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Sie lächelt sich an und sieht einen Mann. Anja schüttelt den Kopf, doch der Mann dort im Spiegel verschwindet nicht. Fast vier Jahre ist es nun her, dass sie alles unternommen hat, damit der Körper die Merkmale einer Frau hat. Sie wollte diesen Mann nie wieder sehen, doch er verschwindet nicht. Sie greift zum Lippenstift und zieht ihre Lippen nach. Sie sind zu dünn, findet sie. Dann zupft sie an den Haaren, die sorgsam frisiert sind, um die hohen Geheimratsecken zu verbergen. Wieder betrachtet sie das Spiegelbild. Der Mann ist weiblicher geworden, aber verschwunden ist er nicht. Sie verlässt das Bad, streift ihren Mantel über und nimmt die bereitliegende Einkaufstasche. »Käse«, denkt sie, während sie die Wohnungstür zuzieht. »Käse muss ich auch noch besorgen.« Das Neubaugebiet, durch das sie geht, ist erst vor einigen Jahren entstanden, und es wohnen zumeist Familien mit Kindern dort. Ordentliche Backsteinhäuschen mit akkurat gepflegten Vorgärten reihen sich aneinander. Die Väter arbeiten in der nahen Großstadt und die Mütter hüten die Kinder. Am Tag stehen nur vereinzelt die Zweitwagen vor den Türen der Eigenheime. Abends füllen sich dann die Stellplätze und Garagen mit den größeren Karossen. Anja nimmt gerne den Weg durch den Park mit dem unvermeidlichen Spielplatz, der aber heute leer und still daliegt. Im kleinen Teich gegenüber spiegelt sich die Sonne. Automatisch suchen ihre Augen nach dem Entenpärchen, das sonst immer auf sie zugeschwommen kommt. Aber nicht dieses Mal. Es scheint überhaupt kein Lebewesen dort zu sein. Lediglich der etwas frische Wind umspielt ihre nylonbestrumpften Beine. Eigentlich eher Hosenwetter. Aber sie hasst Hosen. Hosen sind männlich. »Allerdings auch warm«, denkt sie missmutig. Im Supermarkt nimmt sie sich einen Einkaufskorb, geht zum Gemüse- und Obststand und packt Äpfel fürs Frühstücksmüsli in eine Plastiktüte. An der Kühltheke fällt ihr der Käse wieder ein. Sie legt ein bereits abgepacktes Stück Emmentaler und mittelalten Gouda in Scheiben neben den Beutel mit den Äpfeln. Nachdem sie noch Joghurt und Butter in den Korb gelegt hat, denkt sie darüber nach, ob sie sich zum Abendessen etwas Besonderes gönnen sollte. Sie beantwortet diese Frage mit Ja und entscheidet sich für italienische Antipasti. Vor den beiden Kassen hat sich jeweils eine Schlange gebildet. Sie entscheidet sich für die rechte. Vor ihr steht ein Mann mittleren Alters. Verstohlen betrachtet sie seine Einkäufe. Brot, Salami, Mettwurst, Bier und eine Dose Eintopf. Definitiv ein Single. »Guten Tag«, sagt die Kassiererin, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Anja versucht, Blickkontakt zu vermeiden, während sie die Artikel gleich vom Band in ihrer Tasche verstaut. Sie hasst dieses kurze Zucken im Blick des Gegenübers, das die Zweifel ausdrückt, die sie in ihm auslöst. Die Unsicherheit, mit der die Leute sie anschauen. Sie wissen nicht, ob sie wirklich eine Frau vor sich haben. Vielleicht ist es ja doch ein Mann. »Du wirst nie die Frau sein, die du sein wolltest! Du wirst immer anders sein, immer ein Freak sein!«, sagen ihr die Blicke der Menschen. Deshalb hält sie sich lieber fern von ihnen und kann zumindest in ihrer Vorstellung die Frau sein, die sie sein möchte.

»11,58 €«

Anja hält das Portemonnaie schon in der Hand, kramt die Münzen heraus und legt den abgezählten Betrag auf das Band. Wortlos nimmt die Kassiererin das Geld und händigt im Gegenzug den Bon aus.

»Vielen Dank für Ihren Einkauf«, sagt sie noch mechanisch, während sie sich bereits der nächsten Kundin zuwendet.

»Tschüss«, erwidert Anja. Aber das ist nur für sie hörbar.

Zurück geht sie nicht durch den Park, sondern bleibt auf der Straße. Das Haus, in dem sie lebt, ist bereits von Weitem sichtbar. Es ist das einzige Mehrfamilienhaus unter lauter Eigenheimen und Doppelhaushälften. Zwölf Parteien, aufgeteilt auf vier Etagen, die meisten sind Eigentümer. Anja wohnt nur zur Miete und muss somit nicht an Eigentümerversammlungen teilnehmen oder sich um irgendwelche Modernisierungen kümmern. Außer den gelegentlichen Begegnungen im Hausflur, bei denen sie ein neutrales »Guten Tag« haucht, hat sie keinen Kontakt zu ihren Nachbarn. Einmal hat der alleinstehende Herr im Parterre ein Paket für sie angenommen und ihr einen Zettel in den Briefkasten gelegt. Als sie vom Einkaufen zurückgekommen war, klingelte sie bei ihm und war überrascht, dass er sie gleich mit Namen begrüßte.

»Hallo, Frau Köhler, hier ist ihr Paket. Ist hoffentlich etwas Schönes«, sagte er. Sie nahm das Paket, bedankte sich kurz und lief rasch die Treppe nach oben.

Ihr Leben verläuft in geschützten Bahnen. Alle Brücken zum Bisherigen hat sie gekappt. Sie wollte die Vergangenheit vergessen, dieses falsche Leben. Das neue Leben, eines wie sie es sich immer gewünscht hatte, wartete auf sie. Zuerst war jeder Schritt ein Abenteuer. Sie war jetzt Anja, nur Anja. Nichts und niemand sollte daran zweifeln oder es gar infrage stellen. Wie ein zartes Rinnsal, das sich über den Sand schlängelt, hatte sie zaghafte Schritte gemacht und das Leben ertastet. Mit der Zeit hat dieses Rinnsal ein kleines Bachbett gegraben, das ihr Halt bietet. Sie kann in diesem Graben aus Bewährtem bleiben und das Risiko, dass jemand kommt und ihren Traum zerstört, ist gering.

Sie wohnt auf der zweiten Etage. In die rechte Wohnung ist vor Kurzem jemand neu eingezogen. Sie hat die Bewohner aber noch nie gesehen. Bisher kennt sie nur das selbst gemachte Türschild, auf dem «Bettina Mertens« etwas krakelig in den Ton gekratzt ist. Auf der linken Seite wohnt eine ältere Dame, die nur noch selten ihre Wohnung verlässt und am Samstag immer Besuch von ihren Enkeln bekommt, die auf der Treppe jede Menge Lärm verursachen. Einen Aufzug gibt es nicht. Anja hat sich oft gefragt, wie man ein modernes Haus ohne Aufzug bauen konnte. Wo doch alle älter werden und dann eine Treppe zu einem unüberwindbaren Hindernis werden kann.

Heute denkt sie mehr an die Antipasti, die sie sich gönnen möchte. Dazu ein Glas Rotwein und dann den Krimi weiterlesen, der gerade eine so spannende Wendung nimmt. Sie greift in das Seitenfach ihrer Tasche, in dem sich normalerweise der Wohnungsschlüssel befindet. Es ist leer. Sie langt tiefer hinein, spreizt den Reißverschluss, aber es ist kein Schlüssel zu finden. Fieberhaft überlegt sie, ob sie den Schlüssel irgendwo verloren haben könnte, und geht in Gedanken den Weg, den sie zurückgelegt hat, noch einmal ab. Nein, sie kann den Schlüssel nicht verloren haben. Der Reißverschluss war ja geschlossen. Wie hätte der Schlüssel da herausfallen können? Es gibt nur eine Erklärung. Sie muss ihn vergessen haben. Er liegt wahrscheinlich noch auf dem Sideboard, wo er immer liegt. Fassungslos starrt sie die verschlossene Tür an. Langsam steigt Panik in ihr auf. Ihr Herz pocht. Solche Ereignisse sind in dem Bach ihres Lebens nicht vorgesehen. Überraschungen mag sie nicht. Mehr noch, sie machen ihr Angst. Jetzt hier zu stehen, im Wind vor dem Haus, nicht zu wissen, wie sie in ihre Wohnung kommen soll, ist eine Herausforderung. Sie fühlt sich ungeschützt, angreifbar und ihres sicheren Hafens beraubt. Zu allem Überfluss reißt der Wind an ihrem dünnen, kunstvoll drapierten Haaransatz und droht, sie noch angreifbarer zu machen. Hektisch durchsucht sie immer wieder ihre Tasche, kramt alle Einkäufe heraus und legt sie auf die Treppenstufen. Ihr Handy hat sie natürlich auch nicht dabei. Früher gab es wenigstens noch Telefonzellen. Aber wen hätte sie schon anrufen sollen?

»Hallo, Frau Köhler.«

Die Dame aus dem ersten Stock steht in der Haustür.

»Wollen Sie herein?«

»Oh ja, danke.«

Hastig packt Anja die Einkäufe wieder in die Tasche und schlüpft in den Hausflur, während die Dame das Haus verlässt. Anja läuft die Treppen hoch und steht schließlich vor ihrer Wohnungstür. Nun muss sie noch irgendwie hinein kommen. Das Licht im Treppenhaus verabschiedet sich. Sie erschrickt. Ihre Augen brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis sie wieder Konturen wahrnehmen können. Das schwache rote Lämpchen am Lichtschalter erscheint ihr wie ein rettender Leuchtturm bei tobender See. Wieder Licht. Was tun? Sie muss einen Schlüsseldienst rufen, aber das Handy liegt wahrscheinlich friedlich neben dem vermissten Schlüsselbund.

»Da liegt’s ja gut«, knurrt sie. Es wird ihr nichts anderes übrig bleiben, sie muss bei einem ihrer Nachbarn klingeln und darum bitten, von dort den Schlüsseldienst rufen zu dürfen. Plötzlich trifft der Bach auf ein Hindernis. Er weiß, es gibt kein Durchkommen, dennoch drückt er verzweifelt dagegen, bis er sich schließlich aufbäumt und seine Grenzen überwindet. Sie entscheidet sich, bei der älteren Dame zu klingeln. Aus ihrer Wohnung hört sie Stimmen. Als sie näher an die Tür kommt, bemerkt sie, dass es Stimmen aus dem Fernsehen sind. Die nachmittägliche Seifenoper. Sie klingelt. Es tut sich nichts. Sie klingelt noch einmal. Immer noch nichts. Anscheinend hört die Dame nicht mehr gut, und das Klingeln hat keine Chance, die Schicksale im Fernsehen zu übertönen. Also muss Anja es nun doch bei den Unbekannten versuchen. Wieder drückt sie einen Klingelknopf. Kurz darauf vernimmt sie Schritte und bemerkt eine Stimme, die in die Sprechanlage spricht. Sie klopft, um deutlich zu machen, dass sie direkt vor der Wohnungstür steht. Eine Bewegung am Türspion und dann öffnet sie sich.

Grüne Augen schauen sie fragend an. Sie gehören zu einer Frau, Mitte Dreißig, kurzes, rotblondes Haar, ein paar Sommersprossen, die ein Geschirrhandtuch in der Hand hält.

»Entschuldigen Sie die Störung«, beginnt Anja zögerlich. »Mein Name ist Anja Köhler und ich bin Ihre Nachbarin.« Dabei zeigt sie auf ihre verschlossene Wohnungstür. Die grünen Augen schauen sie weiter fragend an. »Ich habe mich ausgesperrt und wollte fragen, ob ich bei Ihnen kurz einen Schlüsseldienst anrufen dürfte.«

»Mama, wer ist das?«, tönt es aus einem Zimmer und ein kleiner, ebenfalls rothaariger Junge kommt angerannt, hält sich am Bein der Mutter fest und starrt Anja an.

»Oh, entschuldigen Sie, das ist mein Sohn. Jonas, sag höflich guten Tag.« Jonas reagiert nicht und starrt weiter.

»Ach, kommen Sie doch herein. Natürlich können Sie den Schlüsseldienst anrufen. Entschuldigen Sie die Unordnung. Jonas, ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Figuren nicht im Flur aufstellen. Das Telefon ist dort und das Telefonbuch liegt daneben. Nun komm, wir räumen die Figuren weg.«

Sie verschwindet mit Jonas in einem Zimmer. Anja sucht im Telefonbuch nach einem Schlüsseldienst am Ort und wählt die Nummer. Ein etwas brummiger Mann mit Akzent meldete sich am anderen Ende. Nachdem sie ihm die Situation erklärt und die Adresse durchgegeben hat, versichert er, dass er in einer Stunde da sein würde. Anja legt auf und will gerade die Wohnung verlassen, als die Frau aus dem Zimmer heraus kommt.

»Haben Sie einen Schlüsseldienst erreicht?«

»Ja, er kommt in einer Stunde«, antwortet Anja.

»Oh, wo wollen Sie denn so lange hin? Bleiben Sie doch! Ich mache uns einen Kaffee. Es ist schön, dass ich eine Nachbarin kennenlerne.«

Anja überlegt, welche Ausflüchte sie nehmen könnte, um nicht hierbleiben zu müssen. Aber der Gedanke, eine Stunde im Treppenhaus zu warten, ist auch nicht wirklich einladend. Zögerlich geht sie zurück in die Wohnung und folgt der Handbewegung der Frau ins Wohnzimmer.

»Ach, legen Sie doch Ihren Mantel ab.«

Stimmt, sie ist ja immer noch im Mantel. Nun fallen ihr auch noch die Einkäufe ein, die noch vor ihrer Wohnungstür stehen.

»Ach, ich habe auch noch meine Lebensmittel im Treppenhaus stehen.«

»Wie, bitte?« Die grünen Augen schauen wieder fragend.

Anja erklärt: »Ich war einkaufen, die Tasche steht noch im Treppenhaus.«

»Hoffentlich verdirbt da nichts«, meint die Frau. »Holen Sie sie doch herein, und ich lege die frischen Sachen so lange in meinen Kühlschrank.«

Anja gibt ihr den Mantel, holt die Einkaufstasche und überreicht der Frau den Käse und den Joghurt.

»Ah, Antipasti«, sagte die Frau, als ihr Blick auf die eingekaufte Auswahl fällt. Erschrocken machte Anja die Einkaufstasche zu und stellt sie in die Diele.

»Wie mögen Sie Ihren Kaffee?«

»Nur Milch, bitte.«

Anja fühlt sich unwohl. Unsicher steht sie im Eingang zum Wohnzimmer. Die Einrichtung ist schlicht und modern. Einige Spielzeuge liegen auf dem Boden, Zeitschriften bedecken den Couchtisch, in der Ecke stehen ein Bügelbrett und ein Wäschekorb.

»Setzen Sie sich doch.«

Die Frau weist auf die Couch. Anja setzt sich auf die Kante und versuchte dabei die Knie zusammenzupressen. Ihre Gedanken kreisen darum, wie sie sich wohl benehmen muss und ob sie die Sitzhaltung länger durchhalten kann. Die Frau bringt den Kaffee, stellt die Tasse vor Anja ab und gießt ein.

»Ach, ich bin ja so unhöflich!«

Die Frau streckt ihr die Hand entgegen.

»Ich heiße Bettina Mertens.«

Sie lächelt. Anja gibt ihr kurz die Hand.

»Es ist wirklich schön, dass wir uns mal treffen.« Frau Mertens lächelt sie an. »Wir sind ja gerade erst eingezogen, und ich kenne hier noch niemanden. Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Seit vier Jahren.«

Die Nachbarin beginnt zu erzählen. Dass sie sich vom Vater des Kindes getrennt hat, weil der Schwiegervater Besseres für seinen Sohn wollte und der Sohn sich nicht eindeutig für sie und sein Kind entscheiden konnte. Dass die Familie ihr dann eine großzügige Unterhaltszahlung angeboten hat, wenn sie wegziehen würde und man ihr auch diese Wohnung gekauft hätte. Anja ist erstaunt, dass man einem fremden Menschen gleich bei der ersten Begegnung so viel Persönliches erzählen kann. Wie reagiert man darauf? Unsicher nippt sie gelegentlich an ihrem Kaffee, der mittlerweile schon kalt ist. Aber sie wagt es auch nicht, ein Nachschenken zu erbitten. Still sitzt sie auf der Couchkante und hofft darauf, dass der Schlüsseldienst doch endlich klingeln möge.

»Und was hat Sie in diese Stadt getrieben?«

Frau Mertens schaut sie fragend an.

Ich wollte weit weg von Zuhause, sollte sie sagen. Sie weiß aber nicht, ob diese Antwort nicht weitere Fragen auslösen würde, und das möchte sie auf jeden Fall vermeiden. Gebrüll erlöst sie. Jonas stürmt herein und klettert auf den Schoß der Mutter. Wieder starrt er Anja an.

»Wer bist du?«

»Eure Nachbarin, Anja«

Kinder machen ihr Angst. Sie sind so unberechenbar und sagen, was sie denken. Man sieht ihm an, dass ihn etwas beschäftigt.

»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«, platzt es aus ihm heraus.

»Was stellst du für Fragen?«, ermahnt ihn seine Mutter.

»Entschuldigen Sie! Kinder …«

Anja sitzt immer noch bewegungslos da. Eine quälende Pause entsteht. Endlich klingelt es. Frau Mertens geht zur Tür und fragt durch die Sprechanlage, wer dort ist.

»Der Schlüsseldienst«, ruft sie.

Anja steht erleichtert auf.

»Danke für den Kaffee«, haucht sie im Hinausgehen.

»War schön Sie kennenzulernen«, erwidert die Nachbarin.

»Kommen Sie doch mal wieder auf einen Kaffee vorbei. Jonas und ich freuen uns immer über Besuch.«

Anja versucht, ein Lächeln als Antwort zu zeigen und ist sich nicht sicher, ob es gelungen ist, als sie die Wohnungstür hinter sich schließt.

Der Mitarbeiter vom Schlüsseldienst entpuppt sich als ein junger Mann, türkischer Herkunft, der schwungvoll die Treppe hinauf stürmt.

»Hallo, um welche Tür geht es?«

Anja zeigt auf ihre Wohnungstür.

»Ich brauche aber vorher Ihren Ausweis. Könnte ja sonst jeder kommen.«

Während Anja ihren Ausweis aus der Tasche fischt, beobachtet er sie genau. Das Foto auf dem Ausweis, den Anja ihm reicht, sieht merkwürdig aus, findet sie. Anja erkennt immer nur einen Mann mit Perücke, wenn sie dieses Bild betrachtet, und wenn man es genau nimmt, ist es das auch.

»Ok, dann wollen wir mal«, sagt Mann, als er den Ausweis zurückgibt und sich der Tür zuwendet. Er holt ein einfaches gebogenes Stück Blech aus seinem Arbeitskoffer, schiebt es in den Spalt zwischen Tür und Rahmen, schlägt einmal mit einem Gummihammer darauf und schon ist die Sache erledigt. Anja ist erschrocken, wie schnell sich eine Tür ohne Schlüssel öffnen lässt. Der junge Mann holt seinen Quittungsblock aus der Tasche.

»Das macht 115 €.«

»Wow, das ist aber ein hoher Stundenlohn«, kann sich Anja nicht verkneifen. Der Schlüsselmann reagiert gereizt.

»Das ist noch günstig! Rufen sie doch mal die anderen Dienste im Telefonbuch an. Das sind die Abzocker. Ich muss schließlich hier anfahren, habe die Kosten für die Werbung und die Ausbildung.«

»Nun beruhigen Sie sich doch!« Anja muss ihre Stimme anheben, damit er sie überhaupt wahrnimmt. »Ist doch gut!«

Der Mann mustert sie von oben bis unten, während sie das Geld abzählt. Anja nimmt jeden seiner Blicke wahr. Ihr Herz pocht ihr bis zum Hals. Sie gibt ihm das Geld. Er nimmt es, reicht ihr die Quittung und lässt sie nicht aus den Augen.

»Was bist du? Ne Tunte?«

Anjas Herz stockt.

»Nein«, murmelt sie.

Sie weiß nicht mehr, wie sie die Einkaufstasche gepackt und schnell in ihrer Wohnung verschwunden ist. Sie weiß nur, dass sie nun hier steht. Mit pochendem Herzen und Angst. Sie versucht, ihren Atem zu beruhigen. Langsam schaut sie durch den Türspion. Der Mann ist weg. Mechanisch bringt sie die Einkäufe in die Küche. Beim Auspacken fällt ihr ein, dass der Käse und der Joghurt noch bei der Nachbarin im Kühlschrank stehen. Und ihr Mantel ist auch noch dort. Ihre Augen werden feucht, Tränen bahnen sich ihren Weg. Sie schafft es noch gerade bis zu ihrer Couch, bis es aus ihr herausbricht. Die Tränen strömen. Der Magen krampft, als wolle er einen mächtigen Tumor herauspressen. Wann wird sie je eine Frau sein? Sie will schreien und kann es nicht.

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