Читать книгу Dunkler Schmetterling - V.C. Andrews - Страница 8
Оглавление2
Obwohl ich so viele Jahre im Waisenhaus gelebt hatte, gab es niemanden, den ich mit Bedauern zurückließ. Rasch hatte ich mich verabschiedet. Diejenigen, die sich so lange über mich lustig gemacht hatten, starrten mich jetzt voller Neid an. Keiner hatte viel zu sagen. Nur Margaret kam auf mich zu, als ich meine Sachen zusammensuchte und flüsterte: »Was für eine Mutter ist das denn schon, die im Rollstuhl sitzt?«
»Eine, die mich lieb haben möchte«, erwiderte ich. Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum, als ich sie stehen ließ. Celine wartete bereits im Auto. Sanford half mir bei meinen Sachen und öffnete mir dann die Wagentür, als sei er mein Chauffeur. Sie hatten einen sehr teuer aussehenden schwarzen Wagen mit weichen Ledersitzen. Das Auto kam mir riesengroß vor. Es roch nach frischen Rosen.
»Schau sie dir an, Sanford«, sagte Celine. »Sie bedauert es nicht im geringsten, dieses Haus zu verlassen. Nicht wahr, Liebes?«
»Nein …« Die folgenden Worte fielen mir schwer. Sie waren mir so fremd, dass meine Zunge darüber stolperte. »Mutter.«
»Hast du das gehört, Sanford? Hast du gehört, wie sie mich genannt hat?«
»Das habe ich, Liebling.« Er schaute sich zu mir um und lächelte zum ersten Mal, seit ich ihn kannte. »Willkommen in unserer Familie, Janet.«
»Danke«, sagte ich, aber ich wusste, ich hatte so leise gesprochen, dass sie mich beide nicht gehört hatten.
»Wir haben uns im Garten nett unterhalten, während du T-Striche und I-Punkte gemalt hast, Sanford.«
»Ja?«
»Janet erzählte mir, dass sie Tanzen liebt«, sagte Celine.
»Tatsächlich?«, fragte Sanford erstaunt.
Ich hatte gesagt, dass ich gerne tanzte, aber ich hatte noch nicht genug getanzt, um wirklich behaupten zu können, dass ich es liebte – zumal nicht die Art Tanz, die sie meinte. Sie wandte sich mir zu.
»Ich war jünger als du, als ich mit der Ausbildung begann, Janet. Meine Mutter hat mich sehr unterstützt, vielleicht, weil ihre Mutter, meine Großmutter Annie, eine Primaballerina war. Es brach ihr genauso das Herz wie mir, als ich aufhören musste.« Da ihr Gesicht mir zugewandt war, konnte ich das seltsame Flackern in ihren Augen sehen.
Sie holte tief Luft, bevor sie fortfuhr.
»Meine Eltern leben noch. Sie wohnen in Winchester in dem Haus, in dem mein Bruder Daniel und ich aufgewachsen sind«, erklärte sie.
Mein Herz begann wieder zu klopfen. Es war eine Sache, von einer Mami und einem Daddy zu träumen, aber noch eine ganz andere, sich eine große Familie mit Großeltern, Onkeln und Tanten vorzustellen. Vielleicht gab es auch eine Cousine, ein Mädchen meines Alters, das meine beste Freundin werden könnte.
»Unglücklicherweise leben Sanfords Eltern beide nicht mehr«, fuhr sie fort. Sie schaute ihn an. »Seine Schwester Marlene wohnt in Denver, aber wir sehen sie nicht sehr oft. Sie mag mich nicht.«
»Celine, bitte«, warf er zaghaft ein.
»Ja, Sanford hat Recht. Nie wieder etwas Unangenehmes. Was ich an Unerfreulichem zu erdulden hatte, brauchst du nicht zu wissen. Dir ist in deinem armen kleinen Leben schon genug widerfahren«, sagte sie. »Über Geld musst du dir auch keine Sorgen machen. Wir sind reich.«
»So etwas solltest du nicht sagen, Celine«, tadelte Sanford sie sanft. Ich spürte sofort, dass es ihm Leid tat, etwas gesagt zu haben.
»Warum nicht? Warum sollte ich nicht stolz sein darauf? Sanford besitzt und leitet eine Glasfabrik. Wir sind kein Riesenunternehmen, aber ein ernst zu nehmender Konkurrent, nicht wahr, Sanford?«, prahlte sie.
»Ja, Liebling.« Er blickte wieder zu mir. »Sobald du dich eingewöhnt hast, zeige ich dir die Fabrik.«
»Du kannst sie ihr zeigen, aber sie wird nicht viel Zeit dort verbringen, Sanford. Sie wird mit der Schule und dem Tanzen genug zu tun haben«, versicherte Celine ihm.
Mir lief es eiskalt den Rücken herunter.
»Und wenn ich nun keine Tänzerin werden kann?«, fragte ich. Würden sie mich dann zurückschicken?
»Sei doch nicht albern, Janet. Ich habe dir doch gesagt, dass du Anmut besitzt. Du tanzt ja bereits. Du tanzt, wenn du gehst, in der Art, wie du dich hältst, wie du Leute anschaust, wie du sitzt. Da ich selbst diese Gabe besaß, erkenne ich sie auch bei anderen. Du wirst nicht versagen«, meinte sie zuversichtlich. »Ich werde dich nicht versagen lassen. Ich bin dein Kissen, dein Fallschirm. Die Enttäuschungen, die ich erlebt habe, werden dir erspart bleiben«, versprach sie feierlich.
Noch beunruhigter presste ich die Arme um mich. Als ich kleiner war, hatte ich so getan, als seien meine Arme die meiner Mutter, die mich festhielten. Ich schloss dann die Augen und stellte mir den Duft ihrer Haare, die Weichheit ihres Gesichtes, die Wärme ihrer Lippen auf meiner Stirn vor. Würde Celine mich je so in die Arme nehmen? Oder war das zu schwierig für sie, weil sie im Rollstuhl saß?
Ich sah aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft. Die ganze Welt floss in einem Strom aus Bäumen, Häusern, Feldern und selbst Menschen an uns vorüber. Nur sehr wenige nahmen von uns Notiz, obwohl ich mich wie etwas ganz Besonderes fühlte. Alle sollten jubeln, wenn wir vorüberfuhren. Ich war nicht länger ein Waisenkind.
»Sieht aus, als bekämen wir Regen«, prophezeite Sanford und nickte in Richtung auf das dunkle Wolkengebirge, das vom Horizont auf uns zukroch.
»Pfui«, schimpfte Celine. »Ich will, dass heute den ganzen Tag die Sonne scheint.«
Sanford lächelte, und ich spürte, wie seine Anspannung nachließ.
»Mal schauen, was ich tun kann«, sagte er. So wie er sie anschaute, anbetete, hatte ich keinen Zweifel daran, dass er für sie das Wetter machen und die ganze Welt nach ihren Wünschen einrichten würde, wenn es nur in seiner Macht stünde. Dort lebte die Liebe, zumindest eine Art von Liebe. Ich hoffte nur, es war die richtige Art.
Als ich ihr Haus schließlich sah, glaubte ich mich in ein Märchen versetzt. Niemand lebt tatsächlich in solch einem Haus, dachte ich, als wir die weite kreisförmige Auffahrt hinauffuhren, die auf beiden Seiten von perfekt gestutzten Hecken gesäumt wurde. In gleichmäßigen Abständen ragten anthrazitgraue Lampen empor, die Birnen steckten in glänzenden Messingschirmen. Celine hatte nicht übertrieben. Die Rasenfläche war größer als im Waisenhaus. In den üppigen Ahornbäumen prangten rote Blätter wie dunkle Rubine. Die Zweige zweier gewaltiger Trauerweiden reichten bis zum Boden und bildeten eine schattige Höhle. In der Dunkelheit konnte ich die Umrisse von zwei Bänken und einem kleinen Springbrunnen ausmachen. Eichhörnchen sprangen voller nervöser, glücklicher Energie um den Springbrunnen herum und über die Bänke, die Bäume hinauf und durch das Gras. Hinter einem der Bäume lugte ein Kaninchen hervor, spähte in unsere Richtung und hoppelte dann ins tiefe Gras.
Ich drehte mich um, damit ich das Haus betrachten konnte, ein riesiges, zweigeschossiges Gebäude von einer Veranda umgeben. Zwei Rotkehlchen paradierten über die vier Holzstufen vor dem Haus. Neben der Treppe war eine Rampe für Celines Rollstuhl angebracht. Darauf hockte ein Spatz so regungslos, dass er wie ausgestopft wirkte.
Es war wie ein Märchen, das durch einen Zauberstab zum Leben erweckt worden war.
»Home, sweet home«, verkündete Celine. »Wir haben eine Menge modernisiert, seit wir es gekauft haben. Es ist ein viktorianisches Haus«, erklärte sie. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber so wie sie es sagte, musste es etwas sehr Beeindruckendes sein.
Das Haus sah aus, als sei es erst vor kurzem gestrichen worden – strahlend weiß. Die oberen Hälften der zweiflügeligen Eingangstür waren mit Spiegelglas versehen. An allen Fenstern im Erdgeschoss und im ersten Stock hingen glänzend weiße Übergardinen. Nur an den Dachbodenfenstern waren dunkle Vorhänge vorgezogen.
»Dein Zimmer geht in Richtung Osten. Du wirst also jeden Morgen von der Sonne geweckt«, erläuterte Celine.
Rechts hinter dem Haus befand sich die Garage, aber Sanford blieb vor dem Haus stehen und stieg rasch aus. Er öffnete den Kofferraum, holte Celines Rollstuhl heraus und wollte ihr die Tür öffnen.
»Hol ihre Sachen«, kommandierte Celine, sobald sie in ihrem Rollstuhl saß.
»Soll ich dich nicht erst ins Haus bringen?«
»Nein. Ich habe dich doch gebeten, ihre Sachen zu holen«, wiederholte sie entschieden. »Wo steckt denn nur diese Mildred?«, murmelte sie leise.
Ich stieg aus und starrte an dem Haus hoch, das mein neues Zuhause sein sollte. Celines Wunsch erfüllte sich ein wenig. Die Wolken teilten sich kurz, Sonnenstrahlen ließen die Scheiben funkeln, als wir dort standen. Aber bevor wir zur Eingangstür gingen, zogen die Wolken sich wieder zusammen und hüllten alles in tiefe Schatten. Celine erschauerte und zog den Schal fest um sich, den Sanford ihr um die Schultern gelegt hatte.
»Wie gefällt es dir?«, fragte sie mich erwartungsvoll.
»Es ist wunderschön«, antwortete ich.
Auf mich hatten jedoch fast mein ganzes Leben lang Häuser mit Familien wunderschön gewirkt, auch wenn sie nur halb so groß und so teuer wie dieses waren. Hinter verschlossenen Türen, auf der anderen Seite der Vorhänge saßen Familien, aßen zu Abend oder sahen gemeinsam fern. Geschwister ärgerten einander, aber tauschten auch Geheimnisse aus und verrieten niemandem die Träume des anderen. Schultern, an die man sich lehnen konnte, Lippen, die einem die Tränen wegküssten, Stimmen, die verängstigten kleinen Herzen Mut machten. Daddys mit starken Armen, um einen fest zu halten, Daddys, die nach frischer Luft und Aftershave rochen, Daddys mit einem liebevollen Lächeln. Mamis, die schön und sanft waren, die nach Blumen dufteten, deren Parfüm einem in die Nase stieg und die Fantasie anregte, das einen davon träumen ließ, genauso schön und liebreizend zu werden.
Ja, es war ein schönes Haus. Sie waren alle wunderschön.
»Beeile dich bitte, Sanford«, sagte Celine und rollte sich zum Fuß der Rampe.
Er kämpfte mit zwei Koffern und einer der kleineren Taschen. Ich ging auf ihren Stuhl zu, aber sie drehte sich vorausahnend um. Als hätte sie Augen im Hinterkopf.
»Nein, Janet. Ich möchte nicht, dass du etwas so Anstrengendes tust. Du kannst es dir nicht leisten, dir eine Sehne zu zerren.«
Verwirrt blieb ich stehen. Eine Sehne zerren? Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte.
»Ist schon in Ordnung«, meinte Sanford zu mir. Irgendwie gelang es ihm, den Stuhl zu packen, während er die Koffer unter den Arm geklemmt hatte. Er schob sie die Rampe hoch, und ich folgte ihnen. Auf der Veranda setzte er die Koffer ab und hastete um sie herum, um die Tür aufzuschließen.
»Wo steckt diese Idiotin denn nur?«, fragte sie ihn scharf. Ich hatte keine Ahnung, über wen sie redete. Lebte noch jemand in diesem wunderschönen Haus?
»Ist schon in Ordnung«, beschwichtigte er sie, während er den Schlüssel ins Schloss steckte.
Celine drehte sich um und lächelte mir zu.
»Jetzt kannst du mich schieben, Liebling«, sagte sie, und ich eilte rasch zu ihrem Rollstuhl.
Sanford öffnete die Tür, und wir betraten das Haus. Die Eingangshalle wirkte durch Spiegel zu beiden Seiten sehr geräumig. Rechts befand sich eine Garderobe und ein Tischchen, auf dem eine Art Flugblätter lagen. Als ich genauer hinschaute, sah ich, dass es sich um Programme für Ballettaufführungen handelte. Vorne auf einem war Celine abgebildet. Über ihrem Bild stand in großen roten Buchstaben Dornröschen.
»Ich möchte, dass du dir als erstes das Studio anschaust«, sagte sie, als sie bemerkte, was meine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. »Sanford, bringe ihre Sachen nach oben und sieh nach, ob du Mildred finden kannst. Wir kommen in ein paar Minuten nach.«
Ich sah, dass an der Treppe ein Treppenlift angebracht war. Oben stand ein weiterer Rollstuhl. Celine rollte sich weiter in das Innere des Hauses. Ich folgte ihr langsam, während ich alles in mich aufsaugte: die wundervollen Gemälde an den Wänden – alles Darstellungen von Tänzerinnen, eine sah Celine sehr ähnlich.
»Dies ist unser Wohnraum«, sagte sie und nickte nach links. Ich konnte nur einen Blick hineinwerfen, weil sie sich rasch den Flur entlang bewegte. Ich sah das weiß-rosa Sofa mit Rüschen am Fuß, einen roten Plüschsessel, den Kamin aus Marmor, über dem ein fantastisches Gemälde von Celine in einem Ballettkostüm hing.
»Hier!«, sie blieb an einer weiteren Tür stehen.
Ich trat neben sie und schaute in den Raum. Er war groß und leer und hatte einen glänzenden Holzfußboden. Rundherum befanden sich mannshohe Spiegel, an einer Seite war eine lange hölzerne Stange angebracht.
»Dies ist mein Studio, und jetzt ist es deines«, erklärte sie. »Ich habe eine Wand einreißen und zwei Räume verbinden lassen. Wenn es sich um deine Kunst handelt, darf man keine Kosten scheuen.«
»Meine?«, fragte ich.
»Natürlich, Janet. Ich werde dir die beste Lehrerin besorgen, Madame Malisorf. Sie hat einige der berühmtesten russischen Tänzer ausgebildet und war einst selbst eine gefeierte Ballerina. Sie war meine Lehrerin und Mentorin.« Und wieder hatte sie diesen geistesabwesenden, unheimlichen Gesichtsausdruck.
»Ich habe wirklich keine Ahnung vom Ballett«, sagte ich mit zitternder Stimme. Ich hatte Angst, sie würde mich sofort ins Waisenhaus zurückschicken, wenn sie herausfand, wie ungeschickt ich war.
»Das ist in Ordnung. Das ist gut so. Besser, du weißt nichts darüber«, erwiderte sie und nahm meine Hand.
»Wirklich?«
»Ja. Auf diese Weise bist du noch rein und unberührt, nicht verdorben durch irgendeinen mittelmäßigen Lehrer. Madame Malisorf wird sehr erfreut sein«, beruhigte sie mich. »Sie arbeitet gerne mit unverdorbenen Talenten.«
»Aber ich habe doch überhaupt kein Talent«, sagte ich.
»Natürlich hast du das.«
»Ich glaube, ich habe noch nicht einmal ein Ballett im Fernsehen gesehen«, gestand ich.
Sie lachte, und ich war froh, dass ihr normaler Gesichtsausdruck zurückkehrte.
»Nein, das kann ich mir vorstellen. Dort, wo du gelebt hast, stehen den Kindern keinerlei Möglichkeiten offen. Du musst keine Angst haben«, sagte sie und drückte meine Hand. »Ballett ist nicht so schwierig, wie du dir vielleicht vorstellst, und es ist auch keine seltsame Art zu tanzen, die nur den Reichen vorbehalten ist. Es ist einfach eine andere Art, eine Geschichte zu erzählen, nämlich durch den Tanz. Klassisches Ballett ist die Grundlage jeder Art von Theatertanz in der westlichen Welt. Leuten, die moderne Tänzer oder Showtänzer werden wollen, empfiehlt man stets, mit klassischem Ballett anzufangen.«
»Wirklich?«
»Natürlich.« Sie lächelte. »Du siehst also, du wirst etwas tun, das dir in vieler Hinsicht hilft. Du bekommst dadurch eine wunderbare Haltung, mehr Anmut, Rhythmusgefühl und Schönheit. Du wirst meine Primaballerina, Janet.«
Sie starrte mich so voller Hoffnung und Liebe an, dass ich nur zurücklächeln konnte. Plötzlich hörten wir, wie eine Tür knallte und jemand die Treppe hinuntereilte. Sie drehte den Rollstuhl, und ich schaute mich um. Ein hoch gewachsenes blondhaariges junges Mädchen in der Uniform eines Hausmädchens kam den Flur entlang. Es hatte große braune Augen, die Nase war ein wenig zu lang, der Mund ein wenig zu breit, das knochige Kinn ausdruckslos.
»Tut mir Leid, Mrs. Delorice. Ich hatte nicht gehört, dass Sie vorgefahren sind.«
»Wahrscheinlich weil du wieder diese dämlichen Kopfhörer in den Ohren hattest, um dir diese grässliche Rockmusik anzuhören«, spottete Celine.
Das Hausmädchen krümmte sich unterwürfig zusammen und schüttelte heftig den Kopf.
»Hör auf zu heulen. Dies ist unsere Tochter Janet«, fauchte Celine sie an und fuhr dann mit sanfter Stimme fort: »Janet, dies ist unser Hausmädchen Mildred Stemple.«
»Guten Tag«, sagte Mildred mit einem kleinen Knicks. Als sie lächelte, sah sie richtig hübsch aus. »Nenn mich doch Milly.«
»Das wird sie nicht tun«, korrigierte Celine sie rasch. »Ihr Name lautet Mildred.«
Mildreds Lächeln schwand dahin.
»Hallo … Mildred«, sagte ich, weil ich keinen Aufruhr veranstalten wollte.
»Ich hatte mich gerade vergewissert, dass ihr Zimmer sauber und fertig ist, Mrs. Delorice«, fuhr Mildred in ihrer Erklärung fort, warum sie nicht zur Haustür gekommen war.
»Immer wartest du mit allem bis zum letzten Augenblick, Mildred. Ich weiß wirklich nicht, warum ich dich behalte. Heute Abend essen wir früh. Der Truthahn ist im Ofen?«
»O ja, Mrs. Delorice.«
»Dann sieh zu, dass du den Rest fertig bekommst«, befahl Celine ihr.
Mildred warf mir einen Blick zu, lächelte rasch und ging.
»Das«, sagte Celine und hob die Augen zum Himmel, »ist mein Akt der Nächstenliebe. Um auf das zurückzukommen, wovon ich gerade sprach. Madame Malisorf kommt übermorgen her, um dich kennen zu lernen.«
»Übermorgen?«
»Wir wollen doch keine Zeit verlieren, Liebes. Beim Tanzen, besonders beim Ballett, ist die Ausbildung doch so wichtig. Ich wünschte, ich hätte dich gefunden, als du noch ein paar Jahre jünger warst. Dann wäre es einfacher gewesen. Aber gräme dich deswegen nicht. Du bist genau im richtigen Alter. Beginnen wirst du mit einer Sequenz von Übungen, um deine kostbaren kleinen Muskeln aufzubauen. Man muss immer sehr viel Dehn- und Aufwärmübungen machen, um Verletzungen vorzubeugen. Du wirst lernen, wie man die barre benutzt.«
»Barre?«
»Die Stange dort nennt man barre«, sagte sie und buchstabierte es. »Alle Ballettbegriffe sind französisch. Das Ballett begann in Frankreich. Du brauchst die barre, um dich während des ersten Teils des Ballettunterrichts zu stützen. Sie leistet dir Widerstand, wenn du dagegen drückst und hilft dir, die Wirbelsäule zu strecken.« Sie lachte. »Stell dir vor, das sei dein erster Partner. Ich gab meiner barre sogar einen Namen. Ich nannte sie Pierre«, sagte sie in perfekter französischer Aussprache. »Du wirst sicher für deinen ersten Partner auch einen geeigneten Namen finden.«
Ich spähte durch die Tür zur Stange und fragte mich, ob ich sie mir je als eine Person vorstellen könnte.
»Komm mit, Liebes. Wir haben so viel zu tun. Ich muss dir morgen gleich als erstes Spitzenschuhe anpassen lassen und Trikots kaufen.«
»Was ist denn mit der Schule?«, fragte ich. Sie rollte sich weiter und blieb dann am Fuß der Treppe stehen.
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich in einer Privatschule anmelden. Das können wir später erledigen. Das Wichtigste zuerst«, sagte sie. Sie machte Anstalten, sich in den Treppenlift zu setzen.
Das Wichtigste zuerst? Aber war denn meine Schulausbildung nicht das Wichtigste?
»Ich helfe dir, Liebling«, rief Sanford und kam die Treppe hinunter.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie und glitt in den Sitz des Treppenliftes. Sie drückte auf einen Knopf und begann sich nach oben zu bewegen. Ich beobachtete sie einen Augenblick lang. Strahlend und erregt stieg sie empor.
»Wie wunderbar«, sagte Sanford neben mir. »Schon dass du gekommen bist, hat sie mit neuer Kraft erfüllt. Es ist ein Segen, dass wir dich haben, mein Liebes.«
Ich schaute zu ihm hoch und fragte mich, womit ich eigentlich diese beiden Menschen, die vor wenigen Stunden noch Fremde gewesen waren, so glücklich gemacht hatte. Ich konnte mich der Befürchtung nicht erwehren, dass sie etwas anderes in mir sahen, als ich tatsächlich war.