre es besser, wenn du aufhörtest, hier zu arbeiten«, sagte Cary.

»Ja, das kann gut sein. Vielleicht hätte ich mich gar nicht von dir dazu überreden lassen dürfen, nach Cape Cod zurückzukommen.«

Ich war fortgelaufen, als Großmama Olivia mir erzählt hatte, Mommy sei als eine Logan aufgewachsen. Ich war nach Sewell zurückgekehrt, aber dort hatte ich feststellen müssen, daß Papa George gestorben war und daß Mama Arlene jetzt bei ihrer Schwester in North Carolina lebte. Ich hatte niemanden mehr in Sewell, abgesehen von Alice Morgan, meiner besten Freundin. Aber bei ihr konnte ich nicht einziehen. Ihre Mutter verstand ohnehin nicht, daß sich ihre Tochter mit jemandem angefreundet hatte, der in einem Wohnwagen aufgewachsen war.

»Natürlich war es richtig, daß du hierher zurückgekommen bist. Dies ist dein Platz, hier gehörst du hin«, beharrte Cary. »Hier bist du unter Menschen, die dich lieb haben.«

»Menschen, die mich lieb haben? Ich habe eine Großmutter, der es am liebsten wäre, ich würde ins Meer hinausgespült, damit ich sie nicht mehr in Verlegenheit bringe; ich habe einen Onkel, deinen Vater, der mich für eine Tochter des Satans hält; und dann ist da noch ein Mann, der möglicherweise mein Vater ist, aber keine Lust hat, es mir zu sagen…«

»Aber ich habe dich lieb«, sagte er. »Sogar sehr.«

Zuerst bemühte ich mich, meiner Wut weiterhin Luft zu machen; ich wollte wütend sein. Aber dann holte ich tief Atem und ließ die Schultern hängen. Ich glaubte Cary, aber irgendwie war es nicht das, was ich brauchte. Ich hatte jemanden nötig, der mich in der Form liebte, in der mein Daddy mich geliebt hatte. Natürlich flößte mir dieser Gedanke Schuldgefühle ein. Es war ganz so, als versuchte ich, ihn zu ersetzen und seinen Platz in meinem Herzen zu vergeben. Und genauso verhielt es sich doch, oder etwa nicht?

»Es ist alles so verwirrend«, sagte ich. »Verwirrend und frustrierend.«

Er nickte. »Du bist jetzt schon seit einer ganzen Weile hier. Du putzt sein Haus, du räumst seine Sachen auf, du schaust in jede Schublade. Gibt es irgendwelche Hinweise, irgendwelche Anhaltspunkte? Fotos? Briefe?«

»Mir ist nichts in die Finger gekommen.« Dann fiel es mir wieder ein. »Es gibt nur noch einen einzigen Ort, an dem ich nicht gesucht habe.«

»Und wo ist das?«

»Erinnerst du dich an diese Tür, von der ich dir erzählt habe? Von dieser verschlossenen Tür in seinem Atelier?«

»Oh, ja. Die würde ich mir gern mal ansehen«, sagte er. Mein Herz begann heftig zu pochen.

»Kenneth kann es nicht leiden, wenn jemand in seiner Abwesenheit sein Atelier betritt.«

»Aber er schließt es doch nicht ab, oder?«

»Nein, aber…«

»Wir rühren nichts an. Ich möchte nur schnell einen Blick auf diese Tür werfen«, sagte er.

Ich sah mich zu dem Strandweg um, der über die Dünen führte. Kenneth hatte gesagt, er würde mehrere Stunden fort sein.

»In Ordnung«, sagte ich, »aber rühr bloß nichts an. Dort herrscht zwar meistens ein gewaltiges Durcheinander, aber er würde merken, wenn etwas auch nur einen Zentimeter von seinem Platz verrückt wird.«

»Abgemacht«, sagte Cary.

Wir liefen zum Atelier und blieben auf dem Weg einen Moment lang an dem Fischteich stehen.

»Seit wann hat er die Schildkröte?« fragte Cary.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht seit dem letzten Wochenende. Er nennt sie ›Panzer‹.«

Cary lachte, und wir gingen hinein. Er sah den Marmorblock und fragte sofort, was es damit auf sich habe. Ich erklärte ihm den Seherblick des Künstlers genauso, wie Kenneth ihn mir erklärt hatte, aber Cary zog die Augenbrauen zusammen, lachte hämisch und fragte: »Wie kann man in einem Marmorblock etwas sehen?«

»Man kann etwas darin sehen, wenn man ihn mit den Augen eines Künstlers betrachtet«, sagte ich. Cary zuckte die Achseln und ging dann auf die verschlossene Tür zu. Ein paar Minuten lang sah er sich das Schloß und die Haspe genauer an.

»Das ist nichts weiter als ein ganz normales Zahlenschloß, aber man bräuchte Ewigkeiten, um hinter die Zahlenkombination zu kommen. Andererseits…«

»Was andererseits?« fragte ich und kam an seine Seite.

»Diese Haspe ist nur mit diesen vier Schrauben hier befestigt. Die könnte man mühelos abschrauben; dann nimmt man die Haspe ab, läßt das Schloß, wo es ist, und öffnet die Tür. Das könnte ich in fünf Minuten schaffen«, behauptete er. Ich schüttelte den Kopf. »Und ich kann es wieder genauso anschrauben, daß niemand etwas merkt. Es ist ein Kinderspiel.«

»Nein«, sagte ich und wandte mich ab. Er umfaßte mein Handgelenk.

»Du hast ihn nicht dazu bringen können, dir etwas Wesentliches zu sagen, und du bist auf nichts gestoßen, was dir einen Hinweis gibt.«

»Er hätte kein Schloß an dieser Tür angebracht, wenn es ihm egal wäre, ob jemand in seinen privaten Sachen herumschnüffelt«, sagte ich.

»Du hast ein Recht darauf, etwas über dich selbst zu erfahren. Niemandem steht es zu, deine Vergangenheit hinter Schloß und Riegel zu halten, stimmt’s? Also, was ist?« bohrte er weiter.

Ich dachte einen Moment lang darüber nach.

»Du kannst es wirklich so anschrauben, daß es wieder aussieht wie vorher?«

»Das macht überhaupt keine Mühe.« Er griff in seine Hosentasche und zog sein Schweizer Armeemesser heraus, um mir den kleinen Schraubenzieher zu zeigen. »In Ordnung?« fragte er.

Ich sah das Schloß noch einmal an. Vielleicht verbarg sich gar nichts hinter dieser Tür. Vielleicht war der ganze Raum einfach nur mit Vasen oder Statuen gefüllt, aber Cary hatte recht. Ich würde andernfalls niemals aufhören, mir Fragen zu stellen.

»In Ordnung«, sagte ich. Er lächelte und setzte den Schraubenzieher an. Innerhalb von wenigen Minuten löste sich… ganz so, wie er es vorausgesagt hatte… die Haspe von der Wand und mit ihr das Schloß. Er klappte sein Messer zusammen und legte die Hand auf den Türgriff.

»Bist du soweit?«

Ich holte tief Luft und nickte. Er öffnete die Tür. Der Nebenraum erwies sich als recht groß, größer, als ich erwartet hatte. Anscheinend war hier schon seit langer Zeit niemand mehr gewesen. In der Türöffnung spannten sich Spinnennetze. Cary strich sie zur Seite, und wir gingen hinein. Zu unserer Rechten sahen wir eine Staffelei, einen Karton voller Pinsel und daneben einen weiteren Karton, der mit Schnitzwerkzeugen gefüllt war. Über den Kartons hing ein Malerkittel an einem Haken an der Wand.

»Nichts Besonderes«, murmelte ich; ich war enttäuscht.

»Gibt es denn hier kein Licht?« fragte Cary, während er nach einer Schnur tastete, an der er ziehen konnte. Er fand sie, und plötzlich standen wir im Schein einer nackten Glühbirne da, die von der Decke baumelte. Das matte Licht genügte jedoch, um einen Stapel Leinwände zu enthüllen, die mit einem weißen Laken zugedeckt waren. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf das Laken gelegt. Cary hob neugierig einen Zipfel und spähte darunter, aber ich hatte gehofft, wir würden eine Kiste mit Briefen von Mommy oder ein Tagebuch finden, etwas, was mir Aufschluß geben könnte.

»Es sieht so aus, als seien das Porträts von jemandem, nichts weiter, aber ich kann nicht genug erkennen. Am besten, ich halte das Laken hoch, und du ziehst eine der Leinwände raus«, wies er mich an.

»Das sollten wir nicht tun, Cary. Er wird es merken.«

»Wir lassen alles ganz genauso zurück, wie wir es vorgefunden haben«, sagte er. »Mach schon«, drängte er mich. »Bist du denn gar nicht neugierig?«

Ich war sogar sehr neugierig, aber gleichzeitig fürchtete ich mich auch. Ulysses stand hinter uns in der Tür und beobachtete uns, und mir kam es so vor, als fragte er sich, warum ich Verrat an seinem Herrchen beging.

»Laß uns einfach von hier verschwinden und die Haspe wieder anbringen, Cary.«

»Wenn wir schon mal hier sind, sollten wir uns wenigstens alles genau ansehen«, beharrte er und hielt mit einer Hand das Laken hoch, während er mit der anderen das oberste Bild von dem Stapel zog. Ich trat näher.

Zuerst erblickten wir zwei Beine, und dann, als mehr und immer mehr Leinwand ans Licht kam, sahen wir, daß es sich um eine nackte Frau handelte, die sich auf einem Badetuch rekelte. Das Gemälde war eine sehr realistische Darstellung; es hätte fast eine Fotografie sein können. Cary war inzwischen so aufgeregt, daß er das Laken fallen ließ und den Rahmen, auf den die Leinwand gespannt war, mit beiden Händen nahm, daran zog und das Bild auf den Boden stellte.

Wir standen da und schauten es an, und keiner von uns beiden brachte ein Wort heraus, da wir die Frau sofort erkannten. Es war Mommy, wie sie noch sehr jung war – kaum zwanzig Jahre alt.

»Mann, das ist ja irre«, sagte Cary.

»Leg das Bild wieder auf den Packen, Cary«, drängte ich ihn mit gepreßter Stimme. Statt dessen griff er noch einmal unter das Laken und zog die nächste Leinwand heraus. Auch darauf war Mommy abgebildet, doch auf diesem Bild stand sie, ebenfalls vollständig nackt, da und schaute auf das Meer hinaus. Die Darstellung zeichnete sich durch eine enorme Präzision aus. Ich konnte mich an das kleine Muttermal unter ihrer linken Hüfte erinnern.

Cary sagte nichts, während er sich alle übrigen Bilder ansah.

»Überall ist nur sie drauf«, sagte er. »In verschiedenen Posen und mit unterschiedlichem Hintergrund. Hier ist eins von ihr in einem Boot. Sie hätte im Playboy als Mädchen des Monats erscheinen können.«

»Pack alles wieder auf einen Haufen!« rief ich aus. Tränen brannten in meinen Augen. Ich wandte mich ab. Plötzlich war es drückend in dem kleinen Raum, ich bekam keine Luft mehr. Ich eilte hinaus und warf mich auf das Sofa. Cary ordnete alles wieder so an, wie er es vorgefunden hatte; dann machte er das Licht in dem Nebenraum aus.

»Alles in Ordnung mit dir?« fragte er.

»Nein«, schluchzte ich. Meine Tränen liefen ungehindert über meine Wangen.

Cary brachte die Haspe eilig wieder an, und nachdem er die letzte Schraube fest angezogen hatte, kam er zu mir. Ich blickte zu ihm auf und wischte mir über das Gesicht. »Du hast recht gehabt. Diese Gemälde sind derart freizügig, daß sie in so eine Zeitschrift gehören. Kein Wunder, daß er sie hinter einer verschlossenen Tür aufbewahrt.«

»Andererseits hat noch nie jemand behauptet, deine Mutter sei zimperlich gewesen«, sagte Cary und lächelte mich an, um mich zu trösten.

»Wie nett von dir, daß ausgerechnet du mich daran erinnern mußt«, fauchte ich ihn an. Ich stand auf und stürmte mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf aus dem Atelier. Cary eilte hinter mir her, aber ich rannte unbeirrt weiter. Ulysses trabte neben uns her.

»Es tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Mich hat es genauso erstaunt wie dich.«

Ich blieb neben seinem Wagen stehen und starrte auf das Meer hinaus.

»Offensichtlich haben sie einander sehr nahegestanden, als sie jünger waren, wenn sie das für ihn getan hat. Es muß doch etwas zu bedeuten haben«, fuhr Cary fort.

»Kann sein«, sagte ich. »Vielleicht war sie aber auch nur sein Modell. Sie hat mir nie etwas erzählt, daher kann ich nur Vermutungen anstellen.«

»Hab keine Scheu, und frag Kenneth einfach direkt danach«, schlug Cary vor.

»Und was soll ich ihm sagen? Daß ich in seiner abgeschlossenen Kammer rumspioniert habe?«

»Also, ich meine…«

»Ich will nicht, daß er mich haßt«, sagte ich. »Dann würde er mir niemals etwas erzählen.« Ich wirbelte zu Cary herum. »Ich will nicht, daß irgend jemand etwas davon erfährt.«

»Klar«, sagte er eilig. »Und überhaupt, wem sollte ich etwas davon erzählen?«

»Ich habe keine Angst, daß du jemandem absichtlich etwas davon erzählst. Aber eines Tages könnte dir versehentlich etwas herausrutschen.«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, versprach er mir.

»Es wäre besser, wenn du bei seiner Rückkehr nicht mehr hier bist«, sagte ich nervös und schaute auf den Strandweg, der in die Stadt führte, um Anzeichen von Kenneth’ Jeep zu erspähen.

»In Ordnung. Wenn du willst, können wir später über alles reden.«

Ich nickte. Ehe ich erkannte, was er beabsichtigte, hatte Cary mit einer schnellen Bewegung die Arme um mich geschlungen, zog mich eng an sich und drückte mich.

»Es wird alles gut ausgehen«, versprach er. Dann stieg er in seinen Wagen und ließ den Motor an. Er lächelte und winkte mir zum Abschied zu. Ulysses und ich standen da und sahen zu, wie der Wagen über die Dünenpiste holperte, bis er nicht mehr zu erkennen war.

Ich kehrte wieder ins Haus zurück und machte mich an die Arbeit; knapp eineinhalb Stunden später hörte ich das Nahen von Kenneth’ Jeep und ein kurzes Hupen. Neugierig kam ich aus dem Haus gelaufen, das Staubtuch noch in der Hand, und sah, daß Kenneth schneller als gewöhnlich die Düne zum Haus hinunterfuhr. Er schaltete den Motor aus und sprang mit einem Satz aus dem Wagen. Ich konnte sehen, daß er ein kleines Päckchen unter dem Arm trug. Noch nie hatte ich ihn so aufgeregt erlebt.

»Ich hab’s!« rief er mit strahlendem Gesicht.

»Was hast du?« fragte ich und wies mit einer Kopfbewegung auf das Päckchen.

»Nein, das doch nicht«, sagte er. »Das ist nichts weiter als ein neuer Meißel, den ich dringend gebraucht habe«, fügte er eilig hinzu und nahm mich an der Hand. »Komm schon, mach schnell.«

»Wohin gehen wir?« fragte ich und mußte über seinen neuentdeckten Enthusiasmus lachen.

Er zog mich hinter sich her, um die Hausecke herum und zu seinem Atelier. Er riß schwungvoll die Tür auf, blieb jedoch abrupt stehen, sobald wir eingetreten waren. Wir standen vor dem Marmorblock. Kenneth hielt mich immer noch an der Hand, als er in der Tür innehielt und ihn anstarrte. Dann nickte er und sagte: »Ja. Ja, genau. Ganz genau.« Er sah mich an, nickte wieder und wandte sich wieder dem Marmor zu.

»Was ist?« fragte ich und hielt jetzt den Atem an.

»Der Seherblick. Die Vision hat sich plötzlich eingestellt. Ich war gerade auf der Heimfahrt, als ich sie hatte – gerade, als ich an dich dachte.«

»An mich?«

»Und dann habe ich einen Blick auf das Meer geworfen, und schlagartig stand es vor meinen Augen: das vollständige, vollendete Werk.«

»Aber was habe ich damit zu tun?«

»Du bist das Kernstück dieses Werks«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf den Marmor.

»Ich?«

»Setz dich hin«, ordnete er an und zog mich auf das Sofa. Ich folgte seinen Anweisungen und beobachtete, wie er um den Marmorblock herumlief, wie ich es schon Hunderte von Malen gesehen hatte. Nur nahm ich diesmal einen ganz eigenartigen Schimmer in seinen Augen wahr.

»Aus einer Welle taucht eine wunderschöne junge Frau auf. Ich will diesen Übergang einfangen, die Geburt aus dem Wasser, und ich werde die Skulptur ›Die Geburt der Tochter Neptuns‹ nennen«, rief er aus und drehte sich zu mir um.

Nie hatte ich Kenneth so aufgeregt gesehen. Seine Augen strahlten ein inneres Licht wider. Er schien derart vor Energie zu bersten, daß ich fürchtete, er könne vor meinen Augen explodieren. An seinem Hals und auf seinen Schläfen traten die Adern hervor.

»Es ist fast so, als hätten dich die Musen der Kunst zu mir geschickt«, verkündete er.

Ich lächelte. Endlich sah er mich an und redete mit mir; er sah nicht mehr durch mich hindurch oder sagte Dinge über meinen Kopf hinweg. Er trat vor, nahm meine Hände in seine und zog mich wieder auf die Füße.

»Bist du ganz sicher, Kenneth?«

»Bleib einfach nur dort stehen«, sagte er und führte mich zu dem Marmorblock. Er plazierte mich so, wie es seinen Wünschen entsprach, dann trat er einen Schritt zurück und starrte mich so gebannt an, daß ich unwillkürlich errötete. Er nickte. »Ja, genau«, sagte er. »Das ist es.«

»Ich glaube nicht, daß ich das ganz verstanden habe«, sagte ich.

»Du wirst es noch verstehen. Zuerst fertige ich die Zeichnung an, und dann werde ich mir überlegen, welche Materialien ich für ein Modell in natürlicher Größe verwenden möchte. Du wirst aber nicht nur das Modell sein, du wirst meine Assistentin sein. Ich werde dir zeigen, wie man den Block bearbeitet, und du wirst einige der vorbereitenden Arbeiten übernehmen. Die Assistenten eines Künstlers gehen ihm oft bei den Vorarbeiten zur Hand und helfen ihm beim Meißeln.«

»Ich soll dein Modell sein?« sagte ich.

»Ja, selbstverständlich. Du bist diejenige, die ich aus dem Stein auftauchen sehe. Denk doch mal darüber nach. Du bist hierhergekommen, um ein gänzlich neues Leben zu beginnen. Es ist, als wärst du aus dem Meer aufgetaucht. Du bist wiedergeboren worden, eine Schaumgeburt.«

Er war so aufgeregt, daß er in einem fort redete.

»Ich werde es dir im Laufe der Zeit noch genauer erklären, aber bei diesem Werk geht es um viel mehr, nicht nur um die klassische Darstellung der Meeresgottheit; es geht um die Geburt der Weiblichkeit schlechthin, die Geburt einer Frau, die Schilderung des Wandels, der sich an einem jungen Mädchen vollzieht, wenn es heranreift und aufblüht und wenn schlagartig seine Sexualität erwacht. Genau das Stadium, in dem du dich im Moment befindest«, fügte er hinzu.

Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß ich derartig rot anlaufen könnte, doch es schien immer schlimmer zu werden; mir kam es so vor, als stünde meine Haut in Flammen.

»Ich?« sagte ich noch einmal, und mir graute bei der Vorstellung, Kenneth könnte all die Emotionen sehen, die in meinem Inneren brodelten.

»Natürlich du. Das könnte durchaus das bedeutendste Werk meines ganzen Lebens werden, der Gipfel meines künstlerischen Schaffens«, sagte er. Er wurde ernst, als er näher kam. »Du wirst das doch für mich tun? Du bist doch nicht etwa zu schüchtern oder zu ängstlich?«

»Ich…«

»Ich werde dir Zeit lassen und dir auf jedem Schritt unseres gemeinsamen Weges alles beibringen, was du lernen mußt.« Er nahm meine Hände wieder in seine. »Wir werden dieses Werk gemeinsam in Angriff nehmen. Du wirst an etwas sehr Bedeutsamem teilhaben, Melody.«

Ich nickte zaghaft. Ich war noch benommen und überwältigt von seinem Überschwang.

»Wir fangen gleich morgen damit an«, sagte er. »Vorher möchte ich mir noch eine Weile Zeit zum Nachdenken nehmen, mir die Einzelheiten genauer ausmalen. Ich will runter ans Meer gehen und auf die Wellen schauen, bis ich den Umriß und die Bewegung gefunden habe, die ich brauche. Morgen früh zeige ich dir dann, wie man die Werkzeuge für die grob behauene Skulptur einsetzt. Du übst erst einmal an einem anderen Stein, ja?«

»Das wird das beste sein«, sagte ich. Er lachte und klatschte in die Hände. Dann wandte er sich wieder dem Marmorblock zu und legte seine Hände darauf, als schöpfe er Kraft und Energie aus dem Stein. Er stand mit geschlossenen Augen da und flüsterte hörbar vor sich hin. »Ja, ja. Ich kann es fühlen. Das ist die Vision, auf die ich gewartet habe.«

Ich muß die Augen weit aufgerissen haben, denn als er mich wieder ansah, lachte er.

»Ich mache dir wohl Angst, was?«

»Nein, ich bin einfach nur überrascht«, sagte ich. »Geht es allen Künstlern so, wenn sie eine Idee haben?«

Er lachte.

»Ich weiß nicht, wie es anderen Künstlern geht. Ich kann nur über mich selbst reden.« Er kam auf mich zu, nahm wieder meine Hände in seine und heftete seinen gebannten Blick auf mich. »Fürchtest du dich davor, Modell zu stehen?«

»Ich habe so etwas noch nie getan.«

»Wir werden ganz langsam vorgehen. Ich werde dich zu nichts drängen, sondern dir Zeit lassen. Wir dürfen nichts überstürzen, sondern müssen warten, bis du dich wohl in deiner Rolle fühlst; denn wenn du angespannt bist, wirst du die falschen Empfindungen ausstrahlen, und dann wird es mir nicht gelingen, das zu erschaffen, was mir vorschwebt, und ich kann auch nicht herausholen, was sich im Stein verbirgt«, sagte er. »Aber sowie wir erst einmal angefangen haben«, fügte er lächelnd hinzu, »wirst du selbst sehen, daß du dich weder zu fürchten noch zu schämen brauchst. Du wirst die Macht der Schönheit fühlen, die in dir steckt, und du wirst aufblühen.«

Seine Worte taten mir unsäglich wohl, und ich fragte mich, ob er dasselbe auch zu meiner Mutter gesagt hatte. Hatte er sie auf diese Art als Modell angeworben? Oder war mehr zwischen den beiden gewesen – Liebe, wie ich vermutete? Vielleicht handelte es sich bei dem, was Kenneth entdeckt hatte, in Wirklichkeit um seinen ganz persönlichen Weg, den er einschlagen mußte, um mir mehr über sich selbst zu erzählen, über mich und alles, was vorgefallen war.

Ich konnte nicht leugnen, daß diese Vorstellung mich aufwühlte. Er mußte gespürt haben, daß meine Hände zitterten. Er drückte sie ein wenig fester und ließ mich nicht aus den Augen, als er weitersprach.

»Nur sehr wenige Menschen können die Visionen eines Künstlers wirklich verstehen«, sagte er. »Irgendwie glaube ich, du gehörst zu diesen wenigen.«

»Warum?« fragte ich, weil ich gespannt darauf war, zu erfahren, was er in mir sah.

»Ich habe ganz einfach dieses Gefühl, und auf meine Instinkte ist schon immer Verlaß gewesen, vor allem dann, wenn es um Menschen geht«, fügte er hinzu, und seine Augen wurden dunkel. Ich erahnte, daß einige dieser instinktiven Wahrnehmungen recht unerfreulich gewesen waren.

Aber was wollte er mit diesen Worten und Blicken wirklich zum Ausdruck bringen? Wollte er damit sagen, ich wüßte die Instinkte eines Künstlers zu schätzen, weil ich sie von ihm geerbt hatte?

»Für den Moment«, fuhr er fort, »halte ich es für das beste, wenn du niemandem gegenüber auch nur ein Wort von dieser ganzen Sache erwähnst, und dein Onkel Jacob und der Rest der Logans sollten erst recht nichts davon erfahren. Ich fürchte, wie so viele andere haben auch sie einen äußerst eingeschränkten Horizont. Sie würden das nicht verstehen. Läßt sich das machen? Kannst du eine Zeitlang ein Geheimnis für dich behalten?«

»Ich bin Geheimnisse gewohnt«, sagte ich nachdrücklich, doch er lächelte nur und nickte.

»Gut.« Er wandte sich dem Marmor wieder zu. »Ich kann dir versichern, daß ich schon seit Jahren nicht mehr so aufgeregt gewesen bin«, sagte er. Dann sah er mich wieder an. »Und jetzt weiß ich, daß es ganz allein an dir liegt.«

Ich sah den Marmorblock an, und ebenso wie er sah auch ich plötzlich, daß es sich dabei um weit mehr als nur um einen Steinklotz handelte.

Möglicherweise barg dieser Stein den Weg zu meinem Vater, zur Wahrheit und auch zu dem Glück, von dem ich hoffte, es würde hinter dieser Offenbarung auf mich warten.

Im Netz der Lügen

Подняться наверх