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Schwarze Augen starren sie an. Sie kann nicht erkennen, wer es ist. Alles ist so verschwommen. Und dieses Geräusch lenkt sie ab. Es wird immer lauter. Drohender. Drängt sich in den Vordergrund, und die schwarzen Augen verschwinden immer mehr im Nebel. Ganz langsam realisiert sie, dass dieses Geräusch ihr Wecker ist. Sie öffnet die Augen und schaut auf ihre weiße Schlafzimmerwand. Mit einer kurzen Bewegung bringt sie den Wecker zum Schweigen und versucht sich zu erinnern, was geschehen ist. Es fällt ihr wieder ein, wie sie irgendwann in der Nacht auf ihrer Couch aufgewacht ist. Ihre Augen fühlten sich verklebt an und im Bad sah sie eine Fratze aus roten Augen und quer über das ganze Gesicht verwischtem Mascara. Sie hatte sich dann doch noch ordentlich abgeschminkt, wie sie das jeden Abend macht, und war ins Bett gegangen, um in einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen zu fallen. Schon oft hat sie versucht, sich am Morgen an ihre Träume zu erinnern. Sie hatte sogar schon mal einen Block und einen Stift auf den Nachttisch gelegt, um sich schnell Notizen machen zu können. Aber es hatte nie etwas genutzt.

Sie schaut auf die Uhr. Schon kurz vor acht. Sie ist spät dran. Einige ihrer Kunden rufen gerne früh bei ihr an. Sie wissen, dass sie von Zuhause aus arbeitet und eigentlich immer da ist. Glücklicherweise gibt es kein Bildtelefon und so kann sie auch mal im Morgenmantel ans Telefon gehen und den Eindruck der Geschäftigkeit erwecken.

Sie steht auf, geht ins Bad und beginnt ihr morgendliches Programm. Der erste Schritt ist immer der auf die Waage. Ein Blick auf die Zahlen im Display. Kein Zuwachs. Sie ist zufrieden. Dann dreht sie die Dusche auf, legt das Handtuch bereit und steigt in die Kabine. Das warme Wasser tut gut. Minutenlang steht sie nur so da und lässt das Wasser an ihrem Körper hinunterlaufen. Erst dann greift sie zum Duschgel und seift sich langsam ein. Sie mag es, ihre weiche Haut zu spüren. Vorsichtig streicht sie über ihre Brüste. Nachgiebig und zart fühlen sie sich an. Sie könnten sogar etwas gewachsen sein, bildet sie sich ein. Ein wohliges Gefühl steigt in ihr auf. Vielleicht ist es sogar den Bruchteil einer Sekunde lang eine Art Glücksgefühl. Sie hat Brüste. Schöne Brüste. Ja, das ist Glück. Sie streicht an ihren Körper weiter hinunter. Sie hat sich immer solch ein schönes Dreieck gewünscht, dass sie so oft bei anderen Frauen gesehen hatte. Stattdessen sprießen bei ihr nur vereinzelt ein paar Härchen, die darüber hinaus auch noch recht hell und somit fast nicht zu sehen sind. Die Operationsnarbe ist kaum noch zu fühlen. Beherzt duscht sie die Seife ab, stellt das Wasser aus und greift zum Handtuch.

Vor dem Badezimmerspiegel überprüft sie ihr Gesicht. Es ist nicht sehr hart. Glücklicherweise hat sie keinen erkennbaren Adamsapfel. Sie streicht über die Wangen und spürt die Bartstoppeln. Fast drei Jahre Epilation konnten den Bartwuchs nicht vollends stoppen, und so hat sie sich damit abgefunden, sich doch mehr oder weniger regelmäßig rasieren zu müssen. Aber auch diese Härchen sind hell, sodass sie nicht auffallen. Ein Vorteil, wenn man blond ist. Straßenköterblond hat ihre Mutter immer gesagt. Irgendwie eine undefinierbare Farbe. Eigentlich gar keine Farbe. Sie trägt ihr Haar zu einem kurzen Bob geschnitten. Vorsichtig darauf bedacht, dass die recht hohen Geheimratsecken verborgen bleiben. Es ist noch nicht so lange her, da trug sie jeden Tag eine Perücke. Irgendwann hatte sie sich getraut, war beherzt in einen Friseursalon gegangen und hatte gefragt, ob man nicht etwas aus ihrem Haar machen könne. Die Friseurin war sehr nett und hatte sich gleich ans Werk gemacht. Als Anja sich dann zum ersten Mal mit eigenen frisierten Haaren im Spiegel sah, war es, als ob sie zu neuem Leben erwacht sei. Und niemand hatte unangenehme Fragen gestellt oder gar hinter ihrem Rücken getuschelt. Seitdem ist sie Stammkundin in diesem Salon.

Das Make-up geht ihr leicht von der Hand. Da hat sie schließlich schon jahrelang Übung. Schon als Jugendliche hatte sie sich heimlich geschminkt, und später gab es immer ihre geheimen Exkursionen. Sorgfältig verteilt sie die Grundierung auf das Gesicht. Nicht, dass sie besonders viele Unebenheiten kaschieren müsste. Ihre Haut ist eben und feinporig. Die Augen werden gekonnt mit unterschiedlichen Lidschattentönen akzentuiert und die Wimpern mit Mascara hervorgehoben. Sie betrachtet das Werk im Spiegel und ist zufrieden. Am Kleiderschrank überlegt sie, was sie anziehen möchte. Sie greift zu ihrer Jeans und dem flauschigen Pullover. Das würde sie draußen nie anziehen. Sieht viel zu männlich aus. Aber heute ist es egal. Heute will sie auf gar keinen Fall aus dem Haus gehen.

Jetzt nur noch das übliche Müsli zum Frühstück zubereiten, Tee aufsetzen, und dann kann sie sich ihrem aktuellen Projekt am PC widmen. Als sie die Zutaten für das Müsli zusammenstellt, zuckt sie zusammen. Der Joghurt fehlt. Der steht noch bei der Nachbarin im Kühlschrank. In Gedanken flucht sie vor sich hin und untersucht den Kühlschrank, ob sich nicht andere Frühstücksmöglichkeiten bieten. Aber es herrscht gähnende Leere. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: den Tag ohne Frühstück beginnen oder bei der Nachbarin klingeln. Wie um die Entscheidung zu forcieren, knurrt auch noch ihr Magen. Sie wird wohl klingeln müssen. Ihr Herz schlägt schneller. Sie überlegt kurz, ob sie sich noch umziehen sollte, aber dann kommt sie sich selbst blöd vor. Umziehen um bei der Nachbarin zu klingeln? Das ist doch hirnrissig, schimpft sie mit sich. Doch bevor sie die Wohnung verlässt, schaut sie noch einmal prüfend in den Spiegel.

»Wird schon nichts passieren«, murmelt sie, öffnet beherzt die Wohnungstür und klingelt nebenan. Sie lauscht den Schritten, und die Tür öffnet sich.

»Ach, hallo, Frau Köhler«, begrüßt sie die Nachbarin, »Sie möchten bestimmt Ihre Einkäufe abholen. Kommen Sie doch rein.«

Anja macht einen zaghaften Schritt in die Wohnung.

»Jonas ist im Kindergarten«, ruft die Nachbarin, als ob sie Anjas Frage bereits erahnt hätte. Anja folgt ihr in die Küche. Eine Kaffeetasse steht auf dem Küchentisch, neben der aufgeschlagenen Tageszeitung liegt ein angebissenes Brot.

»Bin gerade beim Frühstück. Ich habe ja erst Ruhe, wenn Jonas im Kindergarten ist. Möchten Sie auch einen Kaffee?«

Nein, danke, möchte Anja erwidern, tut es aber aus einem unerfindlichen Grund nicht. Sie steht nur da, was die Nachbarin als Zustimmung deutet.

»Mit Milch, nicht wahr?«

Anja nickt.

»Setzen Sie sich doch.«

Anja setzt sich an den Tisch. Die Nachbarin stellt ihr eine große Tasse mit dampfendem Kaffee hin. Anjas Magen knurrt aufdringlich.

»Soll ich Ihnen auch ein Brot machen?«

Eine Antwort wartet die Nachbarin nicht ab, sondern steht gleich auf und sucht Brot und Aufschnitt zusammen.

»Haben Sie Urlaub?«

»Nein, ich arbeite zu Hause«, erwidert Anja.

»Oh, das ist ja angenehm. Was machen Sie denn genau?«

»Ich mache Webseiten für Firmen.«

»Das ist bestimmt ein interessanter Beruf. Ich habe ja nur einen PC, um mal ins Internet zu gehen und E-Mails zu schreiben. Mehr kann ich damit nicht. So, guten Appetit!«

Sie stellt das Brot und die anderen Utensilien vor Anja auf den Küchentisch.

»Sollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Bettina.«

»Anja.«

Sie geben sich förmlich die Hand.

»Es ist schön, dass ich hier mal jemanden kennenlerne.«

Anja nickt wieder und beginnt, sich ein Brot zu schmieren. Bettina erzählt, wie sie sich in den ersten Wochen in der Stadt orientieren musste und sich schlecht zurecht fand. Anja kann nur gelegentlich nicken.

»Am Wochenende ist hier doch Schützenfest, nicht wahr? Das soll ja ganz schön sein. Gehst du hin?«

Anja schüttelt heftig den Kopf, während sie in ihr Brot beißt.

»Och, schade. Jonas ist am Wochenende bei meinen Eltern, und ich würde gerne mal unter Leute gehen. Aber alleine? Oder ist es doof dort?«

Anjas Gedanken rattern.

»Das ist nichts für mich.«

»Hast du einen Partner?«

Wieder kann Anja nur kräftig den Kopf schütteln.

»Aber dann musst du erst recht hingehen. Wäre doch schön, sich mal wieder in der Männerwelt umzuschauen.«

Am liebsten würde Anja aufspringen und wegrennen und ist doch wie gelähmt. Panik kommt in ihr auf. Die ganze Situation überfordert sie. Alle möglichen Ausreden schwirren durch ihren Kopf, werden bewertet und auf ihre Folgen hin beurteilt.

»Ich … Ich habe keine Zeit.«

Welch blöde Ausrede, Anja rollt innerlich mit den Augen. Und wirkungslos noch dazu, wie sie sogleich an Bettinas Antwort merkt.

»Keine Zeit gibt es nicht. Komm! Gib dir einen Ruck! Ich hole dich um acht Uhr ab!«

Starre. Sie ist zu keiner Regung fähig. Es könnte ja eine Falsche sein.

»Ich muss jetzt dringend arbeiten. Kunden rufen an.«

Nur schnell raus. Sie greift ihre Einkäufe und nimmt nur noch verschwommen wahr, wie Bettina ihr etwas nachruft, das wie ›Bis Freitag‹ klingt.

Der Tag verläuft wie im Nebel. Sie hat mit Kunden gesprochen, an ihrem aktuellen Projekt gearbeitet und ein paar Rechnungen geschrieben, aber am Abend kann sie nicht mehr sagen, was genau sie getan hat. Ständig hallen diese Worte in ihren Ohren.

»Bis Freitag!«

Immer wieder hat sie daran gedacht, einfach wieder hinüber zur Nachbarin zu gehen, zu klingeln und ihr kurz und knapp mitzuteilen, dass sie am Freitag nicht ausgehen wolle. Sie stand sogar schon an ihrer Haustür, die Hand am Türgriff. Dann aber hatte sie gestockt. So würde doch kein normaler Mensch reagieren. Nichts möchte Anja mehr sein, als ein normaler Mensch. Besser noch: eine normale Frau. Ein normaler Mensch hätte doch kein Problem, mit einer Freundin auszugehen. Freundin, wie das klingt. Schon wieder schreckt sie zusammen. Dieses Mal aber ist es dieses komische, wohlige Gefühl, das sich in ihr breitmacht und das sie erschrecken lässt. Freundin! Bisher hat sie keine. Aber es wäre schön, eine zu haben. Freundinnen sind etwas ganz Besonderes. In den Büchern, die sie liest, gibt es immer wieder Geschichten über das besondere Verhältnis unter Freundinnen. Freundinnen, die sich alles erzählen. Freundinnen, die ausgehen, sich über Männer unterhalten und über sexuelle Erlebnisse. Wieder ergreift sie diese Panik. Da ist etwas, das unbeherrschbar zu sein scheint, aber dennoch einen unbeschreibbaren Reiz ausübt.

Ich muss mich ablenken! Das übliche Abendritual könnte helfen. Wasser kochen, Tee aufgießen und dann mit einem guten Buch auf die Couch legen. Vielleicht schaut sie heute noch die Tagesschau, um wieder auf dem Laufenden zu sein, was so in der Welt los ist. Und in dem Krimi, den sie gerade liest, kommen keine Freundinnen vor. Nur ein einsamer und wortkarger Detektiv. Es hilft. Als sie später ins Bett geht, ist die Panik nicht mehr zu spüren. Morgen wird sie klar sehen und die Verabredung absagen, da ist sie sich ganz sicher.

Das Aufwachen ist wie immer. Keine Erinnerung an einen Traum. Das Morgenprogramm läuft ebenso automatisch ab wie jeden Tag. Heute entscheidet sie sich aber für den kurzen, schwarzen Rock, der viel von ihren Beinen zeigt. Sie hat schlanke Beine. Einer der wenigen Vorteile, sagt sie sich immer. Sie braucht das gute Gefühl, das ihr dieser Rock und die Nylonstrümpfe geben. Gleich wird sie bei der Nachbarin klingeln und höflich aber bestimmt sagen, dass sie morgen nicht mit zum Schützenfest gehen wird. Ja, das wird sie tun. Nach dem Frühstück.

Heute ist immerhin Joghurt da, denkt sie und muss lachen.

Es ist soweit. Beherzt öffnet sie die Wohnungstür und geht auf den Flur zur Nachbarwohnung. Einmal tief durchatmen, dann klingelt sie. Schritte. Die Tür öffnet sich.

»Kommst du jetzt immer zum Frühstück?«

Bettina lacht. Wieso lacht sie denn? Verdammt! Die Szene im Kopf hatte anders ausgesehen.

»Komm herein! Kaffee steht bereit.«

Anja wollte nicht in die Wohnung. Sie wollte ganz bestimmt und nüchtern sagen, dass sie nicht mitkommen will, sich umdrehen und gehen. Sie wollte kein Lachen sehen, keinen Kaffee trinken und auch nicht in die Küche gehen. Aber nun macht sie es doch. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig. Unsicher folgt sie Bettina. Die sitzt schon am Tisch und eine weitere Tasse Kaffee steht bereit.

»Gestern im Supermarkt habe ich gehört, wie sich zwei Frauen über das Schützenfest unterhalten haben. Es soll sehr schön sein. Ich freue mich schon auf morgen. Es wird wirklich Zeit, dass ich mal wieder unter Leute komme.«

Anja lässt sich in den Stuhl fallen.

»Deswegen komme ich eigentlich vorbei«, beginnt sie zögerlich und nippt an dem Kaffee.

»Jetzt sag nicht, du kommst nicht mit?«

Bettina schaut sie herausfordernd an.

»Das kannst du mir nicht antun!«

Anjas Mut ist völlig verraucht.

»Die Frauen haben gesagt, dass man vor zehn Uhr nicht dort sein muss. Wir können doch vorher noch etwas Essen gehen. Ich habe in der Nebenstraße diesen kleinen Italiener gesehen. Sieht nett aus. Warst du da schon mal?«

»Nein, ich gehe selten aus.«

Anja hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Es gibt kein Entrinnen. Sie muss morgen auf das Schützenfest.

»Dann lass uns den morgen mal ausprobieren. Nach leckerer Pasta und einem Prosecco können wir dann schwungvoll den Abend in Angriff nehmen. Was meinst du?« Bettina strahlt. Anja kann nur nicken. Wenn man weiß, dass es keinen anderen Weg mehr gibt, kann man beginnen, sich damit abzufinden und langsam zu entdecken, welche guten Seiten oder gar Chancen dieser Weg bietet. Das hat Anja in ihrem Leben gelernt. Es gibt immer Chancen. Also auch die Chance, dass sie den morgigen Abend überlebt.

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