Читать книгу Dunkler Schmetterling - V.C. Andrews - Страница 7

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»Janet!«, fauchte Mrs. McGuire, und ich riss die Augen auf. Ihr Gesicht war wuterfüllt, der Mund verzerrt, ihre weit aufgerissenen grauen Augen sprühten Funken. »Setz dich gerade hin«, zischte sie durch die Zähne. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und wandte sich dem Ehepaar zu, das hinter ihr stand. »Hier entlang bitte, Mr. und Mrs. Delorice«, säuselte sie mit honigsüßer Stimme.

Ich holte tief Luft und hielt die Luft an. Mein zitterndes Herz dröhnte plötzlich wie eine Trommel in meiner Brust. Mrs. McGuire trat hinter mich, damit die Delorices mich richtig anschauen konnten. Mr. Delorice war groß und schlank, hatte dunkles Haar und einen schläfrigen Blick. Mrs. Delorice, die in einem Rollstuhl saß, war sehr hübsch. Ihr Haar hatte die Farbe eines roten Sonnenuntergangs. Um ihr Gesicht, das klein war wie meines, aber vollkommener geschnitten, schmiegte sich in weichen, glatten Wellen ihr Haar. Trotz ihres Rollstuhles hatte sie nichts Kränkliches oder Schwaches an sich. Ihr blühender Teint leuchtete wie Pfirsich mit Sahne, ihre Lippen hatten den Ton frischer Erdbeeren.

Sie trug ein strahlend gelbes Kleid, meine Lieblingsfarbe, und eine Kette aus winzigen Perlen um den Hals. Abgesehen von dem Rollstuhl und den winzigen Schuhen sah sie wie jede andere potenzielle Mami aus, die ich bisher gesehen hatte. Obwohl ich noch nie zuvor Ballettschuhe gesehen hatte, glaubte ich, dass es welche waren. Aber wenn sie in einem Rollstuhl saß, warum trug sie dann Ballettschuhe, fragte ich mich.

Mr. Delorice schob sie direkt auf mich zu. Ich war viel zu fasziniert, um mich zu rühren, geschweige denn zu sprechen. Warum wollte eine Frau in einem Rollstuhl ein Kind meines Alters adoptieren?

»Mr. und Mrs. Delorice, das ist Janet Taylor, Janet, Mr. und Mrs. Delorice.«

»Hallo«, sagte ich – offensichtlich nicht laut genug, um Mrs. McGuire zufrieden zu stellen. Sie gestikulierte, dass ich aufstehen sollte, und ich rappelte mich auf.

»Bitte nenn uns Sanford und Celine, Liebes«, sagte die hübsche Frau. Sie streckte die Hand aus, und ich nahm sie behutsam. Überrascht stellte ich fest, wie fest sie die Finger um meine schloss. Einen Augenblick lang sahen wir uns nur an. Dann blickte ich hoch zu Sanford Delorice.

Er schaute zu mir herunter, dabei öffneten sich seine Augen ein wenig weiter und ich sah, dass sie braun-grün waren. Durch sein sehr kurz geschnittenes Haar wirkte sein knochiges Gesicht noch länger und schmaler. Er trug ein dunkelgraues Sportjackett ohne Krawatte und eine dunkelblaue Hose. Die oberen beiden Knöpfe seines weißen Hemdes standen offen. Ich dachte, er wollte wohl seinem sehr vorstehenden Adamsapfel genug Platz lassen.

»Sie ist vollkommen, Sanford, einfach vollkommen, nicht wahr?«, meinte Celine und schaute mich an.

»Ja, das stimmt, meine Liebe«, erwiderte Sanford. Mit seinen langen Fingern umklammerte er immer noch fest die Griffe des Rollstuhls, als sei er daran festgeklebt oder habe Angst loszulassen

»Hatte sie jemals eine künstlerische Ausbildung?«, fragte Celine Mrs. McGuire. Sie sah Mrs. McGuire bei der Frage nicht an, denn sie wollte den Blick nicht von mir lassen. Unverwandt waren ihre Augen auf mein Gesicht fixiert, und obwohl mir ihr Starren langsam unheimlich wurde, konnte auch ich nicht wegschauen.

»Künstlerische Ausbildung?«

»Singen, Tanzen … vielleicht Ballett?«, fragte sie.

»O nein, Mrs. Delorice. Dieses Glück ist den Kindern hier nicht vergönnt«, antwortete Mrs McGuire.

Celine wandte sich wieder mir zu. Sie kniff die Augen zusammen und starrte mich noch eingehender an.

»Nun, Janet wird es vergönnt sein. Sie wird dieses Glück haben«, prophezeite sie. Sie lächelte sanft. »Wie würde es dir gefallen, bei Sanford und mir zu leben, Janet? Du hast dein eigenes Zimmer, und zwar ein sehr großes und komfortables. Du besuchst eine Privatschule. Wir kaufen dir neue Garderobe und neue Schuhe. Und du hast ein eigenes Badezimmer. Ich bin sicher, dass dir unser Haus gefallen wird. Wir wohnen ein wenig außerhalb von Albany, und unser Garten ist genauso groß, wenn nicht sogar größer als dieser hier.«

»Das hört sich wunderbar an«, sagte Mrs. McGuire, als sei ihr gerade ein neues Zuhause angeboten worden, aber Mrs. Delorice interessierte sich nicht im Mindesten dafür, was sie sagte. Stattdessen starrte sie mich an und wartete auf meine Antwort.

»Janet?«, fragte Mrs. McGuire, nachdem ein langer Augenblick des Schweigens vorübergegangen war.

Wie konnte ich da widerstehen. Aber als ich zu Sanford aufschaute und dann wieder Celine ansah, spürte ich Beklommenheit in meinem Herzen. Ich verdrängte die schattenhaften Gesichter, die plötzlich vor mir auftauchten, warf Mrs. McGuire einen Blick zu und nickte dann.

»Das würde mir sehr gefallen«, sagte ich und hoffte, dass mein falsches Lächeln genauso überzeugend war wie das von Mrs. McGuire.

»Gut«, verkündete Celine. Sie wirbelte ihren Rollstuhl herum zu Mrs. McGuire. »Wann kann sie kommen?«

»Nun, wir haben einige Formalitäten zu erledigen. Nach allem, was wir über Sie und Ihren Mann wissen, angesichts Ihrer eindrucksvollen Referenzen und des Gutachtens des Sozialarbeiters vermute ich …«

»Können wir sie heute mitnehmen?«, fragte Celine ungeduldig.

Mein Herz setzte aus. Heute? So schnell?

»Ich glaube, dass ließe sich machen«, erwiderte sie schließlich.

»Gut«, sagte sie. »Sanford, warum bleibst du nicht bei Mrs. McGuire und füllst den Papierkram aus, der erledigt werden muss. Janet und ich gehen in der Zwischenzeit nach draußen, damit wir uns besser kennen lernen können«, sagte sie. Das sollte wohl ein Vorschlag sein, aber für mich hörte sich das wie ein Befehl an. Ich schaute Mr. Delorice an und sah, dass sich sowohl seine Kiefernmuskulatur wie auch seine Hände verkrampften.

»Auf einigen Dokumenten sind aber beide Unterschriften erforderlich«, beharrte Mrs. McGuire.

»Sanford hat die Vollmacht, für mich zu unterschreiben«, konterte Celine. »Janet, kannst du meinen Stuhl schieben? Ich wiege nicht allzu viel«, fügte sie lächelnd hinzu.

Ich schaute Mrs. McGuire an. Sie nickte, und Sanford trat zurück, damit ich die Griffe fassen konnte.

»Wohin sollen wir gehen, Janet?«, fragte sie mich.

»Wir könnten in den Garten gehen«, sagte ich unsicher. Mrs. McGuire nickte wieder.

»Das hört sich wunderbar an. Halt dich nicht länger auf, als unbedingt nötig, Sanford«, rief sie zurück, als ich sie zur Tür schob. Ich ging dann vor und öffnete sie, dann schob ich sie hindurch auf den Flur hinaus.

Was mit mir passierte, überwältigte und verblüffte mich. Ich sollte nicht nur Eltern bekommen, sondern ich hatte eine Mutter gefunden, die sich fast so sehr wünschte, dass ich mich um sie kümmerte, wie ich mir wünschte, dass sie sich um mich kümmerte. Was für ein eigenartiger und wundervoller Neubeginn, dachte ich, als ich meine neue Mutter dem sonnigen Tag entgegenschob, der uns erwartete.

»War es sehr schwierig für dich, hier zu leben, Janet?«, fragte Celine, als ich sie nach draußen geschoben hatte. Wir folgten dem Weg zum Garten.

»Nein, Ma’am«, erwiderte ich und versuchte, mich nicht von den Kindern ablenken zu lassen, die uns angafften.

»Ach, nenn mich doch bitte nicht Ma’am, Janet«, sagte sie, drehte sich um und legte ihre Hand auf meine. Sie fühlte sich so warm an. »Warum nennst du mich nicht Mutter. Lass uns nicht warten, bis wir einander kennen. Tu es doch sofort«, bat sie.

»In Ordnung«, sagte ich. Ich wusste bereits, dass Mrs. Delorice sich nicht gerne von etwas abbringen ließ.

»Du sprichst so leise, Liebling. Wahrscheinlich hast du dich so unbedeutend gefühlt, aber das ist jetzt vorbei. Du wirst berühmt werden, Janet. Du wirst eine Sensation«, verkündete sie mit solcher Leidenschaft, dass mir die Luft wegblieb.

»Ich?«

»Ja du, Janet. Komm her und setz dich«, sagte sie, als wir die erste Bank am Weg erreichten. Mit im Schoß gefalteten Händen wartete sie, bis ich saß. Dann lächelte sie. »Du schwebst, Janet. Merkst du das? Du schwebst dahin, als wandeltest du auf einer Wolke. Das machst du instinktiv. Anmut hat man entweder von Geburt an oder gar nicht, Janet. Das kann man nicht lernen. Niemand kann dir das beibringen.«

»Auch ich«, sagte sie, und ihre grünen Augen verdunkelten sich, »hatte einst diese Anmut. Auch ich schwebte dahin. Aber«, fuhr sie fort, und ihr Gesichtsausdruck und Ton wurden wieder glücklicher und heiterer, »wir wollen über dich reden. Ich habe dich beobachtet.«

»Wann?«, fragte ich, als ich mich daran erinnerte, was Mrs. McGuire gesagt hatte.

»Oh, hin und wieder während der letzten zwei Wochen. Sanford und ich kamen zu verschiedenen Tageszeiten her. Meistens saßen wir im Auto und beobachteten dich und deine unglücklichen Brüder und Schwestern beim Spielen. Ich sah dich sogar in der Schule«, gab sie zu.

Vor Überraschung sperrte ich den Mund auf. Sie waren mir zur Schule gefolgt? Sie lachte.

»Als ich dich zum ersten Mal sah, wusste ich, dass ich dich haben muss. Ich wusste, du warst die Richtige, Janet. Du erinnerst mich so sehr an mich selbst, als ich in deinem Alter war.«

»Tatsächlich?«

»Ja, und wenn Sanford und ich nach Hause fuhren, träumte ich von dir und sah vor mir, wie du bei uns die Treppe hinunter und durch unser Haus schwebst. Ich konnte sogar die Musik hören«, sagte sie mit verträumtem Blick.

»Welche Musik?«, fragte ich und mir kam der Gedanke, dass Mrs. Delorice vielleicht nicht nur herrschsüchtig war. »Musik, zu der du tanzt, Janet. Oh«, sie beugte sich vor und griff nach meiner Hand. »Ich habe dir so viel zu erzählen, und es gibt so viel zu tun. Ich kann es gar nicht erwarten anzufangen. Deshalb sollte Sanford sofort diesen dämlichen bürokratischen Papierkram erledigen und uns dann beide nach Hause bringen. Nach Hause«, wiederholte sie, und ihr Lächeln wurde noch zärtlicher. »Für dich ist das sicher ein Fremdwort. Du hattest nie ein Zuhause. Ich weiß alles über dich«, fügte sie hinzu.

»Was wissen Sie denn?«, fragte ich. Vielleicht wusste sie etwas über meine richtige Mami und über meinen Daddy.

»Ich weiß, dass du seit kurz nach deiner Geburt ein Waisenkind bist. Ich weiß, dass einige sehr dumme Leute auf der Suche waren nach einem Adoptivkind und dich übergangen haben. Pech für sie und mein Glück.« Sie lachte ein dünnes, helles Lachen.

»Was meinen Sie damit, als Sie sagten, ›Musik, zu der ich tanze‹?«, fragte ich.

Sie ließ meine Hand los und lehnte sich zurück. Einen Augenblick glaubte ich, sie würde mir nicht antworten. Sie starrte in die Bäume. Ein Spatz landete in unserer Nähe und musterte uns neugierig.

»Nachdem ich dich ausgewählt hatte, beobachtete ich dich, testete ich dich in Gedanken«, erklärte sie. »Ich studierte deinen Gang, deine Gesten und deine Haltung, um zu prüfen, ob du in der Lage bist, zu der Tänzerin ausgebildet zu werden, die ich werden sollte und wovon ich jetzt nicht einmal mehr träumen kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass du das kannst. Würde dir das gefallen? Wärst du gerne eine berühmte Tänzerin, Janet?«

»Eine berühmte Tänzerin? Daran habe ich noch nie gedacht«, gestand ich ehrlich. »Ich tanze gern. Musik mag ich auch gern«, gab ich zu.

»Aber natürlich«, erwiderte sie. »Jemand mit deiner natürlichen Grazie und deinem Rhythmusgefühl muss einfach Musik lieben, und Tanzen wird dir auch gefallen. Du wirst diese Macht lieben. Du wirst das Gefühl haben …« Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Als sie die Augen wieder öffnete, funkelte darin ein unheimliches Licht. »Du wirst das Gefühl haben, wie ein Vogel hoch in die Lüfte zu steigen. Wenn du gut bist, und du wirst gut sein, wirst du dich in der Musik verlieren, Janet. Sie wird dich davontragen so wie mich, bevor ich zum Krüppel wurde.«

»Was ist mit Ihnen passiert?«, wagte ich zu fragen. Offensichtlich löste das Gespräch über Tanzen heftige Gefühle in ihr aus. Ihr unheimlicher Blick machte mich ganz nervös und ich wünschte, sie würde mich nicht ständig so eindringlich anstarren.

Mrs. Delorices sanftes, verträumtes Lächeln verschwand. Sie starrte das Haus an, dann wandte sie sich mir zu und erwiderte:

»Ich hatte einen sehr schweren Autounfall. Eines Nachts, als wir von einer Party zurückkehrten, verlor Sanford die Kontrolle über das Fahrzeug. Er hatte ein wenig zu viel getrunken, obwohl er das nie zugeben würde. Er behauptete, die Scheinwerfer eines Sattelschleppers hätten ihn geblendet. Wir kamen von der Straße ab und rasten gegen einen Baum. Er war angeschnallt, aber ich hatte es vergessen. Die Tür flog auf, und ich wurde aus dem Wagen geschleudert. Meine Wirbelsäule wurde schwer verletzt. Ich wäre fast gestorben.«

»Das tut mir Leid«, sagte ich rasch.

Ihr Gesicht wurde hart, die Falten vertieften sich, als sich ein Schatten über ihr Gesicht legte.

»Das Leidtun habe ich hinter mir. Jahrelang hat es mir Leid getan, aber Selbstmitleid hilft kein bisschen, Janet. Du darfst nie in Selbstmitleid schwelgen. Dann wirst du unfähig, dir selbst zu helfen. Oh«, rief sie aufgeregt, und ihre Augen funkelten wieder, »ich habe dir so viel zu erzählen, so viel beizubringen. Es wird für uns beide ganz wundervoll. Bist du auch so aufgeregt?«

»Ja«, sagte ich. Das war ich auch, denn alles ging viel zu schnell. Ich war nervös und fürchtete mich auch ein wenig. Sie wandte sich dem Gebäude zu.

»Wo bleibt er denn? Immer vertrödelt er so viel Zeit. Aber du wirst sein Mitgefühl und sein Einfühlungsvermögen bewundern«, sagte sie. »Er würde alles für mich tun, und jetzt«, fügte sie mit einem breiteren Lächeln hinzu, »würde er auch alles für dich tun.«

»Stell dir vor, Janet«, drängte sie, »zum ersten Mal in deinem Leben hast du zwei liebende Menschen, die sich mehr um dich kümmern als um sich selbst. O ja, das stimmt, liebe, teure Janet. Schau mich an. Warum sollte ich mir noch um mich Sorgen machen? Ich bin auf ewig eine Gefangene in diesem kaputten Körper, und Sanford, Sanford lebt nur, um mich glücklich zu machen. Siehst du«, sagte sie mit diesem winzigen dünnen Lachen, »da mein Glück von deinem Glück abhängt, wird Sanford dich ebenso zärtlich lieben wie ich.«

»Du wirst glücklich sein, Janet«, sagte sie mit solcher Entschiedenheit, dass es mich ängstigte. Beinahe war es so, als würde sie mir befehlen, glücklich zu sein. »Das verspreche ich dir«, sagte sie.

Sanford trat aus dem Gebäude.

»Das wurde aber auch Zeit«, murmelte sie. »Komm, Janet, Liebes. Jetzt fängt dein neues Leben an. Dies ist deine wahre Geburt. Einverstanden? Diesen Tag werden wir von jetzt an als deinen Geburtstag feiern. Warum nicht? Ja? Mir gefällt die Idee. Dir nicht?«, fragte sie mit einem weiteren dünnen Lachen. »Heute hast du Geburtstag!«

»Sanford«, rief sie, bevor ich irgendetwas erwidern konnte. Tatsächlich wusste ich auch gar nicht, was ich sagen sollte. Mein Geburtstag hatte mir nie besonders viel bedeutet. Er kam auf uns zu. »Dieser Tag ist noch außergewöhnlicher, als wir gedacht hatten. Janet hat Geburtstag.«

»Tatsächlich?«, fragte er und sah verwirrt aus. »Aber ich dachte …«

»Tatsächlich.« Ihre Worte peitschten in die Luft zwischen ihnen, und er nickte.

Sie streckte mir die Hand entgegen.

»Komm jetzt«, sagte sie. »Wir fahren nach Hause, um zu feiern.«

Als ich Sanfords grimmigen Gesichtsausdruck sah und an das irre Funkeln in Mrs. Delorices Augen dachte, fragte ich mich, in was ich da hineingeraten war.

Dunkler Schmetterling

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