Читать книгу Wunschleben - Vera Nentwich - Страница 10
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ОглавлениеManchmal kommt man an einem Ort an und kann sich nicht mehr daran erinnern, wie das geschehen ist. Man fragt sich Habe ich die Kreuzung dort hinten bei Rot überquert? und kann sich nicht entsinnen, überhaupt über diese Kreuzung gefahren zu sein. Anja steht vor ihrem Spiegel und hat keine Ahnung, was gestern und heute geschehen ist. Sie weiß nur, dass in etwa einer Stunde Bettina klingeln wird, sich auf einen schönen Abend freut und erwartet, dass Anja genauso freudestrahlend mitkommt. Bis dahin muss sie entschieden haben, was sie anzieht. Den schwarzen Rock, das ist klar. Aber was darüber? Anja sucht ihre Blusen durch. Keine Ahnung, was für ein Schützenfest geeignet ist. Schließlich entscheidet sie sich für eine leicht gemusterte, bunte Bluse, die sie locker über dem Rock trägt. Das kaschiert ihre nicht vorhandene Taille und erweckt den Eindruck, es sei eine weibliche Hüfte vorhanden.
Für das Make-Up und die Frisur hat sie sich extra viel Zeit genommen, und auch eine abendliche Extra-Rasur musste sein. Anschließend packt sie akribisch ihre Handtasche, damit sie nichts vergisst. Der Lippenstift, den sie bereits sorgfältig in zwei Schichten aufgetragen hat, muss mit, genauso wie Haarspray, um den Pony wieder zu fixieren, sollten die Haare drohen, die hohen Geheimratsecken freizugeben. Es ist noch Zeit bis Bettina kommt. Viel zu früh ist sie fertig geworden und weiß nun nicht, wie sie die Zeit herumkriegen soll. Nervös geht sie in ihrer Wohnung auf und ab und versucht, sich auf den Abend vorzubereiten, aber es fehlt ihr jede Vorstellung, wie dieser ablaufen könnte. Sie begibt sich auf neues, unbekanntes Terrain. Das Herz pocht und doch ist da dieses Kribbeln. Etwas in ihr meldet sich. Wacht auf.
Endlich klingelt es an der Tür. Anja öffnet.
»Hi! Bereit für den Abend?«
Bettina strahlt. Sie trägt eine enge Jeans, ein Shirt mit tiefem Ausschnitt und eine leichte Jacke. Toll sieht sie aus. Anja hat Frauen immer bewundert. Einmal so zu sein, war und ist ihr Traum. Manchmal, wenn sie vor ihrem Spiegel steht, zurechtgemacht und in ihrem schwarzen Rock, wenn sie sich dann leicht zur Seite dreht, dann hat sie das Gefühl, diese Frau zu sein, die sie sein wollte. Es ist ein besonderes Gefühl. Eines, das sie gar nicht loslassen möchte. Wenn man Gefühle doch speichern könnte … »Ich bin soweit.«
Sie greift nach der Handtasche und schließt beherzt die Wohnungstür hinter sich. Nun geht es los. Das Herz pocht heftiger.
Während sie zum Italiener spazieren, erzählt Bettina von ihrem Tag. Gebannt hört Anja zu. Gleichermaßen erstaunt, dass man so ausdauernd erzählen kann und konzentriert, nur ja kein Detail zu verpassen. Sie betreten das kleine Restaurant und schauen sich um. Es gibt nur sechs Tische. Alle sind mit diesen karierten Tischdecken bedeckt, die in den Augen der Gäste so italienisch wirken. Die großen Korbflaschen, die zu Kerzenhaltern umfunktioniert wurden und nun in den Nischen verstauben, fehlen ebenso wenig wie die Schwarz-Weiß-Fotografien von italienischen Filmen an den Wänden. Selbst der Wirt, es muss der Wirt sein, könnte typischer nicht sein. Die doch recht stattliche Leibesfülle wird durch die mit Tomatenflecken dekorierte Schürze nur mühsam gebändigt. Er begrüßt sie überschwänglich, als ob sie jeden Tag kämen und Anja rechnet jeden Moment damit, dass er eine Arie von Caruso anstimmt. Stattdessen sagt er »Buonasera Signoras!« und weist ihnen den Weg zu einem der wenigen Tische. Er hält sogar den Stuhl für Anja bereit. Ein Hochgefühl macht sich in ihr breit. Signoras hat er gesagt. Nachdem sie Rotwein und Wasser bestellt haben, lässt er sie alleine.
»Ist doch nett hier«, meint Bettina.
»Ja, ist echt nett.«
Und das meint Anja wirklich ernst. Sie wählen die Gerichte aus, und Bettina bringt das Gespräch in Gang. Der Wein schmeckt gut und der Wirt, der immer mit einem »Prego Signora« nachschenkt, tut sein Übriges. Anja fühlt sich überraschend wohl. Eine ungewohnte Leichtigkeit hat sie ergriffen. Selbst das Gespräch kann ihr heute keine Angst machen. Schon lange hat sie ihre Lebensgeschichte abgeschliffen, offensichtliche Hinweise auf ihre männliche Vergangenheit eliminiert und die Wortwahl möglichst neutral gestaltet. Sie hatte sich geschworen, nie über ihre Vergangenheit zu lügen. Aber man muss es auch nicht gleich hinausschreien. So bereitet es ihr keine Mühe, auf entsprechende Fragen von Bettina mit den vorbereiteten Sätzen zu antworten. Dennoch prüft sie jedes Mal, ob ihr Gegenüber Zeichen von Irritation zeigt, aber davon ist nichts zu sehen. Sie ist überzeugend. Nur ein Mal, es muss am Wein liegen, da wird sie übermütig. Bettina hat gefragt, ob sie schon mal verheiratet war, und sie hat wahrheitsgemäß mit Ja geantwortet. Als Bettina dann aber nach dem Hochzeitskleid fragt und ob es weiß gewesen sei, da antwortet Anja ebenso wahrheitsgemäß, dass sie in Dunkelblau geheiratet hat. In diesem Moment ist ein leichtes Stirnrunzeln bei Bettina zu bemerken. Frauen, die in Dunkelblau heiraten, sind eher selten. Aber sie fragt glücklicherweise nicht nach.
Das Essen schmeckt köstlich und der Wirt versucht, die Signoras noch zu einer hausgemachten Tiramisu zu überreden. Anja genießt die Aufmerksamkeit und würde dem Wirt, Piero heißt er, alles abkaufen. Er ist sich sehr bewusst, dass die Gäste gerade deshalb in sein Lokal kommen, weil er so schön alle italienischen Klischees bedient und so den Gästen einen Hauch von Urlaub herbei zaubert. So nehmen auch Bettina und Anja das Angebot gerne an und schwelgen in der süßen Verführung. Nach den obligatorischen Espressi und den zwei Grappa, die Piero sich nicht nehmen lässt auszugeben, machen sie sich auf den Weg ins Schützenzelt. Die Luft ist mild, fast zu warm für die Jahreszeit. Vielleicht ist es auch einfach nur das warme Gefühl nach einem guten Essen, Wein und Grappa. Gerade als sich Anja ganz diesem schönen Gefühl hingeben möchte, kommen ihnen einige betrunkene Jugendliche entgegen. Sofort schaltet etwas in Anja um, sie wird achtsam und vorsichtig. Betrunkene, junge Männer machen Anja immer Angst. Einmal hatte sie ein Jugendlicher nach dem Weg gefragt und sie hatte höflich geantwortet. Ihre tiefe Stimme hatte den jungen Mann irritiert und die Gruppe fing an, sich lustig zu machen und sie zu bedrängen. Schließlich konnte sie nur wegrennen. Die Angst steckt ihr immer noch in den Knochen. Solche Gefühle vergehen leider nicht. Jedenfalls versucht Anja seitdem, Gruppen von Halbstarken unter Vermeidung jedes Blickkontaktes zügig zu passieren. Heute geht es gut. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Aber das schöne Gefühl stellt sich nicht wieder ein.
Eine Menschenmenge schart sich um den Eingang zum Zelt, und unzählige Männerblicke taxieren die beiden ankommenden Frauen. Anja versucht, den Blicken auszuweichen, und drängt sich mit gesenktem Kopf hinter Bettina durch die Reihen, die sich magisch zu öffnen scheinen. Vielleicht sehen die Männer sie ja nicht, wenn Anja sie nicht anschaut. Im Zelt ist es heiß, stickig und voll. Eine Band spielt Cover-Songs, und vor der Bühne wabert die Menge leicht im Takt der Musik. Dort muss wohl der Tanzbereich sein. Die beiden Frauen kämpfen sich zur Theke durch.
»Was möchtest du trinken?« Bettina schreit ihr ins Ohr.
»Ein Alt!«, schreit sie zurück. Nachdem Bettina mit einem Glas Weißwein und dem Bier zurückgekommen ist, erkämpfen sie sich einige Zentimeter eines Stehtisches, um die Getränke abzustellen. Eine Gruppe aus Männern und Frauen steht um den Tisch herum, nippt gelegentlich an den Getränken und bewegt zaghaft die Finger im Takt der Musik, die eine Unterhaltung unmöglich macht. Also stehen sie genauso schweigend dort und lassen die Blicke durch das Zelt schweifen. Die Band stimmt I Will Survive an.
»Das ist mein Lieblingssong. Komm, lass uns tanzen gehen!« Bettina zieht an Anjas Ärmel und zwängt sich durch die Menschen in Richtung Tanzfläche. Es ist nicht genau zu erkennen, wo diese beginnt. Selbst direkt vor der Bühne stehen Männergruppen mit Biergläsern in der Hand, die keinerlei Anzeichen von Tanzbewegungen machen. Warum stehen die nicht-tanzenden Kerle direkt im Tanzbereich? Anja und Bettina drängeln sich durch und beginnen, sich im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten zur Musik zu bewegen. Anja bereut es, die Handtasche mitgenommen zu haben. Sie ist höchst unhandlich, und ständig stößt sie jemanden an, der sie dann böse anschaut. Bettina stört das alles nicht. Sie ertanzt sich einen freien Raum und singt lauthals den Refrain des Liedes mit.
»Au!« Der Mann rechts neben Anja macht ein schmerzverzerrtes Gesicht.
»Oh, entschuldigen Sie!« Anja greift erschrocken ihre Handtasche und macht nur noch ganz kleine Bewegungen.
»Schon gut, es ist einfach verdammt eng hier. Ich habe Sie bestimmt auch getreten.« Der Mann lächelt.
»Nein, nein, es ist nichts passiert«, beeilt sich Anja zu sagen und entschließt sich, die Tanzbemühungen ganz einzustellen. Bettina hat sich zwischenzeitlich weiter in die Mitte vorgekämpft, und Anja kann nur noch Bettinas rote Haare und gelegentlich ihre Arme, die sie nach oben reckt, in der Menschenmenge erkennen. Unsicher steht Anja nun da.
»Es ist zu eng zum Tanzen, nicht wahr?« Der Mann neben ihr schaut sie freundlich an. Anja bemüht sich zu lächeln und nickt. Aus der Gruppe, zu der der Mann wahrscheinlich gehört, fragt jemand nach den Getränkewünschen.
»Was trinkst du?«, fragt der Mann.
»Ein Alt.« Anja ist überrascht, wie souverän sie das sagen kann. Sie lächelt, weil kaum etwas anderes möglich ist. Ihr Blick schweift umher, unsicher und möglichst direkten Blickkontakt vermeidend. Wie viele Menschen mögen sich wohl in dieses Zelt drängen? Anja versucht, Schätzungen anzustellen, kommt aber zu keinem klaren Ergebnis. Die meisten stehen einfach so da. Ihre Gesichter sind irgendwie ausdruckslos. Fast nicht vorstellbar, dass es ihnen Spaß macht, hier zu sein. Die Gruppe um sie herum besteht aus mehreren Männern, die alle in den Vierzigern zu sein scheinen. Auch sie schauen schweigend in die Runde und halten, sofern vorhanden, ihr Bierglas in der Hand. Das Gruppenmitglied mit den Getränken erscheint, und es kommt etwas Bewegung in die Runde. Wortlos werden die Biere herumgereicht und Anja bekommt ein Alt hingehalten. Vorsichtig greift sie zu und wartet nun ab, wer die Runde antrinkt. Der Spender hebt das Glas, alle anderen prosten ihm zu und nehmen den ersten Schluck. Anja tut es ihnen nach. So steht sie nun da. Hoffend, man möge ihr die Unsicherheit nicht allzu sehr ansehen. Manchmal, wenn sich die Blicke zufällig mit denen des Mannes neben ihr treffen, versucht sie zu lächeln. Ein freundliches Lächeln, ein weibliches Lächeln möchte sie zeigen. Keine Ahnung, ob es geklappt hat. Es spricht keiner. Hoffentlich wegen der Musik und nicht weil man über sie nachdenkt und irritiert ist. Die Band kündigt eine Pause an und die Menschen, die bisher getanzt haben, strömen zur Theke. Bettina kommt strahlend auf sie zu. Sofort kommt Leben in die Männerrunde.
»Bring der jungen Dame doch mal etwas zu trinken«, raunzt der eine Mann dem Spender der letzten Runde zu.
»Kommt sofort! Was hätten Sie denn gerne?«, wendet dieser sich an Bettina.
»Weißwein«, antwortet sie, und schon setzt sich der Mann in Bewegung. Ist Altbier unweiblich? Anja grübelt darüber nach. Sie käme nie auf die Idee, in einem Schützenzelt Weißwein zu bestellen. Alles hier ist Bieratmosphäre. Aber vielleicht sollte sie nun als Frau auch Weißwein bestellen? Vorsichtig schaut sie sich um, ob auch andere Frauen Bier trinken, und ist sehr erleichtert, als sie feststellt, dass es wohl doch einige tun. Nach überraschend kurzer Zeit erscheint der Getränkespender mit einem Glas Weißwein und reicht es Bettina. Alle Männer prosten ihr mit großen Gesten zu. Diese schenkt dem Spender und gleich allen anderen Herren in der Runde ein Lächeln und plaudert ungezwungen los. Plötzlich drehen alle Anja den Rücken zu. Sie beobachtet gebannt das Schauspiel. Wie bewundernswert locker Bettina ist. Man merkt ihr an, wie sehr ihr dieses Spiel Spaß macht. Anja würde das so gerne lernen, aber sie versteht nicht das Geringste von dem, was da gerade direkt vor ihren Augen passiert. Diese Automatismen zwischen Mann und Frau waren und sind ihr ein Rätsel. Es soll ja etwas mit den Pheromonen zu tun haben, die unbewusst ausgesendet werden und im Gegenüber entsprechende Reaktionen auslösen. Oft hat sie sich gefragt, ob sie denn nun weibliche oder männliche Pheromone aussendet. Wahrscheinlich sind es männliche. Der Gedanke bedrückt sie und lässt etwas Neid aufkommen. Gerne wäre sie so wie Bettina.
Der Abend schreitet voran. Die Männerrunde gibt reihum eine Runde aus, und so kommt Anja auf eine erkleckliche Anzahl Biere. So viel hat sie schon lange nicht mehr getrunken. Mit 18 im Karneval vielleicht, als sie noch dachte, sie könnte ein Mann sein und versucht hatte, eine Freundin zu finden. Langsam tun ihr die Füße weh, und sie ist müde. Sie würde jetzt gerne nach Hause gehen, aber Bettina scheint daran noch keinen Gedanken zu verschwenden. Ganz im Gegenteil. Sie scheint sich pudelwohl im Kreis der Männer zu fühlen und die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegen bringt, sehr zu genießen. Anja möchte keine Spielverderberin sein und ihren schönen Abend beenden. Aber anscheinend hat sie ihre Müdigkeit vor Bettina nicht ganz verbergen können.
»Wenn du nach Hause möchtest, dann sagst du es, ja?«
»Du hast noch so viel Spaß und den will ich dir nicht verderben.«
»Ich bin jetzt auch müde. Wir können ruhig gehen.«
Gesagt, getan.
»So, Jungs, wir gehen jetzt. Wir brauchen unseren Schönheitsschlaf«, teilt Bettina der Runde mit. Sie ruft großes Bedauern hervor. Einzelne Männer versuchen, sie noch zum Bleiben zu überreden, aber sie bleibt hart. Sie verabschieden sich freundlich, Bettina mit Küssen auf die Wange, Anja mit einem förmlichen Handschlag und machen sich auf den Weg nach Hause.
»War doch ein schöner Abend, nicht wahr?«, fragt Bettina, als sie das Zelt verlassen haben.
»Ja, war schön.«
Bettina greift nach Anjas Arm und hakt sich bei ihr unter.
»Hat mal wieder gutgetan zu flirten.«
Anja ist unsicher, wie sie sich verhalten soll. Nimmt sie mich jetzt als männlich wahr, wenn sie sich bei mir einhakt? Nein, Frauen haken sich beieinander ein, beruhigt sie sich und achtet sehr darauf den Arm nicht zu sehr zu bewegen, um diesen Moment nicht zu zerstören. Zuhause angekommen stehen sie noch kurz im Hausflur.
»Das sollten wir bald mal wieder machen«, meint Bettina. Anja nickt nur, unsicher, was sie nun tun soll. Einfach tschüss sagen, eine gute Nacht wünschen und in der Wohnung verschwinden? Die Hand geben? Alles kommt ihr so unpassend vor. Lange muss sie sich keine Gedanken machen, denn Bettina zieht sie an sich heran, umarmt sie und küsst sie auf beide Wangen.
»Ich wünsche dir eine gute Nacht und süße Träume«, sagt sie, während sie die Wohnungstür aufschließt und mit einem kurzen Winken und einem Lächeln in ihrer Wohnung verschwindet. Anja steht noch einen Moment regungslos da. Überall an ihrem Körper spürt sie die Umarmung und an den Wangen die Küsse. Ein schönes, ein wohliges Gefühl. Jetzt ein Glas, um dieses Gefühl zu bewahren. Langsam, fast behutsam öffnet sie ihre Wohnungstür und geht hinein. Es fühlt sich an, als ob alles in Watte gepackt ist, einmal mit einem Weichzeichner übergossen. Der Bach ihres Lebens hat einen kleinen Seitenarm bekommen, der sich aufmacht, das Unbekannte zu erkunden. Sie sitzt noch lange da auf ihrer Couch und spürt einfach nach. Fühlt sich so Frausein an?