Читать книгу Im Netz der Lügen - V.C. Andrews - Страница 8
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Das Leben eines Modells
Auf der Rückfahrt zu Onkel Jacobs Haus sprach Kenneth unermüdlich von seinem neuesten Projekt. Er schilderte mir die mythologischen Hintergründe, führte die Idee, Neptuns Tochter zu erschaffen, näher aus und erklärte mir, wie die Kunst uns dabei hilft, die Probleme der heutigen Welt zu verstehen, und warum er der festen Überzeugung war, der Künstler sei der einzig wahre Prophet. Ich kam mir vor, als besuchte ich ein Seminar an der Universität. Was er über diese Dinge sagte, klang unglaublich interessant. Ich nahm wahr, daß sich sein ganzes Gesicht aufhellte, wenn er über etwas sprach, das ihm wirklich am Herzen lag; dann schien er sich über seine Visionen und Ideen zu erheben und lebhafter zu werden. Ich war zu schüchtern, um es auszusprechen, aber wenn ich auf meiner Geige spielte und die Augen schloß, dann war mir oft genauso zumute wie ihm jetzt. Vielleicht war dies das Band, das uns miteinander verknüpfen würde, sagte ich mir, unser beider Liebe zur Kunst.
»Wir sehen uns dann morgen früh«, sagte er, als wir vor dem Haus anhielten. »Morgen vormittag fangen wir an.«
»In Ordnung.«
Er hielt mich am Ellbogen fest, als ich gerade die Wagentür öffnen wollte.
»Und denk daran, was ich gesagt habe. Für den Moment sollte das alles unter uns bleiben, ja?« In seinen Augen stand eine deutliche Warnung.
Ich nickte, und als ich aus dem Jeep stieg, fühlte ich seinen unheimlichen Blick in meinem Rücken.
»Mach dir bloß keine andere Frisur«, sagte er. »So, wie es ist, ist dein Haar genau richtig.« Ich lächelte zaghaft. »Genauso habe ich sie in meiner Vision vor mir gesehen. Tschau«, sagte er und fuhr los.
Was sollte das heißen? So hatte er sie in seiner Vision gesehen? Sah er mich, wie ich bisher angenommen hatte, oder sah er eine Gestalt aus der Mythologie vor sich, einen Ausbund seiner Phantasie oder gar ein junges Mädchen aus seiner Vergangenheit, das er in seiner Erinnerung wiedererschuf? War ich im Moment etwa nicht das Wichtigste in seinem Leben? Oder konnte es sein, daß Mommy mir selbst aus dem Grab heraus noch mein Glück raubte? Ich war verwirrter denn je, als ich mich abwandte und das Haus betrat.
Onkel Jacob kam gerade die Treppe herunter, als ich zur Haustür hereinkam. Er sah aus, als hätte er gerade einen Mittagsschlaf gehalten. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht voller Falten, und seine Augen wirkten glasig. Die Schatten auf seinem unrasierten Kinn wiesen Ähnlichkeit mit blauen Flecken auf. Seine Hemdsärmel hatte er bis zu den Ellbogen hochgerollt, und an den nackten Füßen trug er fellgefütterte Pantoffeln. Er blieb auf der Treppe stehen und nahm eine steife Haltung ein, als ich zu ihm aufblickte.
»Er sollte dich etwas früher nach Hause bringen, damit du Sara dabei helfen kannst, das Abendessen zuzubereiten«, sagte er.
»Es tut mir leid. Ich werde es ihm ausrichten.«
Onkel Jacob gab ein Brummen von sich.
»Und wie läuft es bisher?« fragte er. »Ist er schon mit der Sprache rausgerückt, und hat er seine Sünden gestanden?«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Sünden.«
Er sah mich mit einem hämischen Lächeln an.
»Wann erhältst du deinen Lohn von ihm?«
»Er bezahlt mich alle zwei Wochen. Das hat er gesagt, als er hergekommen ist, um mit dir darüber zu reden«, rief ich ihm ins Gedächtnis.
»Denk daran, die Hälfte in die Haushaltskasse zu legen«, gab er zurück und setzte sich wieder in Bewegung. Er kam die Treppe herunter und ging auf das Wohnzimmer zu.
»Bist du das, Liebes?« hörte ich Tante Sara rufen. Sie stand in der Küchentür und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie wirkte sehr aufgeregt, als sie auf mich zukam.
»Hallo, Tante Sara.«
»Ich habe Neuigkeiten für dich.« Sie trat vor und fragte in lautem Flüsterton: »Hat Jacob es dir schon erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Olivia hat heute nachmittag angerufen, um dich für Samstag zum Mittagessen einzuladen. Nur dich ganz allein!« rief sie in mädchenhafter Manier aus.
»Nur mich? Warum denn das?«
»Ich weiß es nicht, mein Liebes, aber freust du dich denn nicht? Sie schickt Raymond mit dem Wagen, damit er dich um Punkt zwölf abholt. Du wirst etwas Hübsches anziehen, eines dieser leichten Sommerkleider. Vielleicht das mit dem gelben Tropfenmuster und dem weißen Kragen?«
Ich hatte mir Lauras Garderobe immer noch nicht richtig angesehen, und ich konnte mich nicht an das Kleid erinnern, aber ich nickte trotzdem, denn Tante Sara stellte es so hin, als hätte ich dieses Kleid schon öfter getragen.
»Ich gehe nur schnell rauf, um mich frischzumachen, dann komme ich runter und helfe dir, Tante Sara.«
»Laß dir ruhig Zeit«, sagte sie. »Ich habe schon alles vorbereitet, du brauchst dich also nicht zu beeilen. Ruh dich ein Weilchen aus. Schließlich arbeitest du jetzt.« Ihr Lächeln erstarrte zu einer Maske. »Laura hätte so gern gearbeitet. Das hat sie sich immer gewünscht, aber Jacob wollte nicht, daß sie in irgendeiner Form mit den Touristen in Berührung kommt. Sie hat Kenneth gemocht, und noch lieber mochte sie seine Bilder und seine Statuen. Für ihn wäre sie sicher auch gern tätig gewesen«, fügte sie hinzu und seufzte tief, ehe sie wieder in die Küche zurückkehrte.
Ich warf einen Blick ins Wohnzimmer und sah, daß Onkel Jacob in seinem Sessel saß und mich anstarrte. Auf seinem Gesicht stand ein ganz merkwürdiger Ausdruck. Er schien in weiter Ferne zu weilen, und seine Züge waren weicher, als ich sie bisher je erlebt hatte. Dann fiel ihm selbst auf, daß seine Augen auf mir ruhten, und er ließ den Blick rasch auf die Zeitung sinken, die auf seinen Knien lag. Ich lief eilig die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und sah, daß die Leiter zu Carys Unterschlupf im Dachboden heruntergelassen war. Also hielt er sich oben auf und arbeitete an seinen Schiffsmodellen. Ich hatte mein Zimmer gerade erst betreten, als May in der Tür auftauchte. Abends kam sie fast immer in mein Schlafzimmer, um mir ganz aufgeregt von den Ereignissen des Tages zu berichten.
May besuchte auch während des Sommers weiterhin ihre Taubstummenschule und hatte vor Beginn des regulären Schuljahres nur eine kurze Sommerpause von zehn Tagen. Im Sommer zog sich der Unterricht nicht bis in den späten Nachmittag hinein, doch sie hätte ihn trotzdem lieber so verbracht wie die Kinder, die eine normale Schule besuchten. Seit ich begonnen hatte, für Kenneth zu arbeiten, bettelte sie täglich, ich solle sie mitnehmen und ihr sein Atelier zeigen. Das hatte Onkel Jacob bisher mit der Begründung verboten, sie könne nicht einfach einen Schultag ausfallen lassen und ihre Zeit damit vergeuden, mir zuzusehen, wie ich für jemand anderen das Haus putzte und ihm das Mittagessen kochte. Aber da Cary jetzt zusammen mit seinem Vater auf dem Fischerboot hinausfuhr und ich den größten Teil des Tages außer Haus war, verbrachte sie mehr Zeit denn je allein. Jeden Abend, wenn Cary und ich von der Arbeit zurückkamen, lechzte sie danach, daß ihr jemand Aufmerksamkeit schenkte.
Wie üblich bewegten sich Mays Hände in einem rasenden Tempo, als sie mir, in ihrer Zeichensprache, Fragen stellte und mir von den Dingen berichtete, die sie den ganzen Tag über unternommen hatte; dann verlieh sie wieder ihrem glühenden Wunsch Ausdruck, mich zu Kenneth begleiten zu dürfen, weil sie unbedingt einmal sein Atelier sehen wollte.
Ich versprach ihr, Onkel Jacob noch einmal zu fragen, aber daran schien sie keine Hoffnungen zu knüpfen. Tatsächlich wirkte sie sogar niedergeschlagen. May war kleiner als die meisten Mädchen ihres Alters, und mir kam es so vor, als sei sie derzeit sogar noch blasser und dünner als sonst. Ich fand, sie ähnelte einer Blume, die nicht genug Regen und Sonne bekommt und unter tief hängenden dunklen Wolken verwelkt. In ihren großen braunen Augen mit den grünen Sprenkeln las man mehr Leid, als ein Kind meiner Meinung nach kennen sollte. Sie lebte in einer stummen Welt und hörte nur ihre eigenen Gedanken, sehnte sich nach einem Lächeln und fragte sich, wie Gelächter wohl klingen mochte.
Mir ging auf, daß May noch nicht einmal wußte, was es hieß, jemanden weinen zu hören. Natürlich konnte sie die Gefühlsregungen anderer aus ihren Gesichtern ablesen und somit zwischen Freude und Trauer, zwischen Zorn und Zustimmung unterscheiden, aber für jemanden wie mich, die ich eine Leidenschaft für Musik hatte, war es eine niederschmetternde Vorstellung, daß es taube Menschen gab. Das immerwährende Schweigen hätte mich wohl um den Verstand gebracht, glaubte ich, und ich fragte mich, woher May soviel Kraft schöpfte. Manchmal wirkte sich ihre Kraft nachteilig für sie aus, nämlich dann, wenn andere vergaßen, daß sie trotz allem kleine Freuden in ihrem Leben brauchte. Wie konnte Onkel Jacob ihr bloß etwas ausschlagen? Er mußte anstelle von Blut Sand in den Adern haben, und sein Herz mußte zäh wie altes Leder sein.
Ich erzählte May, was ich den ganzen Tag über getan hatte, ließ aber aus, daß Cary mir einen Besuch abgestattet hatte. Ich war sicher, sie würde außer sich sein, weil er ihr nicht angeboten hatte, sie mitzunehmen. Während ich meine Spaziergänge am Strand mit Ulysses beschrieb und ihr sogar von meinen Aufräum- und Putzarbeiten im Haus berichtete, stand May da und sah auf meine Hände, als zeichnete ich die wunderbarsten und spaßigsten Bilder für sie. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und zwischendurch nickte sie heftig und lächelte, damit ich bloß nicht aufhörte. Sie lachte laut, als ich ihr schilderte, wie Ulysses sich jedesmal unter Kenneth’ Jeep versteckte, wenn ein Gewitter am Himmel aufzog. Als sie mich nach den Gemälden und Statuen fragte, wandte ich beschämt den Blick ab, weil mir seine geheimen Bilder von Mommy wieder einfielen.
Zum ersten Mal wurde mir wirklich klar, daß Mommy hier ein ganz anderes Leben geführt hatte. Sie hatte Bekanntschaften geschlossen, die sie nie mit einem einzigen Wort erwähnt hatte; und von Jungen, mit denen sie befreundet gewesen war, hatte sie schon gar nichts erzählt. Wie hatte sie bloß geheimhalten können, daß sie in diesem wunderschönen großen Haus aufgewachsen war und am Strand gelebt hatte? Wieso war es ihr nie ein Bedürfnis, etwas über das Segeln und Schwimmen und die zahllosen Parties zu erzählen? Wie hatte sie diese Erinnerungen so tief begraben können, daß sie mir gegenüber nie etwas Positives aus ihrer Vergangenheit erwähnt hatte? War sie denn hier nur unglücklich gewesen? Gab es nichts, was sie gern noch einmal gesehen oder gehört hätte? Wie furchtbar und traumatisch mußte die Flucht aus Provincetown für sie gewesen sein, wenn sie so viele Geheimnisse für sich behalten hatte, sagte ich mir.
May klopfte mir auf die Schulter. Ich war derart in meine eigenen Gedanken versunken, daß ich sie ganz vergessen hatte. Sie stand immer noch da, und ich lächelte sie an. Dann begann ich, ihr die Vase zu beschreiben, an der Kenneth gerade arbeitete. Sie nickte, dachte einen Moment lang über etwas nach und bat mich dann, hier in meinem Zimmer auf sie zu warten, bis sie wieder zurückkäme. Sie lief eilig los, und ich trat vor den Kleiderschrank, um das Kleid herauszusuchen, von dem Tante Sara gesprochen hatte. Ich fand es ganz hinten auf einem Bügel. Sie hatte recht: Es war ein buntes, fröhliches Kleid, genau richtig für den Nachmittag. Wenige Momente später kam May mit einem Zeichenblock in der Hand zurück. Sie zögerte, ehe sie mir den Block reichte.
Ich war neugierig geworden und setzte mich auf das Bett, ehe ich das Deckblatt anhob. Auf dem Block befanden sich viele außerordentlich gute Tuschezeichnungen, darunter etliche, auf denen ich abgebildet war. Ich sah Bilder, wie ich am Strand stand, Bilder von mir in der Küche und Bilder, auf denen ich May an der Hand hielt und mit ihr über die Straße lief, die zur Stadt führte.
Ich bedeutete ihr mit den Händen, wie wunderbar ich ihre Zeichnungen fände, und daraufhin schüttelte sie den Kopf.
»Was soll das heißen?« fragte ich. Meine Neugier steigerte sich. Sie nahm mir den Block aus der Hand und blätterte die Seiten bis zum Ende durch, um mir die Innenseite des hinteren Pappkartons zu zeigen. Ich warf einen Blick darauf und spürte, wie mir das Blut in den Adern stockte.
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich in Zeichensprache. »Sind das denn nicht deine Zeichnungen?«
Sie schüttelte den Kopf, und ich sah noch einmal auf die Worte, die auf den Rückseiten der Blätter standen.
»Aber…«
Ich blätterte den Block durch und sah mir die Zeichnungen, von denen ich geglaubt hatte, sie stellten mich dar, genauer an. Wie seltsam… nahezu gespenstisch. Dieser Block hatte Laura gehört. Sie war die Künstlerin gewesen, und es waren Selbstporträts und Zeichnungen, auf denen sie selbst und May abgebildet waren.
Ich hatte Laura auf diesen Zeichnungen irrtümlich für mich selbst gehalten. Vielleicht lag es an der Art, wie Tante Sara mich behandelte und mit mir sprach, aber es konnte auch daher kommen, daß ich in Lauras Zimmer wohnte und ihre Sachen trug. In dem Moment konnte ich mich in Tante Sara hineinversetzen und verstehen, was in ihrem Innern vor sich ging, wenn sie mich mit diesem traurigen Blick ansah, der mir ganz deutlich sagte, wie sehr ich sie an Laura erinnerte.
»Zeichnest du auch?« fragte ich May. Sie schüttelte den Kopf und fragte mich, ob ich Lust hätte, Kenneth die Zeichnungen zu zeigen.
»Ja, vielleicht werde ich das tun«, antwortete ich mit den Händen, und darüber freute sie sich sehr. Ich sah mir die übrigen Bilder noch einmal an und stieß dabei auf ein Bild von Cary, das mich faszinierte. Auf dieser Zeichnung stand er am Strand und hielt die Hände ausgestreckt vor sich hin, während Sand durch seine Finger glitt. Es war, als wollte er damit sagen, daß etwas, was ihm sehr wichtig erschien, in Wirklichkeit ohne jede Bedeutung sei.
Im selben Moment hörte ich Cary, wie auf ein Stichwort hin, die Leiter herunterkommen. May sah die Richtung, in der sich meine Augen bewegten, und auch sie drehte sich erwartungsvoll zur Tür um.
»Hallo«, sagte Cary. »Wie ist der Rest des Tages verlaufen?«
»Reibungslos.«
»Und nichts…«
»Nein.«
»Was hast du denn da?« fragte er und kam zur Tür herein.
»May hat mir diese Zeichnungen gezeigt, die von Laura stammen Sie hatte sie ihr geschenkt. May möchte gern, daß ich sie Kenneth zeige.«
Er sah, daß ich das Blatt aufgeschlagen hatte, auf dem er abgebildet war.
»Diesen Block habe ich May in der Woche geschenkt, in der Laura gestorben ist«, sagte er, und seine dunklen Augen drückten Niedergeschlagenheit aus, »damit sie ein kostbares Andenken hat, aber ich wollte nicht, daß diese Bilder herumgereicht werden. Ich habe nichts dagegen, daß du sie gesehen hast, aber Laura war sehr heikel, wenn es darum ging, wem sie diese Zeichnungen zeigte. In der Schule bekam sie niemand zu sehen, nicht einmal ihr Zeichenlehrer; wenn sie gewollt hätte, daß Kenneth diese Bilder sieht, dann wäre sie ganz gewiß selbst damit zu ihm gegangen.«
»Ja, sicher. Schon gut«, sagte ich und versuchte, mein nervöses Lachen zu unterdrücken.
»Was ist daran so komisch?«
»Ich dachte, diese Zeichnungen stammten von May und sie hätte sie mir gebracht, um mir ihre eigenen Arbeiten zu zeigen«, antwortete ich, doch ich fügte nicht hinzu, daß ich im ersten Moment geglaubt hatte, ich sei diejenige, die darauf abgebildet war.
Er bedeutete May in Zeichensprache, sie solle den Block in ihrem eigenen Zimmer aufbewahren und ihn wieder ordentlich verstauen. Sie schien enttäuscht zu sein, doch sie brachte den Block in ihr Zimmer zurück.
»Hast du für eines dieser Bilder bewußt Modell gestanden?« fragte ich. Mehr als nur bloße Neugier steckte hinter meiner Frage. Ich wollte wissen, was für ein Gefühl es war, jemandem Modell zu stehen, aber er wollte anscheinend nicht darüber reden.
»Für ein paar«, gab er zu. »Ich habe großen Hunger«, fügte er dann eilig hinzu, um das Thema zu wechseln. »Ist das Abendessen schon fertig?«
»Ich glaube, ja. Hast du schon gehört, daß Großmama Olivia mich zum Essen eingeladen hat?«
»Sowie ich zur Tür hereingekommen bin. Das war das allererste, was Ma mir erzählt hat«, sagte er.
»Warum nur ich allein?«
Er zuckte die Achseln.
»Vielleicht will sie dich besser kennenlernen.«
Ich lächelte skeptisch.
»Vielleicht wird Großmama allmählich lockerer. Das liegt am Alter«, fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu.
Wir gingen alle zum Abendessen nach unten, und ich half beim Tischdecken. Während der Mahlzeit fiel mir auf, daß Onkel Jacob mich immer wieder anstarrte. Kurz bevor wir fertig waren, trank er einen Schluck Wasser und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Du willst doch nicht etwa behaupten«, sagte er, als seien wir noch mitten in unserem früheren Gespräch, »daß du nun schon seit mehr als einer Woche dort bist und er Haille bislang mit keinem Wort erwähnt hat.«
Cary sah sich schnell nach mir um.
»Er hat über sie gesprochen«, sagte ich, »aber er hat nichts von einer romantischen Liebesbeziehung gesagt.«
»Von einer romantischen Liebesbeziehung?« sagte Onkel Jacob mit einem bitteren Lachen. Er schüttelte den Kopf. »Eine romantische Liebesbeziehung hat für Haille bedeutet, daß sie sich mit jemandem hinter ein Bootshaus schlich.«
»Aber, Jacob!« sagte Tante Sara. »Du solltest dich dafür schämen, daß du so von einer Toten sprichst, und dazu noch in Anwesenheit von jungen Leuten.«
»Ich bin sicher, daß sie schon Schlimmeres gehört haben«, sagte er und sah erst mich und dann Tante Sara an. »Ich sage ja nur, wie es war.«
»Für solche Gespräche gibt es die richtige Zeit und den richtigen Ort, und du weißt ganz genau, daß es nicht der Eßtisch ist, Jacob Logan«, sagte sie.
Dieser Verweis ließ ihn ein wenig erröten. Die Spannung hing so massiv im Raum, daß man hätte meinen können, wir säßen in einem Zimmer voller Spinnweben. Dennoch glaubte ich, den unterschwelligen Zweck all dieser Fragen zu durchschauen, die sich um Kenneth und mich drehten. »Es tut mir leid, daß ich dir zur Last falle, Onkel Jacob«, sagte ich. »Ich weiß, daß es dir lieb wäre, wenn Kenneth Childs oder sonst jemand sich dazu bekennen würde, mein Vater zu sein, damit derjenige dann für mich sorgen muß«, sagte ich mit fester Stimme.
»Ich behaupte nicht, das wäre der einzige Grund, aber es würde sich doch gehören, oder etwa nicht?« Er sah Tante Sara über den Tisch hinweg an. »In der Bibel steht, daß wir unsere Kinder dulden müssen. Aber damit sind unsere eigenen Kinder gemeint, Sara.«
»Sie ist unser eigenes Kind«, erwiderte Tante Sara. »Gott hat sie uns zu einem ganz bestimmten Zweck hergeschickt, Jacob«, sagte sie so nachdrücklich, wie ich es seit meinem Einzug in diesem Haus noch nie erlebt hatte. Sie sah aus, als wäre sie bereit, ihm eine Schüssel ins Gesicht zu werfen, wenn er ihr auch nur mit einer einzigen Silbe widerspräche.
Doch Onkel Jacob stieß lediglich einen brummelnden Laut aus und murmelte sinngemäß, er sei mit dem Essen fertig. Dann stand er vom Tisch auf.
Ich half beim Abdecken, und während ich das Geschirr und das Besteck spülte, sagte Tante Sara zu mir, ich solle nicht auf Onkel Jacob hören.
»Was er heute sagt, bereut er morgen«, sagte sie zu mir. »Er ist schon immer so gewesen. Dieser Mann erstickt an seinen eigenen bitteren Worten wie kein zweiter. Es ist ein Wunder, daß er nicht den ganzen Tag lang mit Bauchschmerzen umherläuft.«
»Man kann ihm im Grunde keinen Vorwurf daraus machen, Tante Sara. Leute sollten nicht einfach Kinder kriegen und es dann anderen überlassen, für sie zu sorgen. Du bist mir zwar eine bessere Mutter gewesen, als meine eigene Mutter es jemals war, aber das ändert noch lange nichts daran, daß sie mich nicht einfach bei euch hätte abladen dürfen«, fügte ich hinzu. Tränen traten in Tante Saras Augen. Sie drehte sich zu mir um und drückte mich an sich.
»Du armes Kind. Du wirst dir nie mehr sagen, daß sie dich bei uns ›abgeladen‹ hat, verstanden? Du fällst uns keinesfalls zur Last. Und wag es bloß nicht, dich als Waisenkind zu betrachten, Melody. Jedenfalls nicht, ehe ich meinen letzten Atemzug getan habe, hörst du? Wir haben beide Löcher in unseren Herzen, die wir füreinander stopfen«, sagte sie und gab mir einen Kuß auf die Stirn. Ich drückte sie ebenfalls an mich und bedankte mich bei ihr, ehe ich nach oben ging. Sowie ich den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, streckte Cary den Kopf durch die Dachbodenluke.
»Möchtest du dir das Modell ansehen, das ich gerade fertiggestellt habe, Melody?« fragte er.
»Ich habe May versprochen, Monopoly mit ihr zu spielen.«
»Dann tu das«, sagte er. Ich warf einen Blick auf Mays Tür und sprang dann eilig die Leiter zum Dachboden hinauf.
Der ganze Dachboden war kaum größer als mein Zimmer. Das größte Möbelstück war der Tisch, an dem Cary mit unendlicher Pedanterie an seinen Schiffsmodellen arbeitete. Über dem Tisch waren Regale angebracht, auf denen sich die Modelle befanden, die er im Laufe der Jahre gebastelt hatte. Außerdem standen dort oben ein schmales Sofa, ein paar Kisten und Truhen herum.
Cary hatte sich intensiv mit den historischen Modellen auseinandergesetzt, die er gebastelt hatte, und daher wußte er eine ganze Menge über Schiffe. Es waren ägyptische, griechische und römische Schiffsmodelle, und sogar chinesische Dschunken gehörten dazu. Er hatte Klipper und Schlachtschiffe, Dampfer und Tankschiffe, aber auch Luxusliner, darunter eine Nachbildung der Titanic. Sein neuestes Modell war ein mit Atomwaffen bestücktes Unterseeboot.
»Sieh mal«, sagte er und zog mich näher an den Tisch heran. So behutsam wie ein Chirurg entfernte er mit einer Pinzette eine Seitenwand des U-Boots und zeigte mir das Innere. Es war unglaublich, wie minuziös alles ausgebaut war, bis hin zu winzigen Glühbirnen.
»Es ist einfach umwerfend, Cary. Ich wünschte, du würdest deine Sachen mehr Leuten zeigen.«
»Ich tue das nicht für andere Leute. Ich tue es ausschließlich für mich selbst«, sagte er mit scharfer Stimme. »Es ist fast so, wie… wie Kenneth diese Porträts von deiner Mutter gemalt hat.«
Das Lächeln wich von meinem Gesicht, und ich dachte wieder daran, daß Kenneth mir angetragen hatte, für ihn Modell zu stehen. Ich fragte mich, ob ich mich Cary anvertrauen konnte oder ob er sich über diesen Vorschlag derart aufregen würde, daß er alles unternommen hätte, um mich davon abzubringen. In meiner Vorstellung sah ich in diesem ganzen Projekt immer noch den Weg, den Kenneth gewählt hatte, um mir seine Geheimnisse zu offenbaren und mir – vielleicht – ein neues Zuhause zu geben. Ich war noch nicht bereit, all das aufs Spiel zu setzen. Meine Besorgnis, daß ich in die Fußstapfen meiner Mutter treten und wie ein Playboy-Modell für ihn posieren würde, verdrängte ich in den hintersten Winkel.
»Ein echter Künstler wie Kenneth sieht Menschen nicht so wie andere«, brachte ich heraus, doch bei diesen Worten wandte ich mich ab und schaute aus dem kleinen Fenster auf den fernen Ozean hinaus. Der Mondschein spiegelte sich auf der silbrigen Wasseroberfläche.
»Wie meinst du das?« bohrte Cary.
»Er sieht die Schönheit, er sieht den tieferen Sinn.«
»Das ist Geschwätz. Ein Mann sieht nur eines, wenn er eine nackte Frau betrachtet.«
»Das ist nicht wahr!« fauchte ich. »Sieht ein Arzt etwa nur eines, wenn er eine Patientin anschaut?«
»Nein, vermutlich nicht«, gab er zu.
»Es hängt doch alles nur davon ab, weshalb ein Mann eine Frau ansieht, oder etwa nicht?« fragte ich mit scharfer Stimme und wußte selbst nicht, wen ich hier eigentlich überzeugen wollte, Cary oder mich selbst.
Cary schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, Melody. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß du nackt vor mir stehst und ich an etwas anderes als an dich denke. Meine Hand würde derart zittern, daß der Pinsel das ganze Blatt verschmieren würde«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. Dabei sah er mich so an, daß ich von Kopf bis Fuß errötete. Ich kam mir vor, als stünde ich tatsächlich unbekleidet vor ihm.
»Das liegt nur daran, daß du kein Künstler bist«, beharrte ich. »Künstler haben sich viel mehr in der Hand.«
»Das kann gut sein«, sagte er. Dann lachte er. »Ich glaube nicht, daß ich unter diesen Umständen gern ein Künstler wäre.«
Ich stampfte ärgerlich mit einem Fuß auf den Boden.
»Du bist genauso wie alle anderen Jungen auch, Cary.«
Ich ging auf die Tür zu, doch er streckte die Hände nach mir aus und umfaßte mein Handgelenk.
»He, he. Halt mal die Luft an! Ich ziehe dich doch nur ein wenig auf. Ich dachte, du wärest der Meinung, daß wir in diesem Haushalt alle viel zu ernst sind. Hast du das nicht gerade erst kürzlich gesagt?«
Ich zögerte.
»Nun ja, das habe ich gesagt, und ich sage es auch jetzt noch.«
»Und?«
»Das heißt noch lange nicht, daß du mich derart aufziehen darfst«, sagte ich. »Mach bloß keine Witze, wenn es um Kenneth geht! Schließlich mußt du besser wissen als jeder andere, wie heikel ich in diesem Punkt bin.«
»In Ordnung.« Er ließ mein Handgelenk los und hob die Hände. »Ich verspreche es dir.«
Ich entspannte mich wieder.
»Jetzt sollte ich besser zu May hinuntergehen.«
»Okay. Aber du hast mir noch gar nichts erzählt. Was ist passiert, als er zurückgekommen ist?«
»Er war vollkommen aufgedreht«, sagte ich. »Er hatte kurz zuvor eine Idee für seinen Marmorblock.«
»Du meinst, er hat endlich die Form im Stein gesehen?«
»Ja.«
»Und wie sieht sie aus?«
»Er nennt sie Neptuns Tochter. Morgen werde ich mehr darüber wissen, und übermorgen erst recht. Er wird als erstes eine Zeichnung davon anfertigen.«
»Künstler sind wirklich etwas Seltsames«, sagte Cary kopfschüttelnd.
»Du solltest besser aufhören, solche Dinge zu sagen, Cary. Auch du bist ein Künstler. Alles, was du hier tust, ist kreativ«, sagte ich und beschrieb mit einer Handbewegung die Regale voller Schiffsmodelle.
»Ich tue das doch nur, damit die Zeit vergeht, aber ich kann mir gut vorstellen, daß es auch das ist, was ich eines Tages wirklich gern täte – Schiffe bauen. Ich möchte gern Segelboote für Leute bauen. Weißt du, das täte ich lieber als alles andere«, gestand er.
»Hast du getan, was ich dir empfohlen habe? Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?«
»Ja.« Er ließ den Blick sinken und wandte sich ab.
»Er hält natürlich nicht das geringste davon«, schloß ich, »aber hat er wenigstens begriffen, wie wichtig es dir ist?«
»In unserer Familie sind wir schon immer Fischer gewesen. Er hat diesen geradezu religiösen Glauben an die Tradition.«
»Das, was du tun willst, hat doch immer noch etwas mit dem Meer zu tun, oder etwa nicht?«
»Für ihn ist das nicht dasselbe«, sagte Cary.
»Das ist aber nicht gerecht. Schließlich ist es nicht sein Leben, sondern deines. Du mußt genau das machen, was du wirklich willst«, bestätigte ich ihn.
Cary nickte, begleitete sein Nicken jedoch mit einem Lächeln.
»Klar. Da ist nur noch eine Kleinigkeit: Man benötigt dafür Geld.«
»Nun, ich werde eines Tages eine ganze Menge Geld bekommen. Du weißt ja, was Großmama Olivia mir über mein Erbe erzählt hat. Und wenn ich das erst einmal habe, dann gebe ich dir alles, was du brauchst, damit du dich auf eigene Füße stellen kannst.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja«, sagte ich mit fester Stimme. »Onkel Jacob wird mich dafür noch mehr hassen, falls das überhaupt möglich ist, aber das ist mir gleich«, fügte ich hinzu. Cary strahlte über das ganze Gesicht.
»Für jemanden, der es sein ganzes Leben lang so schwer gehabt hat, bist du der großzügigste und reizendste Mensch, der mir je begegnet ist«, sagte Cary und stand von seinem Schreibtischstuhl auf. Sein Zimmer war so klein, daß uns nur wenige Zentimeter voneinander trennten. Er nahm meine Hände in seine.
»Ich bin wirklich froh darüber, daß du nicht die Tochter von meinem Onkel Chester bist, Melody. Ich bin froh, daß du nur eine entfernt verwandte Cousine bist. Niemand kann mich dafür verdammen, daß ich mehr für dich empfinde«, gestand er. Ihm war deutlich anzumerken, daß es ihn seinen gesamten Mut kostete, aber diese Worte hingen schon seit Monaten zwischen uns in der Luft. Ich war mir im klaren darüber, daß es ungern gesehen wurde, wenn man Gefühle für seinen Cousin hegte, aber weder Cary noch ich konnten unsere Empfindungen verbergen.
Ich sagte nichts. Wir blickten uns unverwandt an. Langsam, fast so langsam wie die Umdrehungen der Erde, bewegten sich unsere Lippen aufeinander zu, bis sie sich streiften und dann ganz behutsam aufeinanderschmiegten. Seine linke Hand glitt auf meine Schulter, und seine rechte Hand legte sich um meine Taille. Meine Hände hingen schlaff hinunter.
Die kleinen Glutwellen, die meinen Körper durchzuckten, erstaunten und erschreckten mich. Cary löste seine Lippen von meinen und küßte mich auf die Wange, während seine rechte Hand sich an meiner Seite hinauftastete und meine Rippen berührte. Ich hob schnell die Hand und fing seine Finger ab, ehe sie meine Brust berühren konnten. Wir standen da und sahen einander in die Augen, und keiner von uns sagte ein Wort, denn wir hatten beide das Gefühl, wir hätten die Tür zu einem geheimen Raum geöffnet. Das war der Augenblick, in dem wir entscheiden würden, ob wir noch weitergingen oder ob wir die Tür, die sich zwischen uns aufgetan hatte, leise wieder schlossen.
»Ich kann nichts dafür«, gestand er schlichtweg ein. Hätte ich jetzt dasselbe sagen sollen, oder mußte ich etwa die Verantwortung dafür auf mich nehmen, daß ich etwas beendete, wovon wir beide wußten, daß es die ohnehin schon instabilen Familienverhältnisse in noch größere Schwierigkeiten stürzen würde? Wenn ich jetzt zuließ, daß seine Hände über mich glitten, würde ich ihn in diesen Raum hineinziehen. Ich wünschte es mir, aber ich hätte mich auch gern in der Sicherheit gewiegt, daß ich nichts Böses tat. Mein Herz pochte so heftig, daß ich glaubte, mir würde der Atem stocken. Ich hatte die Süße seiner Lippen gekostet, und die Wärme, die über meinen Rücken und durch meinen Körper rann, flößte mir die köstlichsten Gefühle ein.
Der Mondschein, der sich auf dem Meer widerspiegelte, tauchte die Welt vor dem kleinen Fenster in ein helles Licht. Es war, als sei eine riesige Kerze auf einer Geburtstagstorte entzündet worden, um die Geburt unserer Liebe zu feiern, falls es sich tatsächlich um Liebe handeln sollte. Was hatte es bloß mit diesem ganz besonderen »Ja« auf sich, das auf die Wogen der Erregung des eigenen Körpers folgte? Wie konnte man wissen, daß der eine prickelnde Kuß ein besserer Kuß als alle anderen war? Wo blieben der Klang der Glocken und Trompeten und die Stimmen der Engel, die ertönen sollten, wenn die wahre Liebe sich zeigte?
Diese Gedanken zuckten mir mit Lichtgeschwindigkeit durch den Kopf. In der Zwischenzeit schöpfte Cary immer mehr Mut. Seine Küsse wurden drängender, und seine andere Hand tastete sich höher hinauf, um meine Schulter zu liebkosen. Ich spürte, wie mein Widerstand schmolz, als ich seine Küsse erwiderte und sich mein Körper immer enger an seinen schmiegte. Er begann, mich sanft zu dem Sofa zu ziehen. Was würde jetzt passieren? Was würden wir miteinander anfangen?
In dem Moment, in dem wir das Sofa erreicht hatten und uns gerade darauf niederlassen wollten, hörten wir May, die vom Fuß der Leiter Ruflaute ausstieß.
Carys maßlose Enttäuschung entlockte ihm ein Stöhnen, und sein Körper nahm eine steife Haltung ein.
May rief wieder meinen Namen. Sie war auf der Suche nach mir in mein Zimmer gekommen, dort hatte sie feststellen müssen, daß ich nach oben gegangen war. Wir hörten, wie sie die ersten Stufen der Leiter hinaufstieg. Eilig lösten wir uns voneinander, und ich strich mir das Haar glatt. Die Röte ließ sich unmöglich aus meinem Gesicht verbannen, aber ich war ganz sicher, daß May sich nichts dabei denken würde. Sie streckte den Kopf zu der Dachbodenluke herein.
Cary bedeutete ihr schnell, daß er ärgerlich war. Sie wirkte verwirrt und verletzt.
»Bitte nicht, Cary. Ich hatte ihr versprochen, mit ihr zu spielen.«
Er wandte sich ab und holte tief Luft. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er sah mich an.
»Sie verbringt den größten Teil des Tages ganz allein und ist in einer lautlosen Welt eingesperrt. Im Moment sind wir alles, was sie hat«, sagte ich.
Er nickte und wirkte dabei beschämt. Dann schüttelte er den Kopf und sah mir in die Augen.
»Du bist genauso wie Laura. Du holst aus uns allen unser Bestes heraus«, sagte er.
Ich wußte, daß er mir damit ein großes Kompliment machen wollte, trotzdem ließ es mich kalt. Wann würde er endlich aufhören, mich mit seiner toten Zwillingsschwester zu vergleichen? Hatte er ihr etwa dieselben Gefühle entgegengebracht? Sah eigentlich jeder hier einen Menschen in mir, der ich gar nicht war? Sollte das mein zukünftiges Los sein? Kenneth sah eine mythische Gottheit in mir, Tante Sara ihre verlorene Tochter, und sogar May mußte eine Ähnlichkeit zwischen mir und Laura festgestellt haben, da sie mir kurz zuvor diese Zeichnungen vorgelegt hatte. Vielleicht würde ich es niemals schaffen, ich selbst zu sein, solange ich nicht herausfand, wer mein Vater war. Vielleicht mußten alle erst wissen, woher ich gekommen war und wohin ich in Wirklichkeit gehörte.
Dieses ganze verworrene Knäuel von Lügen, an dessen losen Fäden ich zog, mußte mich unweigerlich der Wahrheit näherführen.
Statt laut hinauszuschreien, daß ich nicht wie Laura sein wollte, verschloß ich meine Seelenqual in meinem Herzen und machte May in Zeichensprache klar, daß ich ihr die Leiter hinunterfolgen würde. Als ich die unterste Sprosse erreicht hatte und zu Cary aufblickte, sah ich, daß er auf mich herabschaute. Die letzten Spuren der Enttäuschung, die noch in seinen Augen standen, ließen ihn so fern und unzugänglich wirken, wie die Liebe einem Menschen erscheint, der immer noch auf der Suche nach seinem eigenen Namen ist.
Als Kenneth am nächsten Morgen kam, um mich abzuholen, hatte sich seine Aufregung über seine neueste künstlerische Vision kein bißchen gelegt. Sogar Ulysses schien von dem Stimmungswandel seines Herrchens und von dessen verändertem Verhalten angesteckt zu sein. Er war lebhafter und wedelte so heftig mit dem Schwanz, daß es an einen Scheibenwischer bei starkem Regen erinnerte, und sowie ich in der Tür erschien, bellte er. Ich lachte und lief eilig auf den Jeep zu. Kaum hatte ich die Wagentür geschlossen, als Kenneth auch schon einen Gang einlegte und sich schleunigst auf den Rückweg zu seinem Atelier machte.
»Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen«, sagte er. Er wirkte jedoch weder übermüdet noch schläfrig. »Ich bin während der Nacht zweimal aufgestanden und ins Atelier gegangen, um den Marmorblock anzusehen. Diese Statue will ihn einfach sprengen, sich explosionsartig daraus befreien. Ein Künstler setzt buchstäblich die Kunst frei. Er übergibt sie der ganzen Welt. Ignoranz und Blindheit der Menschen fesseln die Kunst und verbannen sie ins Dunkel. Der Künstler kommt wie jemand, der in der Nacht eine Kerze trägt und die Finsternis erhellt.«
Er hielt inne und sah mich an.
»Du glaubst wahrscheinlich, daß ich Unsinn rede, was?«
»Nein«, sagte ich eilig. Ich fürchtete tatsächlich, sein Redefluß könnte abreißen. Die Begeisterung in seiner Stimme steckte mich an.
Einen Moment lang schwieg er. Dann nickte er.
»Vielleicht kannst du es doch verstehen.«
»War meine Mutter eigentlich künstlerisch begabt?« fragte ich.
Er lächelte mich an.
»Vielleicht war sie es auf ihre ganz eigene Art. Haille hat die schönen Dinge im Leben immer geschätzt. Ich habe sie früher oft damit aufgezogen und zu ihr gesagt, Schönheit sei etwas rein Äußerliches, das nicht unter die Haut geht, und daraufhin hat sie erwidert: ›Wer will schon tiefer gehen?‹« Er lachte. »Vielleicht hat sie recht gehabt.« Er bog auf die Strandpiste ein.
»Hast du viel Zeit mit ihr verbracht?«
»Nicht allzuviel«, erwiderte er. Dann runzelte er die Stirn, als hätte er erkannt, daß er mir gerade Dinge erzählte, die weitere Fragen nach sich ziehen könnten. »Hättest du was dagegen, auch am Samstag zu arbeiten?«
»Diesen Samstag kann ich nicht. Großmama Olivia hat mich zum Mittagessen eingeladen.«
»So?« Er schüttelte den Kopf. »Und eine Einladung von Olivia Logan lehnt niemand ab«, fügte er hinzu.
»Weshalb sollte ich ihre Einladung ablehnen?«
»Du solltest es nicht tun, wenn du wirklich Lust hast, hinzugehen. Na, dann vielleicht am Samstag darauf. Wie jede andere Angestellte bekommst du natürlich das Eineinhalbfache deines Stundenlohns dafür, daß du am Wochenende arbeitest«, sagte er, als wir vor seinem Haus anhielten.
»Falls ich mich dazu entschließe, dann komme ich nicht des Geldes wegen«, sagte ich mit fester Stimme. Ich spürte, wie meine Augenlider sich zu zornigen Schlitzen zusammenkniffen, und auch er bemerkte es. Das entlockte ihm ein Lächeln.
»Du bist deiner Mutter ähnlicher, als dir bewußt ist«, sagte er.
»Wie kommt es, daß du soviel über sie weißt, wenn du nur hin und wieder eine kurze Zeit mit ihr verbracht hast?« gab ich zurück.
»Es geht nicht darum, wie lange man jemanden kennt, sondern viel eher darum, wie wichtig diese Zeit war«, erwiderte er. »Komm schon, laß uns endlich anfangen.«
Er streckte eine Hand über die Rückenlehne, um die Lebensmittel zu packen, die er fast täglich einkaufte, ehe er mich abholte, und ich folgte ihm ins Haus. In der Küche stand noch das Frühstücksgeschirr herum, aber er wollte, daß wir gleich mit unserem Projekt anfingen. Nachdem er die Lebensmittel verstaut hatte, begaben wir uns direkt in sein Atelier, und dort war dem Marmorblock gegenüber bereits eine Staffelei aufgebaut, auf der ein großer Zeichenblock stand.
»Heute morgen würde ich gern eine Zeitlang mit den Umrissen herumexperimentieren«, sagte er, »eine Art Versuch mit Formen, Umrissen und Proportionen. Du brauchst nichts weiter zu tun, als möglichst ruhig dazustehen«, fügte er hinzu und deutete auf den Marmor.
»Ich soll einfach nur dastehen?«
»Ja. Ich werde dir später weitere Anweisungen erteilen.« Ulysses ließ sich zu Kenneth’ Füßen sinken, und ich bezog meinen Posten vor dem Marmorblock. Ich kam mir etwas albern dabei vor, ihn einfach anzuschauen, während er mich gebannt beobachtete. Sein starrer Blick löste Hemmungen bei mir aus, und dabei hatten wir gerade erst angefangen. Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere und wartete.
»Schau nach links. Gut so. Und jetzt reck dein Kinn ein klein wenig höher. Noch etwas mehr. Ja, gut. Nein, verschränk die Arme nicht. Versuche, sie einfach runterhängen zu lassen und eine Zeitlang so stehenzubleiben. In Ordnung«, sagte er und ließ seinen Bleistift flink über das Blatt gleiten. Es dauerte nicht lange, bis mein Nacken steif wurde.
»Du bist nicht entspannt«, sagte Kenneth. »Wenn du dich nicht entspannst, wirst du schneller ermüden und öfter Pausen brauchen. Aber mach dir deshalb keine Sorgen«, fügte er eilig hinzu. »Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen und lockerer werden.«
»Arbeitest du oft mit Modellen?« fragte ich. Eine ganze Weile erwiderte er nichts darauf.
»Nur sehr selten«, sagte er schließlich. »Wenn ich ein Gesicht oder eine Gestalt brauche, mache ich mir gewöhnlich im Geist ein Bild davon und präge es mir gut ein.«
»Warum kannst du das dann jetzt nicht auch tun?«
»Das hier ist etwas ganz anderes. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, und wie ich dir schon sagte«, bemerkte er ohne den geringsten Anflug von Ungeduld, »erfordert diese Arbeit ein Gefühl für Wandlung, Bewegung und Veränderung. Ich tue mein Bestes, um eine Metamorphose einzufangen.«
»Hast du so etwas vorher schon einmal getan?«
»Hör auf, mir Fragen zu stellen«, sagte er. »Das lenkt mich ab.«
Ich kniff die Lippen zusammen und schloß die Augen.
»Mach die Augen wieder auf«, sagte er augenblicklich. Ich riß sie etwas weiter auf als sonst, und er stöhnte ärgerlich auf. »Entspann dich. Ich bitte dich, versuch dich zu entspannen.«
»So einfach ist das gar nicht«, klagte ich. »Jetzt weiß ich endlich, warum man Leuten einen Haufen Geld dafür bezahlt, daß sie so etwas tun.«
Er lachte. »Wer hat denn das behauptet?«
»Ist es etwa nicht so?«
»Du willst mich zum Reden verleiten, Melody. Jedesmal, wenn ich eine deiner Fragen beantworte, läßt du sogleich die nächste folgen; das raubt mir die Konzentration. Ein Künstler muß ganz und gar in seiner Arbeit aufgehen und darf sein Gegenüber nicht mehr als Menschen ansehen. Diese Person darf nur noch Gegenstand seiner Kunst sein, und dazu ist eine enorme innere Sammlung erforderlich.«
Ich dachte an Mommy auf seinen Gemälden und fragte mich, ob es ihr damals genauso ergangen war oder ob Cary recht hatte. Hatte Kenneth sie damals nicht als sein Modell gesehen, sondern als eine Frau, die er begehrte? Falls Cary recht haben sollte, was hieß das dann, wenn Kenneth mich jetzt so ansah?
Kenneth sagte, ich sollte mich ihm mehr zuwenden, und eine Zeitlang betrachtete er mich. Dann forderte er mich auf, mehr nach rechts zu schauen. Er blätterte in seinem Block, arbeitete konzentriert und schlug dann weitere Seiten des Zeichenblocks auf. Irgendwann warf er den Bleistift auf die Ablage der Staffelei und trat einen Schritt zurück.
»Hier stimmt etwas nicht«, sagte er.
»Mache ich etwas falsch?«
»Nein, es liegt nicht an dir. Es liegt an mir.« Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Ich gehe jetzt runter ans Meer. Du kannst im Haus arbeiten, bis ich zurückkomme«, sagte er und verließ mit raschen Schritten sein Atelier.
Ich lief ins Haus und räumte in der Küche auf. Kenneth war immer noch nicht da, als ich damit fertig war, daher ging ich in sein Schlafzimmer. Sein Bett erweckte den Eindruck, als hätte er mit jemandem einen Ringkampf darin ausgetragen. Die Decke war zerknäult, und das Laken war von der Matratze gezogen und lag halb auf dem Fußboden. Überall waren Kleider verstreut, als hätte er sie gegen die Wände geworfen. Ich hob alles auf und entschied, was gewaschen und gebügelt werden mußte und wo ein bloßes Zusammenfalten reichte. Als ich eine zweite Socke für ein vollständiges Paar einfach nicht finden konnte, ließ ich mich auf Hände und Knie nieder und suchte unter dem Bett danach. Dabei fiel meine Aufmerksamkeit auf etwas, das wie eine Fotografie aussah. Ich wußte ganz genau, daß dieses Bild in der vergangenen Woche noch nicht dagewesen war, als ich hier aufgeräumt hatte. Das hieß, daß Kenneth sie erst kürzlich dort hatte fallen lassen.
Ich streckte den Arm weit aus, bis ich das Foto erreichen konnte, dann zog ich es unter dem Bett hervor. Es war ein Foto von Mommy und mir, ich war darauf höchstens zwei oder drei Jahre. Es war vor unserem Wohnwagen in Sewell aufgenommen worden und derart ausgeblichen, daß das Schwarzweiß sich bräunlich verfärbt hatte. Ich sah auf die Rückseite, und auch die Schrift war nahezu unleserlich geworden, aber ich konnte die meisten Worte noch erkennen und mir den Rest zusammenreimen.
Ich dachte mir, dieses Bild hättest du vielleicht gern. Sie heißt Melody. Entschuldige bitte.
Entschuldige bitte? Wofür entschuldigte sie sich? Es konnte ihr gewiß nicht leid tun, daß sie mich Melody genannt hatte. Sollte ich Kenneth auf dieses Bild hin ansprechen?
Ich stand auf und preßte das Foto an mein Herz. Dann trat ich ans Fenster und schaute auf den Strand hinaus. Ich konnte Kenneth nur mit Mühe sehen, da er am Fuß einer Sanddüne saß und auf die Wellen blickte.
Ich warte jetzt schon lange genug auf Antworten, sagte ich mir. Ich will endlich die Wahrheit wissen. Mit der Fotografie in den Händen lief ich entschlossen aus dem Haus und auf Kenneth zu. Ulysses saß neben ihm, und sobald ich auftauchte, begann er, mit dem Schwanz zu wedeln. Kenneth drehte sich nicht um und rührte sich auch nicht von der Stelle. Er erweckte den Eindruck, als sei er versteinert.
»Kann ich mit dir reden?« fragte ich.
»Hat das wirklich keine Zeit?« erwiderte er.
»Nein«, sagte ich fest. Seine Schultern sackten ein wenig hinunter, und er wandte sich zu mir um.
»Was ist denn schon wieder so wichtig?« stöhnte er. »Ich will einfach nicht, daß ich ständig aus meiner Konzentration herausgerissen werde. Diese ganze Sache ist ein fortlaufender Prozeß. Die Entwicklung mag zwar nur stufenweise vorangehen, aber die kreative Phase muß unbehindert bleiben und ohne Stocken voranschreiten. Ich dachte, das hättest du begriffen.«
»Es gibt hier eine ganze Reihe von Dingen, die ich nicht begreife«, sagte ich mit scharfer Stimme. Er zog die Augenbrauen hoch. Ich streckte ihm das Foto hin. »Das habe ich eben gefunden, als ich dein Schlafzimmer aufräumte. Es lag unter dem Bett. Als ich vor ein paar Tagen dort geputzt habe, war es noch nicht da.«
Er sah das Bild an und nahm es mir dann aus der Hand.
»Ich habe mich schon gefragt, wo dieses Foto abgeblieben ist«, sagte er. »Ich habe es mir gestern abend erst angesehen.«
»Warum besitzt du dieses Foto, und was hat es zu bedeuten?« fragte ich.
»Was es zu bedeuten hat? Das kannst du doch selbst sehen. Es ist ein Foto von Haille und dir. Sie hat es mir vor Jahren geschickt.«
»Warum?«
»Warum? Das habe ich dir doch gesagt. Wir waren früher einmal miteinander befreundet.«
»Nichts weiter als befreundet?«
»Wir waren gut miteinander befreundet«, sagte er.
»Wofür entschuldigt sie sich?«
Er schüttelte den Kopf.
»Du kennst den größten Teil der Geschichte ohnehin. Sie war schwanger und ist daraufhin mit Chester durchgebrannt. Vermutlich hat sie geglaubt, ich sei enttäuscht von ihr, und deshalb entschuldigte sie sich bei mir. Was ist daran so geheimnisvoll?«
»Warst du enttäuscht von ihr?«
»Ja«, sagte er und sah das Foto an. »Ich hatte größere Hoffnungen in sie gesetzt. Es wunderte mich nicht, daß sie mit der Zeit Probleme mit Olivia und Samuel bekam.« Tränen brannten unter meinen Lidern, aber ich kniff die Lippen zusammen. Er steckte das Bild in seine Hosentasche und wandte sich erneut dem Meer zu.
»Warum sollten wir all die schmerzlichen Dinge aus der Vergangenheit wieder aufleben lassen?« murmelte er.
»Genau das sagt Großmama Olivia auch immer«, gab ich schroff zurück.
»In dem Fall hat sie ausnahmsweise einmal recht. Die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen. Wir können heute nichts mehr ändern, und das einzige, was passierte, wäre, daß noch mehr Leute unglücklich würden.«
»Ich habe allerdings ein echtes Problem: Ich weiß nicht, wer mein richtiger Vater ist«, sagte ich. Er blieb stumm. »Weißt du es?«
»Sieh mal«, sagte er, »für dich kann dieses Thema nicht erfreulich sein. Ich bin nicht der Meinung, daß ich dir dazu etwas sagen sollte. Wenn du Antworten auf diese Frage haben willst, dann erkundige dich bei deinen Verwandten. Ich habe deine Mutter früher einmal gekannt. Sie war eine wunderschöne junge Frau. Eine Zeitlang haben wir eine gute Beziehung zueinander gehabt; dann sind uns ihre Vorstellungen von dem Leben, das sie führen wollte, dazwischengekommen, und unsere Wege haben sich getrennt. Ich verurteile sie nicht dafür. Ich werfe ihr nichts vor, und ich schaue nicht auf sie herab.«
»Du beantwortest meine Frage nicht«, verfolgte ich das Thema weiter.
»Ich kenne die Antwort nicht«, fauchte er. »Es waren Gerüchte im Umlauf, eine Menge häßlicher Gerüchte, und dann hörte ich, daß sie zusammen mit Chester durchgebrannt sei.«
Die Tränen strömten jetzt ungehindert über meine Wangen. Ich wandte mich von ihm ab.
»Du weißt viel mehr, als du mir erzählst«, rief ich und stapfte die Sanddüne zum Strand hinunter. Ich verschränkte die Arme und lief weiter, gerade soweit vom Wasser entfernt, daß die Wellen mich nicht umspülen konnten. Wenige Momente später spürte ich seine Hand auf meiner Schulter.
»Warum willst du, daß ich dir unerfreuliche Geschichten erzähle?« fragte er, als ich mich zu ihm umdrehte.
»Ich bin alt genug, um nicht nur die schönen Seiten der Dinge zu hören, sondern auch die unangenehmen, Kenneth«, sagte ich voller Entschlossenheit. Er nickte.
»Also, gut. Du willst auch das Unerfreuliche hören? Nichts einfacher als das. Deine Mutter wechselte ihre Partner ziemlich häufig. Sie hat viel herumgevögelt. Sie hat es wirklich wild getrieben. Hier brauchte nur irgendein Typ auf einem Motorrad durchzubrausen, und wenige Minuten später saß deine Mutter hinter ihm und raste mit ihm über den Highway zum Cape, um es dort am Strand auf einer Decke mit ihm zu treiben. Sie hat ihren Ruf nur deshalb ruiniert, weil sie dem guten Namen der Logans Schande machen wollte, oder zumindest glaube ich das. Aus dem einen oder anderen Grund war sie wütend auf alle Familienangehörigen.
Sie hat mich oft besucht und sich mir anvertraut, und ich habe ihr nach bestem Wissen Ratschläge erteilt. Manchmal bildete ich mir ein, sie hätte meine Ratschläge befolgt, und dann war ich enttäuscht von ihr. Ich will gar nicht mehr daran denken, wie oft! Dann war ich wütend auf sie und habe ihr gesagt, daß sie mich in Ruhe lassen soll. Sie hat mich schier um den Verstand gebracht. Dann kam sie in Schwierigkeiten und hatte diese gräßliche Auseinandersetzung mit Olivia und Samuel, und danach ist sie mit Chester ausgerissen, der ganz furchtbar verliebt in sie war.
Sie hatte ihn um den kleinen Finger gewickelt und konnte ihn dazu bringen, alles für sie zu tun, was sie nur irgend wollte. Er hat sie unzählige Male aus üblen Situationen gerettet. Er hat sie aufgelesen, wenn sie sturztrunken, bekifft oder nach einer durchgemachten Nacht völlig daneben war. Er hat ihr alles verziehen, solange sie ihm bloß gestattete, mit ihr zu reden. Und deshalb ist sie dann mit ihm ausgerissen. Du hast mir gesagt, du wüßtest, was hinterher passiert ist. Und du weißt auch, wie dein Onkel Jacob zu alledem steht, und auch Olivias Standpunkt ist dir bekannt.«
»Du hast sie laufenlassen?« fragte ich leise. »Du hast sie auch aufgegeben?«
»Anfangs habe ich mein Bestes versucht. Du machst dir keine Vorstellung davon, welche Frustrationen ich erlebt habe. Haille konnte einem ein Versprechen geben, das so klang, als sei es in Zement gemeißelt – oder vielleicht sollte ich besser von Marmor sprechen.« Er lächelte. »Sie konnte den schlimmsten Agnostiker zum Glauben bekehren, ein Herz innerhalb von Sekunden zum Schmelzen bringen und einen Fisch aus dem Wasser locken. Und dann hat sie eben dieses Versprechen gebrochen, gelacht und einem ein anderes Versprechen gegeben. Und weißt du was? Jeder, vor allem Männer, wollten ihr unbedingt glauben. Sie wünschten sich so sehr, ihr glauben zu können, daß sie sich weigerten, sie als das anzusehen, was sie in Wirklichkeit war. Nur habe ich leider am Ende die Wahrheit erkannt. Was willst du sonst noch von mir hören?«
»Ich will wissen, wer mein Vater ist«, sagte ich.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Weil du es nicht weißt?«
»Laß es uns dabei belassen, Melody. Du solltest dieses Gespräch mit jemand anderem führen. Wende dich an Olivia«, bat er mich. »Ich mag dich«, sagte er. »Du bist eine sehr intelligente, sensible Frau, und ich habe nicht allzu viele Bekannte, was wiederum heißt, daß ich nicht leichtfertig Komplimente verteile. Es wäre mir wirklich lieb, wenn wir beide uns miteinander anfreunden könnten. Ich hoffe, daß du bei mir bleiben und mir helfen wirst, die Geburt von Neptuns Tochter zu erschaffen«, fügte er hinzu und wandte sich ab, um zu gehen. Ulysses folgte ihm auf dem Fuß.
Das rhythmische Geplätscher der Wellen erklang hinter mir. Seeschwalben kreisten über den Wogen und tauchten in sie ein. Die Brise streifte meinen Nacken.
Etwas von dem, was er mir erzählt hatte, entsprach der Wahrheit, aber tief in meinem Inneren wußte ich, daß sich noch mehr dahinter verbarg. Das Geheimnis, das er in sich trug, verzehrte ihn. Es war, als sei er von diesem Wissen gebrandmarkt und litte jedesmal, wenn er sich gezwungen sah, über die Vergangenheit zu reden, an seinen Erinnerungen.
Wie seltsam, dachte ich mir, als er sich mit gesenktem Kopf von mir entfernte. Er war schlank und groß. Sein Gesicht war bärtig und von Meer, Sonne und Wind gebräunt, und seine Augen strahlten eine Weisheit aus, die weit über seine Lebensjahre hinausging. Ich hätte wütend auf ihn sein können, und doch verspürte ich in diesem Augenblick aus Gründen, die ich noch nicht verstand, mehr Mitleid mit ihm als mit mir selbst.
Ich folgte Kenneth. Er saß wieder auf der Sanddüne und starrte auf die Wogen hinaus. Ich setzte mich neben ihn.
»Ich suche immer noch nach genau der richtigen Welle«, sagte er. »Nach der richtigen Form, dem richtigen Bild. Wenn ich nur lange genug danach Ausschau halte, wird das Meer es mir offenbaren. Die Wahrheit erfordert Geduld«, sagte er.
Ich fragte mich, ob er mir damit einen Hinweis geben wollte. Ich fragte mich, ob das eine Aufforderung an mich war, geduldig zu sein.
Genauso wie das Meer hatte auch er noch viel zu bieten. Es war nur eine Frage der Zeit, und diese Zeit brauchte ich, um stärker zu werden und die Wahrheit ertragen zu können.
Endlich gelangte ich zu einem Entschluß.
Ich mochte ihn. Und ich würde mich Kenneth Childs anvertrauen, ganz gleich, ob er mein Vater war oder nicht.