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Schau niemals zurück

Natürlich war ich nervös, ehe ich am Samstag zum Mittagessen zu Großmama Olivia ging. In ihrer Gegenwart saß ich immer wie auf Kohlen, aber mir schien es, als ginge das jedem so. Der einzige, der sich in ihrer Gegenwart entspannt zu fühlen schien, war Richter Childs. Sogar Großpapa Samuel wirkte die meiste Zeit über so, als sei ihm unbehaglich zumute. Ich zuckte immer wieder zusammen, wenn sie ihre beißende Kritik an ihm und an dem, was er tat, verbreitete. Sie sprach in einer herablassenden Art mit ihm, als sei er völlig bedeutungslos und dazu noch ein vollkommener Dummkopf. Ich fragte mich, warum er das duldete, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß die beiden jemals jung und ineinander verliebt gewesen waren.

Großpapa Samuel trug seine Ehe derzeit wie einen Schuh, der ihm zwei Nummern zu klein war. Nach allem, was Cary mir erzählt und was ich bei anderen Gelegenheiten beobachtet hatte, verbrachte Großpapa Samuel soviel Zeit wie möglich außer Haus, obwohl er längst pensioniert war. Mehrmals in der Woche spielte er Karten mit seinen alten Freunden, und wenn man ihn einlud, ließ er keine Chance aus, abends auszugehen. Cary sagte, daß Großpapa nur ungern in Rente gegangen war und daß er nur deshalb aufgehört hatte zu arbeiten, weil Großmama Olivia fand, es sähe andernfalls so aus, als benötigten sie das Geld. Tagsüber stand er oft an den Anlegestegen und redete mit den Fischern und Bootsleuten.

Großmama Olivia hätte jedoch niemals zugelassen, daß er eine ihrer formellen Einladungen zum Mittagessen an einem Samstag ausließ. Nach allem, was ich wußte, lud sie gewöhnlich eine wichtige Person aus Provincetown oder der Umgebung ein. Anwärter auf politische Posten und reiche Geschäftsleute aus Orten, die soweit entfernt waren wie Boston, fühlten sich von ihren Einladungen geehrt.

Großmama Olivias Fahrer Raymond war ein Mann von Mitte Sechzig und das, was die Leute in Provincetown einen Brava nannten: halb Neger und halb Portugiese. Er war einer der Onkel von Roy Patterson. Roy arbeitete für Onkel Jacob, und Roys Tochter Theresa ging mit mir in dieselbe Schulklasse. Hier kannte jeder jeden, ganz gleich, ob man gesellschaftlichen Umgang miteinander hatte oder nicht.

Raymond holte mich in dem alten Rolls Royce von Großmama und Großpapa Logan ab, einem echten Oldtimer. Der Tag war bewölkt, und der Luftzug reichte gerade aus, um den Sand aufzuwirbeln und ihn gegen die Windschutzscheibe fliegen zu lassen. Die Wolken waren so weich wie Marshmallows, aufgedunsen und riesig, und sie trieben träge dahin. Kein Tag eignete sich besser für eine nachmittägliche Einladung.

Auf dem Rücksitz des Rolls Royce hätte ich mir wie eine kleine Prinzessin vorkommen können, als ich auf dem fleckenlosen Leder saß und mir die Türen von einem Fahrer geöffnet und geschlossen wurden. Er brachte mich zu den Logans. Cary war schon längst mit Onkel Jacob aufs Meer hinausgefahren, als die Limousine eintraf, um mich abzuholen. Darüber war ich froh, weil ich wußte, daß er mich damit aufgezogen hätte. Onkel Jacob nahm sich nur am Sonntag frei, und selbst dann oft nicht den ganzen Tag. May tat mir leid; sie stand in der offenen Tür und sah zu, wie ich in die Limousine einstieg. Sie wirkte wie eine traurige kleine Stoffpuppe, als sie dastand und mir zögernd nachwinkte. Warum konnte Großmama Olivia sie nicht auch einladen? fragte ich mich. Dieselbe Frage stellte ich Tante Sara, kurz ehe der Wagen vorfuhr.

»Ich weiß es nicht, mein Liebes«, erwiderte sie. »Vielleicht will sie einfach mehr Zeit mit dir allein verbringen oder dich wichtigen Leuten vorstellen. Aber mach dir um May keine Sorgen. Sie hat schließlich mich, und ich werde sie zum Mittagessen in die Stadt mitnehmen, wenn ich Einkäufe erledige.«

Trotzdem sagte ich mir, daß es eine bittere Pille für ein kleines Mädchen war, die sich nur schwer schlucken ließ. Wie konnte eine Großmutter bloß so unsensibel sein, vor allem, wenn es um ein Enkelkind wie May ging, das mehr Aufmerksamkeit und Zuneigung brauchte als andere? Bei dieser Vorstellung traten mir Tränen in die Augen, und jede Freude oder Aufregung, die ich hätte verspüren können, weil ich in diesem luxuriösen Fahrzeug zu einem Mittagessen abgeholt wurde, verging mir.

Bei meiner Ankunft fand ich Großmama Olivia, Großpapa Samuel und Richter Childs auf der Veranda hinter dem Haus vor. Wie immer, wenn sie Gäste hatte, hatte Großmama Olivia Dienstboten engagiert. Eine Kellnerin reichte Horsd’œuvres und Gläser mit Champagner herum. Alle drehten sich zu mir um, als ich durch die Tür kam.

Selbst wenn sie saß, hatte man den Eindruck, Großmama Olivia wüchse über ihre eigene Größe heraus. Barfuß maß sie kaum mehr als einen Meter fünfzig, doch aufgrund ihrer Haltung und ihrer majestätischen Sitzweise brachte sie es irgendwie fertig, auf alle Leute herabzuschauen (sogar auf diejenigen, die gut dreißig Zentimeter größer waren als sie); daher wirkte sie kräftig und stark. Wie üblich hatte sie ihr schneeweißes Haar zu einem Knoten zurückgebunden; darin steckte ein mit Perlen besetzter Kamm. (Es hatte eine ganze Weile gedauert, nachdem ich Tante Sara kennengelernt hatte, bis ich begriffen hatte, daß sie ihr Haar hochgesteckt trug, weil Großmama Olivia es ebenfalls tat.)

Die winzigen Altersflecken, die sich an Großmama Olivias Haaransatz und auf ihren Wangen zusammendrängten, sahen in der hellen Sonne fast wie Sommersprossen aus. Heute hatte sie ein wenig Rouge auf ihre Wangen aufgetragen. Das war so ziemlich die einzige Schminke, die ich jemals an ihr bemerkte. Ihre Züge waren spitz, und die Haut hing in so dicken Falten an ihr herab wie bei einer Henne. Über ihre Schläfen zogen sich winzige Äderchen. Ich war sicher, daß sie sich als wahrhaft blaublütig empfand, wenn sie in den Spiegel schaute und den vermeintlich blauen Lebenssaft sah, der durch ihren Körper rann.

Heute trug sie ein elfenbeinfarbenes Baumwollkleid mit Rüschenärmeln und einem Volant. Auf dem Kragen und zwischen ihren Brüsten waren winzige Perlen aufgenäht. An ihrem rechten Handgelenk funkelte ein elegantes goldenes Armband, das mit Diamanten besetzt war, und außerdem trug sie eine winzige goldene Armbanduhr. Doch die Zeiger und die Ziffern waren so klein, daß mir einfach unvorstellbar war, wie sie die Zeit darauf ablesen konnte.

Trotz ihres aufbrausenden Temperaments hatte Großmama Olivia eine Haut, die glatter war als die Haut der meisten Frauen in ihrem Alter, und ihr ständiges Stirnrunzeln hatte keine Falten in ihrer Haut hinterlassen. Ihre Hände waren anmutig, die Knöchel etwas zu spitz und mit Altersflecken übersät, aber die Haut war wie Samt. Ich hätte wetten mögen, daß sie in ihrem ganzen Leben kein Geschirr gespült oder auch nur ein einziges Kleidungsstück gebügelt hatte.

Großpapa Samuel sah in seiner sportlichen hellblauen Jacke mit der passenden Freizeithose schick aus. Er trug polierte weiße Schuhe und himmelblaue Socken. Sein Haar war fast grau, aber er hatte immer noch einen bemerkenswert dichten Schopf. Über den Ohren und an den Seiten war das Haar ordentlich geschnitten, auf dem Kopf war es zurückgekämmt. Seine grünen Augen schienen bei meinem Anblick aufzuleuchten, und seine Lippen verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln.

Richter Childs hielt eine Zigarre in der rechten Hand und ein Glas Champagner in der linken, und der riesige Diamant an seinem kleinen Finger funkelte in der Sonne. Seit ich auf die Idee gekommen war, Kenneth Childs könnte mein richtiger Vater sein, begegnete ich dem Richter von Mal zu Mal mit größerem Interesse. Schließlich, sagte ich mir, konnte dieser Mann mein Großvater sein.

Der Richter war ein älterer Mann von distinguiertem Äußeren. Sein graues Haar ließ noch einen Schimmer des ehemaligen hellen Brauns erkennen; es war kurz geschnitten und auf der rechten Seite gescheitelt. Er war konservativer gekleidet als Großpapa Samuel und trug ein anthrazitfarbenes Jackett und eine passende Hose, dazu schwarze Schuhe und Socken. Bei Kenneth hatte ich Bilder von seiner Mutter gesehen. Sie war eine sehr attraktive Frau mit dunkelbraunem Haar gewesen, aber es stand für mich außer Frage, daß Kenneth seinem Vater nachgeschlagen war und Nase und Kinn von ihm hatte. Kenneth’ Augen hatten einen dunkleren Braunton, doch die Augen des Richters schienen jedesmal dunkler zu werden, wenn er mich ansah.

»Der Ehrengast ist also endlich eingetroffen«, sagte der Richter. Sowohl er als auch Großpapa Samuel erhoben sich, und beide deuteten eine Verbeugung an. Ich verzog die Lippen zu einem Lächeln. Ich kam mir vor, als sei ich in eine Szene aus Vom Winde verweht hineingeraten.

Ich blickte zuerst auf Großmama Olivia, dann zur Rückfront des Hauses. Es waren keine weiteren Gäste vorhanden, und man hatte auch nirgends Tische, Zelte und Stühle aufgebaut. Sollte ich tatsächlich der Ehrengast sein?

»Guten Tag, Großmama Olivia«, sagte ich.

»Ich mochte dieses Kleid immer an Laura«, erwiderte sie anstelle einer Begrüßung. Sie sagte es so, daß ich mir vorkam wie eine verarmte Verwandte, die etwas Abgelegtes trägt.

»Du siehst sehr hübsch aus, Melody«, sagte Großpapa Samuel und nickte mir zu. »Setz dich zu uns«, sagte er dann und klopfte auf den gepolsterten Gartenstuhl, der neben ihm stand.

»Das sieht Samuel mal wieder ähnlich, neben der hübschen jungen Dame sitzen zu wollen«, sagte der Richter. »Du bist ja nur neidisch, weil ich sie vor dir aufgefordert habe, an meine Seite zu kommen«, sagte Großpapa.

»Benehmt ihr beide euch jetzt bloß nicht wie dumme Schuljungen«, warnte Großmama Olivia. »Setz dich, wohin du willst«, sagte sie zu mir. Ich setzte mich neben Großpapa Samuel, der den Richter daraufhin strahlend anlächelte.

»Diese junge Frau hat weiß Gott Geschmack«, sagte er und brachte damit den Richter zum Lachen.

Das Hausmädchen erschien mit dem Horsd’œuvres-Tablett, und ich wählte eines aus und nahm eine Serviette. Es waren Krabben in Blätterteig, und sie schmeckten köstlich.

»Bringen Sie ihr bitte ein Glas Limonade«, sagte Großmama Olivia zu dem Mädchen, das daraufhin nickte und eilig verschwand.

»Was spielt sich in Jacobs Haus ab?« fragte Großpapa Samuel.

»Cary und Onkel Jacob sind eifrig am Arbeiten. May und Tante Sara gehen heute in die Stadt.«

»Ich hasse es, während der Hochsaison in die Stadt zu gehen«, bemerkte Großmama Olivia. »Mit all diesen Touristen, die in die Schaufenster gaffen, ist es zu voll in diesen schmalen Gassen. Und ich begreife nicht, warum sie dieses behinderte Kind immer durch die Gegend schleifen muß«, fügte sie hinzu und sah mich an, als hätte ich eine Antwort darauf. Die hatte ich allerdings parat.

»Tante Sara bemüht sich eben, May zu beschäftigen«, sagte ich nachdrücklich. »Als ich fortging, war sie ganz allein.«

»Ja«, sagte Großpapa und nickte. »Du hättest Sara und das Kind auch einladen sollen, Olivia«, sagte er zu seiner Frau.

»Wag es bloß nicht, mir vorzuschreiben, wen ich einladen soll und wen nicht, Samuel Logan«, fauchte sie.

Einen Moment lang sah er sie starr an, und seine Augen waren kalt und durchdringend, doch sie wurden schnell wieder freundlicher, als sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breitmachte.

»Hast du den Peitschenknall gehört, Richter?«

Als der Richter nicht gleich etwas darauf antwortete, sah ich ihn an und bemerkte, daß er mich gebannt anblickte. »Wie bitte? Einen Peitschenknall? Oh, ja«, sagte er lachend. »Tja, Samuel, ich habe dich gewarnt. Vor vielen, vielen Jahren habe ich dich schon vor den Gordons gewarnt.«

»Das kann ich dir zurückgeben«, sagte Großmama Olivia. »Ganz Provincetown hatte mich vor den Logans gewarnt.«

Der Richter lachte kurz auf und trank einen Schluck Champagner. Er und Großmama Olivia tauschten verstohlene Blicke miteinander aus.

»Ich habe gehört, daß du für Kenneth arbeitest«, sagte Großmama Olivia und wandte sich wieder an mich. »Wie ist das?«

»Danke, es läuft alles bestens.«

»Dann ist mein Sohn also kein allzu strenger Arbeitgeber?« fragte der Richter. »Du langweilst dich nicht draußen in diesem Niemandsland?«

»Nein. Ich lerne sogar eine ganze Menge über Kunst.«

»Bist du auch künstlerisch veranlagt?« fragte er.

»Nein, Sir.«

»Sie hat einen Hang zur Musik. Hast du sie nicht in der Schulveranstaltung spielen hören?« fragte Großpapa Samuel.

»Ja, sicher, ich weiß, daß sie einen Hang zur Musik hat, aber manche Menschen sind vielseitig begabt.«

»Und anderen mangelt es an jeglicher Begabung«, warf Großmama Olivia ein, und dabei war ihr Blick auf Großpapa Samuel gerichtet, »solange es nicht um ihren eigenen Nutzen geht.« Großpapa Samuel schien sich unbehaglich zu fühlen, und er nahm eine andere Haltung auf dem Stuhl ein. Dann räusperte er sich.

Mir mißfiel es, daß Großmama Olivia einen so gehässigen Tonfall anschlug, und doch flößten mir ihre Kraft und ihre Stärke unwillkürlich Ehrfurcht ein. Welchem Quell entsprang diese Kraft? Woher nahm sie bloß dieses Selbstvertrauen und diese Sicherheit? Ich konnte sie zwar nicht leiden, aber andererseits hätte ich gern etwas von ihr gelernt. Sie war der lebende Beweis dafür, daß Frauen zäh und stark sein konnten, wenn es nötig war, und eines Tages, in naher Zukunft, würde auch ich diese Stärke in mir finden müssen.

»Was verlangt Kenneth von dir?« fragte der Richter.

»Ich helfe ihm dabei, sein Haus aufzuräumen; ich koche ihm das Mittagessen, ich halte sein Atelier in Ordnung, und gelegentlich kümmere ich mich auch um Ulysses. Er hat mir gezeigt, wie man den Ton anrührt, den er für Vasen und kleine Statuen benutzt.«

»Ganz gleich, was er dir dafür bezahlt, daß du sein Haus in Ordnung hältst – es kann einfach nicht genug sein. Mit seiner Kunst verdient er kaum genug, um diesen Hund zu füttern«, scherzte der Richter.

»Er ist der festen Überzeugung, daß ein Künstler nicht davon besessen sein sollte, Geld zu verdienen«, warf ich ein und bereute es augenblicklich, weil alle mich so ansahen, als hätte ich etwas Gotteslästerliches gesagt.

»Anscheinend kennst du ihn inzwischen schon recht gut«, sagte der Richter nach einem Moment tiefen Schweigens.

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte ich. »Wir beginnen gerade erst, einander kennenzulernen.«

»Hat er dir erzählt, daß er früher mehr oder weniger hier gelebt hat?« fragte Großpapa Samuel. »Oft mußte ich ihn regelrecht rauswerfen.«

»Also, Samuel, ich bitte dich«, sagte Großmama Olivia. »Er hat nie hier gelebt.«

»Er ist doch, weiß Gott, oft genug hiergewesen, nicht wahr, Nelson?« fragte Großpapa Samuel den Richter.

»Als Kenneth noch jünger war, hatte ich ihn weniger im Griff als heute«, sagte der Richter kläglich.

Alle Anwesenden nippten an ihrem Champagner, doch der Richter und Großmama Olivia warfen einander wieder einen Seitenblick zu. Ich nahm die Limonade von dem Dienstmädchen entgegen, bedankte mich bei ihm und trank einen Schluck. Ich wußte immer noch nicht, warum man mich zu diesem Mittagessen eingeladen hatte, doch nach allem, was ich gehört und mit eigenen Augen beobachtet hatte, tat Großmama Olivia nichts, ohne damit einen ganz bestimmten Zweck zu verfolgen.

»Ich hoffe, du hast Hunger«, sagte Großpapa Samuel. »Uns steht nämlich ein kleines Festessen bevor. Kalter Hummer, diese wunderbaren Bratkartoffeln, die ich eigentlich nicht essen sollte, und Räucherschinken.«

»Wenn man ihn hört, könnte man fast meinen, er interessierte sich nur noch für das Essen«, sagte Großmama Olivia und seufzte.

»So, das ist also alles, wofür er sich noch interessiert«, scherzte der Richter und stand auf. Großpapa Samuel reichte mir seinen Arm, und wir folgten dem Richter und Großmama Olivia ins Haus und begaben uns in das Eßzimmer, wo das kalte Büfett aufgebaut war. Das Dienstmädchen stand neben dem Tisch und wartete darauf, jedem von uns einen Teller zu reichen. Großmama Olivia bediente sich als erste, und der Richter trat zur Seite, um mir den Vortritt zu lassen. Das Hummerfleisch war von den Schalen befreit und auf einer Platte angerichtet worden. Außer den Kartoffeln, die Großpapa Samuel so gern mochte, gab es noch eine Reihe von Gemüsen, aber auch Preiselbeersauce und Apfelmus. Der Räucherschinken sah einfach köstlich aus.

Tante Sara hatte mich davor gewarnt, meinen Teller bei Großmama Olivias Essenseinladungen zu voll zu laden. Großmama Olivia war nämlich der festen Überzeugung, daß echte Damen so etwas nicht taten. Der Anstand gebot es, sich hinterher noch etwas zu nehmen, einen Nachschlag vom Schinken oder vom Gemüse, aber man lud sich den Teller nicht gleich voll. Ich sah, daß sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete, als ich hinter ihr am Büfett entlanglief, und nahm mir weniger, als ich eigentlich gern gegessen hätte. Der Richter und Großpapa Samuel füllten sich die Teller bis an den Rand. Wir nahmen am Tisch im Eßzimmer Platz.

»Es schmeckt wie üblich wunderbar, Olivia«, sagte der Richter. Sie deutete ein Nicken an, wie man es von jemandem erwartet, der davon ausgeht, daß man ihm Komplimente macht.

»Du scheinst dich gut in deinem neuen Heim eingelebt zu haben«, bemerkte Großpapa Samuel zu mir.

»Was ist ihr denn anderes übriggeblieben?« sagte Großmama Olivia gehässig. »Man tut eben, was man tun muß.«

»Tja, manchmal hat man eben das Glück, daß einem das Notwendige sogar Spaß macht«, warf er, ohne jeden hörbaren Anflug von Widerspruchsgeist in der Stimme, ein. Er zwinkerte mir zu, und wir aßen schweigend, bis der Richter und Großmama Olivia wieder einen dieser stummen Blicke austauschten, die zahllose Fragen zu enthalten schienen.

»Was tust du eigentlich, während Kenneth in seinem Atelier herumwerkt?« fragte mich Großmama Olivia.

»Manchmal nutze ich die Zeit, um das Haus zu putzen und aufzuräumen oder mit Ulysses spazierenzugehen, aber es kann auch vorkommen, daß ich Kenneth bei der Arbeit zusehe. Es stört ihn nicht, solange ich ihm die Konzentration nicht raube«, fügte ich hinzu. »Einmal hat er mich sogar aufgefordert, Geige zu spielen, während er gearbeitet hat.«

»Dann ist er also nicht besonders gesprächig?« fragte sie.

»Oh, doch, aber nur, wenn er über seine Kunst spricht«, erwiderte ich. Ich neigte den Kopf zur Seite und fragte mich, warum sie mir all diese Fragen über Kenneth stellten, wo er doch mehr oder weniger hier aufgewachsen war und sein Vater mir persönlich gegenübersaß. Sie benahmen sie alle so, als sei er ein Unbekannter, und dabei hätten sie ihn alle weitaus besser kennen sollen als ich.

»Ist das alles, worüber er spricht?« fragte mich der Richter eindringlich. Er schien die Geduld zu verlieren.

»Laßt das Mädchen in Ruhe essen«, sagte Großpapa Samuel. Großmama Olivias Augen schossen Pfeile auf ihn ab.

Ich kaute und schluckte den Bissen, den ich gerade im Mund hatte, ehe ich die Frage beantwortete.

»Nein. Manchmal redet er auch über die Vergangenheit«, sagte ich. Die Augen des Richters weiteten sich, und Großmama Olivias Gabel verharrte auf halber Höhe zwischen ihrem Teller und ihrem Mund.

»Ach? Und was hat er dir über die Vergangenheit erzählt?« bohrte der Richter weiter.

»Nun – nicht viel. Eigentlich nur, was es für ihn bedeutet hat, hier in Provincetown aufzuwachsen«, sagte ich.

Großmama Olivia legte ihre Gabel hin und sah den Richter an; sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Der Richter wandte sich seinem Essen wieder zu, und sie wechselten das Gesprächsthema. Jetzt ging es darum, was es für die wirtschaftliche Lage des Landes bedeuten würde, wenn die Republikaner den Einfluß auf den Senat nicht an sich reißen konnten.

Nach dem Essen machte Großmama Olivia einen Vorschlag, der mich erstaunt die Augen aufreißen ließ.

»Während ihr beiden Hohlköpfe eure Zigarren raucht, werden Melody und ich uns in die Laube setzen, damit wir uns ungestört miteinander unterhalten können«, sagte sie. »Komm schon«, wandte sie sich ungeduldig an mich, als sie vom Tisch aufstand.

»Wir kommen gleich nach«, sagte Großpapa Samuel.

»Meinetwegen könnt ihr euch für eure unappetitlichen Laster ruhig Zeit lassen«, erwiderte sie. Der Richter lachte, und Großpapa zuckte die Achseln. Ich folgte Großmama Olivia durch die Hintertür aus dem Haus und die Stufen hinunter. Sie blieb stehen und wartete, bis ich an ihrer Seite war.

»Hat dir das Mittagessen geschmeckt?«

»Oh, ja. Vielen Dank. Es schmeckte alles ganz köstlich.«

»Später trinken wir Tee, und dazu gibt es Petits Fours. Und nun erzähl mir mehr von deinem Ferienjob«, verlangte sie und lief über den Pfad zur Laube.

Weshalb war meine Arbeit für Kenneth ein so wichtiges Thema? Was wollten sie von mir hören?

»Dazu gibt es nicht viel zu sagen, Großmama Olivia. Es macht mir Spaß, Kenneth bei der Arbeit zuzusehen. Er lebt an einem wundervollen Ort, so dicht am Meer und so naturverbunden. Ich habe viel Freude an meinen Spaziergängen…«

»Als er mit dir über frühere Zeiten geredet hat«, fiel sie mir ins Wort, da meine Antwort sie offenbar nicht zufriedenstellte, »ist er da nicht zufällig auf seinen Vater zu sprechen gekommen?« Als ich nicht sofort Antwort gab, blieb sie stehen und sah mich an. »Also, was ist?«

»Er redet nicht besonders gern über seinen Vater«, sagte ich, doch ich erkannte gleich, daß ihr das nicht genügte. Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen; dann wandte sie sich von mir ab und betrat die Gartenlaube. Ich folgte ihr und setzte mich ihr gegenüber auf eine verschnörkelte weiße Gartenbank.

»Worüber wolltest du mit mir reden?« fragte ich schließlich. Mein Ferienjob konnte nicht das Thema sein; inzwischen stand für mich fest, daß sie mich für eine Art Kreuzverhör zu sich bestellt hatte.

»Ich halte dich für wesentlich klüger, als deine Mutter es in deinem Alter war«, begann sie. »Die Interessen deiner Mutter galten immer nur den simplen Dingen des Lebens, und ihre Neugier beschränkte sich ausschließlich auf Männer.«

»Ich finde es nicht fair, so über sie zu reden. Sie ist tot und kann sich nicht mehr rechtfertigen«, gab ich zurück. Tränen brannten in meinen Augen, als ich mich gegen Großmama Olivias Äußerungen auflehnte. Ich holte tief Atem und wandte dann den Blick ab.

»Unsinn. Wenn wir nicht über die Toten reden könnten, so hätte das eine Menge Fehler zur Folge. Und ein Fehler wäre es auch, wenn du mir nicht erzählst, was Kenneth Childs über seinen Vater sagt – falls er überhaupt über ihn spricht.«

Ich wandte mich ihr wieder zu.

»Warum ist dir das eigentlich so wichtig?« fragte ich.

»Wage es bloß nicht, Fragen, die ich dir stelle, mit Gegenfragen zu beantworten«, fuhr sie mich an.

»Ich weiß lediglich, daß die beiden nicht oft miteinander reden, aber ich weiß nicht, warum.«

Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Er hat es dir also nicht gesagt?« fragte sie lauernd.

»Nein, nicht wirklich.«

»Nicht wirklich? Was soll denn das schon wieder heißen! Entweder er hat es dir erzählt, oder er hat es dir nicht erzählt«, sagte sie und beugte sich ungeduldig vor.

»Er hat es mir nicht erzählt«, erwiderte ich, und Tränen stiegen erneut in meinen Augen auf.

»Ich verstehe«, sagte sie und musterte mich weiterhin eindringlich. Ich kam mir vor, als säße ich in einem Polizeirevier im Schein einer grellen Lampe.

»Hast du mich deshalb zum Mittagessen eingeladen, weil du mich darüber aushorchen wolltest, was Kenneth über seinen eigenen Vater erzählt?« fragte ich trotz ihrer strengen Ermahnung, ihr keine Gegenfragen zu stellen.

»Sei nicht unverschämt«, fauchte sie mich an.

»Ich finde es ziemlich betrüblich, wenn der Richter nur dadurch etwas über seinen eigenen Sohn in Erfahrung bringen kann, daß eine andere Person ihm nachspioniert«, entgegnete ich.

»Wage es bloß nicht, dem Richter gegenüber etwas Derartiges zu äußern«, schimpfte sie. »Es war mit keinem Wort die Rede davon, daß du jemandem nachspionierst«, fügte sie hinzu, doch ich sah sie immer noch finster an.

»Du hättest Kenneth zu diesem Mittagessen einladen sollen«, warf ich ein. »Dann könntest du ihm diese Fragen jetzt persönlich stellen.«

Sie bedachte mich mit einem bösen Blick und schüttelte den Kopf.

»Offenbar hat mein Sohn dir die guten Manieren nicht beigebracht, die ich ihn gelehrt habe, oder falls er es doch getan haben sollte, dann hat deine Mutter sie dir wieder ausgetrieben«, sagte sie.

»Wie kannst du sie immer noch hassen, obwohl sie jetzt tot ist?« fragte ich. Endlich hatte ich einen Satz herausgebracht, der dazu führte, daß sie die Augen von mir abwandte. Sie schaute mit ausdrucksloser Miene auf das Meer hinaus.

»Ich hasse sie nicht. Ich habe ihr Verhalten rundum mißbilligt, und am Ende hat sie mir leid getan. Ich hatte echtes Mitgefühl mit ihr und Chester. Wenn ich mir vorstelle, daß er es sich anmaßte, seinem eigenen Vater etwas so Furchtbares zu unterstellen, und das nur, um sie zur Frau zu nehmen. Allein schon der Gedanke, mein Mann könnte ein junges Mädchen verführen und mich in eine derart peinliche Lage bringen.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber das ist jetzt alles vorbei. Mit scheußlichen Worten und Gedanken verhält es sich wie mit Flutwellen. Wenn sie erst einmal auslaufen, kann man sie nie mehr zurückholen.« Sie seufzte. »Und daher ist es zwecklos, jetzt noch darüber zu reden.«

»Oh, nein, es ist keineswegs zwecklos«, sagte ich kühn.

Sie drehte sich zu mir um. Wenn Augen Dolche wären, wäre ich jetzt so durchlöchert wie ein Sieb, sagte ich mir. »Was hast du gesagt?«

»Ich will die Wahrheit wissen«, sagte ich. »Ist Kenneth Childs mein Vater? Horchst du mich deshalb nach ihm aus?«

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

»Hat er dir das gesagt?«

»Er hat mir überhaupt nichts gesagt.«

Ihr Lächeln verflog.

»Wenn ich eines nicht weiß und es auch nicht wissen will, dann, welcher von Hailles zahllosen männlichen Bekannten dich gezeugt hat. Im Vergleich dazu wäre es ein Leichtes, den Vater von irgendeinem Hai im Meer ausfindig zu machen«, fügte sie mit einer ausholenden Handbewegung in Richtung Ozean hinzu.

»Vielleicht weiß meine richtige Großmutter, wer mein Vater ist«, sagte ich, worauf Großmama Olivia in Gelächter ausbrach.

»Belinda? Du glaubst tatsächlich, sie hat auch nur die leiseste Ahnung davon, was um sie herum vorgeht? Also, wirklich, ich bitte dich.«

»Ich möchte sie gern kennenlernen. Das ist mein Ernst«, beharrte ich.

Sie hörte auf zu lachen.

»Sei nicht albern. Sie weiß gar nicht, wer du eigentlich bist, und sie würde nichts von dem verstehen, was du ihr erzählst oder sie fragst«, sagte Großmama Olivia. »Ein Besuch bei ihr wäre absolut zwecklos.«

»Ich möchte sie trotzdem besuchen. Ist es ihr denn nicht gestattet, Besucher zu empfangen?«

»Sie darf Besucher empfangen, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein, was eine noch größere Zeitverschwendung wäre als ein Besuch bei Belinda Gordon.«

»Ich habe genug Zeit, um sie für etwas Unnützes zu vergeuden«, sagte ich. »Hat meine Mutter sie früher jemals besucht?«

»Nein, nicht ein einziges Mal«, erwiderte Großmama Olivia und verzog hämisch das Gesicht. »Und ich kann dir versichern, es hat keineswegs daran gelegen, daß ich es ihr verboten hatte.«

»Für mich ist das nur noch ein Grund mehr, zu ihr zu gehen«, sagte ich mit fester Stimme. Sie zog die Augenbrauen wieder hoch und nickte.

»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, sagte sie. »Vielleicht hätte ich mich dafür interessieren sollen, wer dein Vater ist. Wer auch immer es war, er muß Rückgrat gehabt haben.«

Das war vielleicht das zweischneidigste Kompliment, das ich je bekommen habe, sagte ich mir.

»In Ordnung«, sagte sie dann. »Wenn du wirklich derart wild entschlossen bist, deine richtige Großmutter kennenzulernen«, fügte sie hinzu und betonte das »richtig«, als handele es sich dabei um ein anstößiges Wort, »dann bin ich sogar bereit, dich von Raymond zu ihr hinbringen zu lassen.«

»Danke«, sagte ich rasch. »Wann läßt sich das einrichten?«

»Morgen. Am Sonntag ist Besuchstag. Er holt dich um zehn Uhr morgens ab. Dem Pflegepersonal ist es lieber, wenn Besucher vormittags kommen«, sagte sie.

»Hast du sie denn nie dort besucht?« fragte ich.

»Nein, natürlich nicht.«

»Aber sie ist doch deine Schwester«, sagte ich. Sie nahm eine stocksteife Haltung ein.

»Ich habe mehr für sie getan, als sie jemals im Leben für mich getan hätte«, gab sie zurück, »vor allem, wenn man die näheren Umstände bedenkt.«

»Welche Umstände?«

»Bitte. Ich will nicht noch einmal darüber sprechen müssen. Statte ihr nur deinen pflichtschuldigen Besuch ab«, fügte sie hinzu und tat das Thema mit einer unwirschen Handbewegung ab. Vorstellungen und Worte, die sie nicht billigte oder gar verabscheute, waren für sie wie Fliegen, die man aus seinem Gesichtsfeld wedelte. Damit konnte sie mich mehr als jeder andere Mensch in Wut versetzen.

»Es ist kein Pflichtbesuch. Ich möchte sie wirklich gern kennenlernen.«

»Dir steht eine große Enttäuschung bevor«, warnte sie mich, und es klang beinahe schadenfroh.

»Ich habe im Lauf meines Lebens schon viele Enttäuschungen erlebt«, sagte ich.

Im selben Augenblick hörten wir den Richter und Großpapa Samuel aus dem Haus kommen. Während sie sich der Laube näherten, beugte sich Großmama Olivia vor.

»Du wirst keinem Menschen etwas von diesem Gespräch erzählen«, befahl sie mir. »Und vor allem wirst du es Kenneth gegenüber nicht erwähnen. Ich erwarte keine Loyalität von dir, aber ich setze deinen Gehorsam voraus«, sagte sie. »Und ich bin sicher, du weißt, was es für Konsequenzen hätte«, fügte sie hinzu, und eine deutliche Warnung stand in ihren Augen, als sie sich noch weiter zu mir vorbeugte, »falls du dich nicht daran halten solltest.«

Die Drohung hing noch wie eine Gewitterwolke über mir, als der Richter und Großpapa Samuel in die Laube traten.

»Nun«, scherzte Großpapa Samuel. »Habt ihr beide euch nett miteinander unterhalten?«

»Ich bin sicher, Samuel, daß unser Gespräch dem Geschwätz haushoch überlegen war, das ihr beide durch die Rauchschwaden eurer Zigarren von euch gegeben habt«, erwiderte sie.

»Aber, aber, Olivia, sei doch nicht so sexistisch«, schalt sie der Richter. Er tauschte einen schnellen Blick mit Großmama Olivia aus, und ich sah die Frage, die ihm im Gesicht geschrieben stand. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, und ich hatte den Eindruck, daß er erleichtert wirkte. Dann lächelte er mich an.

»Und jetzt«, sagte er und setzte sich auf die Bank neben mich, »würde ich gern Genaueres über das neueste künstlerische Projekt meines Sohnes hören.«

»Ich hielte es für einfacher, wenn Sie rausfahren und mit ihm selbst darüber reden würden, Richter Childs«, sagte ich. »Ich möchte nicht geheimniskrämerisch wirken«, fügte ich hinzu. »Es ist nur so, daß ich seine Arbeit nur unzutreffend beschreiben könnte.«

Er nickte langsam.

»Ja, selbstverständlich«, sagte er. »Genau das hatte ich ohnehin vor. An einem der kommenden Tage«, fügte er hinzu. »An einem der kommenden Tage.«

Großmama Olivia ließ den Tee und dazu kleine Leckereien in der Laube servieren. Das Gespräch wandte sich wieder politischen Themen zu, und ich wurde weitgehend ignoriert, bis der Richter ankündigte, er müsse jetzt aufbrechen. Als er sich erhob, wandte er sich an mich.

»Es war mir eine große Freude, den Nachmittag mit dir zu verbringen, Melody. Vielleicht besuchst du mich eines Tages einmal in meinem Haus am Meer. Spielst du Schach?«

»Nein, Sir.«

»Na, prima. Dann bringe ich es dir bei. Du wirst es im Handumdrehen schaffen, deinen Großvater Samuel schachmatt zu setzen.«

»Ich bin sicher, daß sie weitaus Besseres zu tun hat, als ihre Zeit mit senilen alten Männern zu vergeuden«, sagte Großmama Olivia mit finsterer Miene.

»Gut möglich«, sagte der Richter und zwinkerte mir zu. »Grüß meinen Sohn von mir. Olivia.« Er verbeugte sich.

»Ich begleite dich zu deinem Wagen«, sagte sie und stand auf.

Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich zum allerersten Mal mit Großpapa Samuel allein war. Er sah schweigend hinter Großmama Olivia und dem Richter her, als die beiden sich entfernten, dann wandte er sich an mich.

»Du darfst nicht vorschnell über Olivia urteilen«, sagte er, da ihm der mißbilligende Ausdruck auf meinem Gesicht offenbar nicht entgangen war. »Sie scheint eine sehr harte Frau zu sein, aber sie hat größere Bürden zu tragen gehabt als die meisten anderen Menschen.«

Das Mitgefühl, das er für sie aufbrachte, überwältigte mich geradezu.

»Was für Bürden?«

»Du weißt doch etwas von den Schwierigkeiten, die wir mit ihrer Schwester hatten.«

»Mit meiner Großmutter«, sagte ich.

»Ja, mit deiner Großmutter.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Nach allem, was Olivia mir erzählt hat, muß der Vater der beiden ein sehr schwieriger Mensch gewesen sein. Er hat hohe Anforderungen an Olivia gestellt und eine strenge Atmosphäre in seinem Haus herrschen lassen. Belinda hat sich dagegen aufgelehnt und ein äh… promiskuitives Leben geführt. Olivia hat sich mit ihm angelegt, und ich vermute, daß sie dabei ihr enormes Durchsetzungsvermögen entwickelte.«

»Sie fährt dich ständig an und schimpft dich auf ihre gehässige Art aus«, sagte ich. Er zuckte die Achseln.

»So ist sie nun mal. Wir kommen besser miteinander aus als viele andere Ehepaare nach so langen Jahren des Zusammenlebens. Mach dir keine Sorgen«, fügte er lächelnd hinzu. »Ich lasse mich nicht halb so sehr von ihr tyrannisieren, wie die meisten Leute glauben. Aber das muß unser kleines Geheimnis bleiben, einverstanden? Und überhaupt möchte ich, daß du immer zu mir kommst, wenn du irgendwelche Probleme haben solltest, vor allem mit meinem Sohn Jacob. Ich weiß, daß er manchmal rigider ist als ein puritanischer Pfarrer. Du bist eine begabte und kluge junge Frau. Du schaffst das alles, da bin ich mir ganz sicher.«

»Ich werde morgen meine Großmutter Belinda besuchen«, sagte ich.

»Ach?« Er warf einen Blick auf das Haus. »Weiß Olivia das?«

»Sie arrangiert es so, daß Raymond mich hinbringt.«

»Tatsächlich? Ich finde, das ist wirklich eine nette Geste. Aber dir ist wohl klar, daß Belinda die meiste Zeit nicht ganz bei sich ist.«

»Ich weiß absolut nichts über sie. Und gerade deshalb möchte ich sie besuchen.«

Er nickte und beugte sich dann vor, um mir etwas zuzuflüstern.

»Sie hat einen ausgeprägten Hang, erfundene Geschichten über Leute zu erzählen, die sie früher einmal gekannt hat. Das meiste darf man ihr nicht glauben. Komm einfach zu mir und frag mich, wenn du wissen willst, ob an den Dingen, die sie dir berichtet, etwas Wahres dran ist. Abgemacht?« Ich nickte. »Erzähl Olivia nichts davon. Wende dich einfach nur an mich«, fügte er hinzu und lehnte sich eilig zurück, als Großmama Olivia wieder aus dem Haus kam. Er lächelte und zwinkerte mir zu.

All diese Menschen, die nebeneinanderher leben und Geheimnisse voreinander bewahren, dachte ich. Da muß doch etwas Furchtbares dahinterstecken. Und ich fragte mich, wieviel von alledem wohl mit mir zu tun hatte.

Cary war wieder zu Hause, als die Limousine mich zurückbrachte. Während ich aus dem Rolls Royce stieg, kam er aus dem Haus; daraus konnte ich schließen, daß er schon auf mich gewartet und meine Ankunft vom Fenster aus beobachtet hatte.

»Wie war das Mittagessen?« fragte er, als ich näher kam.

»Wenigstens das war gut«, sagte ich, worauf er die Augen verdrehte.

»Oh, oh. Das klingt ja nicht gerade berauschend.«

»Ich ziehe mich jetzt erst mal um«, sagte ich.

»Und dann laß uns einen Spaziergang zu dem Sumpf mit den Preiselbeersträuchern unternehmen.«

»Einverstanden. Wo ist May?«

»Ich weiß nicht genau, wo sie mit Mutter hingegangen ist; jedenfalls sind die beiden noch nicht zurück«, sagte er.

Ich lief eilig nach oben und schlüpfte in eine Jeans und ein bequemes Sweatshirt. Onkel Jacob hielt anscheinend seinen Mittagsschlaf. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Ich lief leise die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Draußen fand ich Cary, der flache Steine über die Straße warf. Die späte Nachmittagssonne war hinter einer langen Wolkenbank verschwunden und verlieh dem Meer einen metallblauen Schimmer; die hohen Wellen glänzten wie Spiegel.

»Bist du soweit?« fragte er.

»Ja.«

Wir liefen über den Strand. Auf dem Weg zu den Sträuchern berichtete ich Cary von meinem Nachmittag, und ich erzählte ihm auch, daß man mich ins Kreuzverhör genommen und nach Kenneth ausgefragt hatte.

»Ich bin mir vorgekommen wie Großmama Olivias kleine Spionin. Weißt du, warum Kenneth und sein Vater nicht miteinander auskommen?«

»Wahrscheinlich liegt es daran, daß er nicht in die Fußstapfen seines Vaters getreten und Jurist geworden ist. Denk doch nur an all das Geld, das sie für sein Jurastudium zum Fenster hinausgeworfen haben«, mutmaßte Cary.

»Es steckt bestimmt mehr dahinter«, sagte ich. Dann erzählte ich ihm, daß ich meine Großmama Belinda besuchen würde.

»Großmama Olivia schickt den Wagen?«

Ich nickte und berichtete ihm, daß Großpapa Samuel zu mir gesagt hatte, ich solle mich an ihn wenden, wenn ich wissen wollte, ob an den Geschichten, die Großmama Belinda mir möglicherweise auftischen würde, etwas Wahres dran sei. Darüber dachte Cary ein paar Minuten lang nach.

»Ich weiß nicht recht, aber ich glaube, das hat nichts weiter zu bedeuten«, schloß er. »Großpapa Samuel versucht wahrscheinlich nur, dir zu zeigen, daß er nicht so hart und verbittert ist wie seine Frau.«

Wir setzten uns auf die Spitze des Hügels und schauten auf den Sumpf hinunter.

»Es wird eine gute Ernte werden. Die können wir wahrhaft gebrauchen«, sagte er. »Um den Hummerfang ist es derzeit nicht besonders gut bestellt.« Er riß einen Grashalm aus, preßte ihn an seine Lippen und blies darauf. Dann warf er mir einen schnellen Seitenblick zu. »Wegen gestern abend, ehe May gekommen ist…«, sagte er.

»Ja, was ist?« Mein Herz begann zu hämmern, als hätten wir den ganzen Weg hierher im Dauerlauf zurückgelegt.

»Ich hoffe, du bist mir nicht böse.«

»Weshalb sollte ich dir böse sein?«

Er lächelte.

»Nun, vielleicht denkst du, ich hätte dich nur deshalb auf den Dachboden geholt, damit… damit es zu so etwas kommt.«

»War es etwa nicht so?« fragte ich, und er errötete.

»Nein.«

»Wirklich nicht?« neckte ich ihn.

»Nein! Ich bin nicht so wie Adam Jackson. Ich lege Mädchen nicht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen rein und locke sie dann in eine Falle oder sowas«, sagte er, und seine Stimme überschlug sich vor Entrüstung.

»Schon gut. Dann ist es eben unabsichtlich passiert.«

»Ja«, sagte er mit fester Stimme.

»Glaubst du, es wird wieder passieren?« fragte ich zaghaft, da ich mir selbst nicht sicher war, wie ich zu unserer veränderten Beziehung stand.

Er drehte sich überrascht zu mir um.

»Ich weiß es nicht.«

»Willst du, daß es wieder passiert?« verfolgte ich das Thema weiter.

»Willst du es?« konterte er.

»Vielleicht«, gab ich zurück und sagte mir, bei Cary könnte ich wenigstens ich selbst sein; er würde meine Verwirrung nicht als ein Zeichen von Schwäche deuten.

Er schaute mich an, dann beugte er sich langsam zu mir vor; seine Lippen waren feucht und leicht geöffnet. Ich kam ihm zaghaft entgegen, und wir küßten uns, flüchtig und zart. Dann drehte ich mich augenblicklich auf den Bauch und ließ das Kinn auf meine Arme sinken. Er drehte sich neben mir auf den Rücken, und eine Zeitlang sagte keiner von uns ein Wort.

»Ich habe Kenneth unumwunden gefragt, ob er weiß, wer mein Vater ist«, sagte ich schließlich und brach damit das lastende Schweigen.

»Das hast du wirklich getan? Was hat er geantwortet?«

»Zuerst hat er gemeint, er wüßte es nicht, und dann, er könnte es mir nicht sagen.« Ich drehte mich auf den Rücken. Cary stützte sich auf die Ellbogen und sah in mein Gesicht hinunter.

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es heißt, daß er es weiß, aber mich nicht verletzen will; aber vielleicht heißt es auch, daß er der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen kann. O Cary«, sagte ich und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Ich spüre ganz einfach, daß mir noch furchtbare Entdeckungen bevorstehen, viel schrecklicher als alles, was ich bereits in Erfahrung gebracht habe.«

»Dann solltest du vielleicht am besten aufhören, Fragen zu stellen«, schlug er vor. »Du wolltest ja auch nicht, daß ich in seinem Atelier die Tür zu diesem Nebenraum aufbreche. Das ist genau dasselbe. Wahrscheinlich hast du recht gehabt. Manche Türen sollten besser verriegelt bleiben.«

»Ich wollte nicht, daß diese Tür geöffnet wird, doch als sie dann offenstand, war ich begierig, diesen Nebenraum zu betreten und mich dort umzusehen; ich war auch nicht damit einverstanden, daß du diese Bilder herausziehst, aber sowie du damit begonnen hast, habe ich sie mir doch angeschaut.«

Er nickte, dann schluckte er schwer und wandte den Blick ab.

»Was ist?«

»Du bist wie Lots Frau in der Bibel.«

»Ich habe vergessen, wer sie war.«

»Lot hat zu ihr gesagt, daß sie sich nicht umdrehen und zurückblicken dürfe, weil sie sonst zu einer Salzsäule erstarren würde.«

»Und was ist dann passiert?«

»Sie hat sich umgeschaut«, sagte er, und es war, als sei ein Donnerschlag im Himmel zu vernehmen gewesen. Die Glut, die noch vor wenigen Sekunden durch meinen Körper geströmt war, erlosch augenblicklich, und geballte Furcht blieb hart und kalt in meiner Magengrube zurück. Vielleicht hatte er recht.

Vielleicht sollte ich tatsächlich aufhören, Fragen zu stellen.

Im Netz der Lügen

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