Читать книгу Dunkler Schmetterling - V.C. Andrews - Страница 6
ОглавлениеProlog
Ich wartete allein in Mrs. McGuires Büro auf das Ehepaar, das mich sehen wollte. Der Rücken tat mir weh, weil ich »anständig« auf dem Stuhl neben Mrs. McGuires Schreibtisch saß, aber aus Erfahrung wusste ich, dass es besser war, sich so gut wie möglich zu benehmen. Mrs. McGuire war die Verwaltungschefin unseres Waisenhauses und schimpfte mit uns, wenn wir in Anwesenheit von Besuchern herumlümmelten oder irgendetwas »Unanständiges« taten.
»Haltung, Haltung«, rief sie immer, wenn sie im Speisesaal an uns vorbeiging, und wir alle nahmen Haltung an. Wenn man ihr nicht gehorchte, musste man stundenlang ein Buch auf dem Kopf herumbalancieren, und wenn das Buch herunterfiel, ging es am nächsten Tag von vorne los.
»Ihr Kinder seid Waisen«, hämmerte sie uns ein, »die darauf warten, dass nette Leute kommen und sie in ihre Familie aufnehmen. Ihr müsst besser sein als andere Kinder – Kinder mit Eltern und einem Zuhause. Ihr müsst gesünder, intelligenter, höflicher und vor allem respektvoller sein«, sagte sie mit einer Stimme, die im Laufe ihrer endlosen Predigten oft schrill wurde. »Ihr müsst begehrenswert erscheinen. Warum«, fragte sie, die dünnen Lippen verzogen, »sollte jemand wollen, dass einer von euch ihre Tochter oder ihr Sohn wird?«, und ließ kritisch ihren Blick über jeden einzelnen von uns schweifen.
Sie hatte Recht. Wer würde mich schon wollen?, dachte ich. Ich war eine Frühgeburt. Einige von den Jungen und Mädchen behaupteten, ich sei wachstumsgestört. Erst gestern nannte Donald Lawson mich einen Zwerg.
»Bestimmt trägst du noch auf der Highschool Kleinmädchenkleider«, hänselte er mich.
Hocherhobenen Hauptes schritt er davon. Ich merkte, dass es ihm gut tat, wenn ich mich schlecht fühlte. Meine Tränen waren Trophäen für ihn. Es tat ihm überhaupt nicht Leid, wenn ich weinte. Im Gegenteil – meine Tränen ermutigten ihn.
»Selbst deine Tränen sind winzig«, trällerte er, als er den Flur hinunterging. »Vielleicht sollten wir dich ›kleine Träne‹ nennen statt Zwerg.«
Die Kinder im Waisenhaus waren jedoch nicht die einzigen, die glaubten, dass mit mir etwas nicht stimmte. Margaret Lester, das größte Mädchen im Waisenhaus mit Beinen bis zu den Schultern, hatte zufällig gehört, wie das letzte Ehepaar, das mich angeschaut hatte, über mich geredet hatte. Sie konnte es gar nicht abwarten, mir all diese schrecklichen Dinge brühwarm zu erzählen.
»Der Mann fand dich bezaubernd, aber als sie hörten, wie alt du bist, fragten sie sich, warum du so klein bist. Sie meinte, du seist wohl kränklich, und sie beschlossen, sich nach jemand anderem umzusehen«, verkündete Margaret mit einem gehässigen Grinsen.
Keines der potenziellen Ehepaare würdigte sie auch nur eines Blickes, daher freute sie sich, wenn einer von uns zurückgewiesen worden war.
»Ich bin nicht kränklich«, verteidigte ich mich mit wispernder Stimme. »Das ganze Jahr lang war ich nicht einmal erkältet.«
Ich sprach stets mit leiser, sanfter Stimme, und wenn ich aufgefordert wurde, etwas zu wiederholen, musste ich mich gewaltig anstrengen, lauter zu sprechen. Mrs. McGuire fand, ich sollte selbstbewusster auftreten.
»Ein wenig schüchtern zu wirken ist gut, Janet«, sagte sie. »Gott weiß, die meisten Kinder heutzutage sind zu laut und zu frech. Aber wenn du zu bescheiden bist, übersehen die Leute dich. Sie glauben, du verziehst dich wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Das willst du doch nicht, oder?«
Ich schüttelte brav den Kopf, aber sie fuhr mit ihrer Predigt fort.
»Steh gerade, wenn du mit Leuten sprichst, schau ihnen in die Augen und senke nicht den Blick zu Boden. Und fummel nicht so mit deinen Fingern herum. Schultern zurück! Du musst so groß erscheinen wie möglich.«
Als ich heute in ihr Büro kam, musste ich mich auf einen Stuhl setzen, und sie marschierte vor mir auf und ab. Ihre hohen Absätze klapperten wie kleine Hämmer auf dem Fliesenboden, als sie mir Anweisungen und Ratschläge gab, wie ich mich verhalten sollte, sobald die Delorices da waren. So hießen sie, Sanford und Celine Delorice. Natürlich hatte ich sie noch nie gesehen. Mrs. McGuire erzählte mir jedoch, dass sie mich schon ein paar Mal gesehen hätten. Das war eine Überraschung. Ein paar Mal? Ich fragte mich, wann und, falls es stimmte, warum ich sie nie gesehen hatte?
»Sie wissen eine Menge über dich, Janet, aber sie interessieren sich immer noch für dich. Das ist bis jetzt deine beste Gelegenheit. Begreifst du das?«, fragte sie und machte eine Pause, um mich anzuschauen. »Sitz gerade«, fauchte sie.
Rasch gehorchte ich.
»Ja, Mrs. McGuire«, sagte ich.
»Wie bitte?« Sie legte die Hand an ihr Ohr und beugte sich mir zu. »Hast du etwas gesagt, Janet?«
»Ja, Mrs. McGuire.«
»Ja was?«, verlangte sie zu wissen, trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Hüften.
»Ja, ich begreife, dass dies meine beste Gelegenheit ist, Mrs. McGuire.«
»Gut, gut. Sprich laut und deutlich. Rede nur, wenn man dich anspricht und lächele so viel wie möglich. Spreiz deine Beine nicht auseinander. Das wär’s. Zeig mal deine Hände«, forderte sie mich auf und streckte ihre eigenen, langen knochigen Finger danach aus.
Sie drehte meine Hände so grob um, dass meine Handgelenke schmerzten.
»Gut«, sagte sie. »Du achtest wirklich auf dich, Janet. Das ist ein dicker Pluspunkt zu deinen Gunsten, Janet. Wie du weißt, glauben manche Kinder, sie seien allergisch gegen Baden.«
Sie warf einen Blick auf die Uhr.
»Sie sollten bald kommen. Ich gehe nach draußen, um sie zu empfangen. Warte hier, und wenn wir durch die Tür kommen, stehst du auf, um uns zu begrüßen. Hast du das verstanden?«
»Ja, Mrs. McGuire.« Ihre Hand fuhr wieder an ihr Ohr. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. »Ja, Mrs. McGuire.«
Sie schüttelte den Kopf und sah plötzlich sehr traurig aus, den Blick voller Zweifel.
»Das ist deine große Chance, deine beste Chance, Janet. Vielleicht deine letzte Chance«, murmelte sie und verließ das Büro.
Ich saß da und starrte auf das Bücherregal, die Fotos auf ihrem Schreibtisch, die eingerahmten Briefe, in denen man sie zu ihrer Leistung im Kinderwohlfahrtsverband des Staates New York beglückwünschte. Da mich die Dinge, die Mrs. McGuires Büro zierten, langweilten, drehte ich mich auf meinem Stuhl um und sah zum Fenster hinaus. Es war ein sonniger Frühlingstag. Ich seufzte, als ich die Bäume mit den glänzend grünen Blättern und knospenden Blüten sah, die mich nach draußen lockten. Wegen der heftigen Frühjahrsregenfälle wuchs alles wie Unkraut. Philip, der Gärtner, war nicht besonders glücklich darüber, schon so früh im Jahr die riesigen Rasenflächen mähen zu müssen. Sein Gesicht war grimmig verzogen, und ich hörte förmlich, wie er brummte, das Gras schieße so schnell hoch, dass man es wachsen sehen könne. Beim monotonen Geräusch von Philips Rasenmäher döste ich einen Augenblick lang im funkelnden Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte, ein. Ich vergaß, dass ich in Mrs. McGuires Büro war, vergaß, dass ich mit geschlossenen Augen auf meinem Stuhl lümmelte.
Ich versuchte, mich an meine leibliche Mutter zu erinnern, aber schon in meinen frühesten Erinnerungen lebte ich im Waisenhaus. Bevor ich mit fast sieben Jahren in dieses kam, war ich bereits in einem anderen gewesen. Jetzt bin ich fast dreizehn, aber selbst ich muss zugeben, dass ich nicht älter aussehe als neun oder vielleicht zehn. Weil ich mich nicht an meine Mutter erinnern konnte, meinte Tommy Turner, ich sei wahrscheinlich ein Retortenbaby.
»Ich wette, du bist in einem Reagenzglas geboren worden und deshalb bist du so klein. Bei dem Experiment ist irgendetwas schief gelaufen«, hatte er erst gestern Abend gesagt, als wir den Speisesaal verließen. Die anderen Kinder hielten ihn für sehr clever und lachten über seinen Witz. Lachten über mich.
»Janets Vater und Mutter waren Reagenzgläser«, hänselten sie mich.
»Nein«, korrigierte Tommy sie. »Ihr Vater war eine Spritze, und ihre Mutter ein Reagenzglas.«
»Wer hat sie dann Janet genannt?«, fragte Margaret zweifelnd.
Tommy musste nachdenken.
»Janet Taylor war der Name ihrer Laborassistentin; daher gaben sie ihr diesen Namen«, antwortete er. Am Ausdruck ihrer Gesichter konnte ich ablesen, dass die anderen Kinder ihm glaubten.
Gestern Abend hatte ich mir, so wie jeden Abend, von ganzem Herzen gewünscht, etwas über meine Vergangenheit zu wissen, eine Tatsache, ein Name, irgendetwas, das ich Tommy und den anderen sagen konnte, um zu beweisen, dass ich auch einmal eine echte Mami und einen echten Daddy gehabt hatte. Ich war weder ein Zwerg noch ein Retortenbaby, ich war … also, ich war wie ein Schmetterling, der wunderschön hoch über der Erde schwebte, hoch über allem Ärger und Zweifel, hoch über gehässigen kleinen Bälgern, die sich über andere Leute lustig machten, nur weil sie kleiner und schwächer waren.
Ich steckte allerdings immer noch in meinem Kokon. Ich war immer noch ein schüchternes kleines Mädchen, eingerollt in eine stille, behagliche Welt. Eines Tages, das wusste ich, würde ich mich daraus befreien, tapferer sein, lauter sprechen, größer werden müssen. Aber jetzt jagte mir das alles nur Angst ein. Die einzige Möglichkeit, mich von den Hänseleien der anderen Kinder nicht kränken zu lassen, bestand darin, in meiner eigenen kleinen Welt zu bleiben, wo es warm und sicher war und niemand mich verletzen konnte. Aber eines Tages, eines Tages würde ich fliegen. Wie ein wunderschöner Schmetterling würde ich höher und höher aufsteigen und hoch über ihnen allen fliegen. Ich würde es ihnen zeigen.
Eines Tages.