Читать книгу Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein - Verena Huth - Страница 13
2.1 Textuelle Anzeichen einer Fiktion
ОглавлениеIn Bruchstücke finden sich zahlreiche Passagen, die bereits auf den ersten Blick unplausibel wirken – auch wenn man versucht, das Wissen um die später herausgestellten Umstände der Entstehung des Buches beiseite zu schieben. Aus Platzgründen soll hier nur auf eine Szene näher eingegangen werden, die exemplarisch zeigt, wie unglaubwürdig Wilkomirskis Erzählung stellenweise erscheint.
Zu Beginn der Bruchstücke schildert Wilkomirski seine letzten Erinnerungen an seinen Vater. Dieser wird von „Uniformierten“ abgeholt, Binjamin kriecht hinter ihm her, klammert sich an das Geländer des Treppenhauses und klettert hinab. Es ist dieser Passage nicht präzise zu entnehmen, wie alt Binjamin ist. Allem Anschein nach aber ist er noch nicht ganz sicher beim Laufen. Dessen ungeachtet begreift er, dass es sich bei den Männern, die seinen Vater abführen, um „Uniformierte“ handelt. Kurz zuvor hört er sogar den Warnruf: „Achtung! Lettische Miliz!“22 Es ist schwer vorstellbar, dass ein Kind, das möglicherweise erst ein paar Worte gelernt hat, eine solche Aussage aufnehmen und im Gedächtnis behalten kann. Es folgt die Szene der Ermordung seines Vaters; Wilkomirski beschreibt die Gefühle und Gedanken seines frühkindlichen Ich:
Ich bin traurig und erschrocken, weil er sich von mir abgewendet hat, aber ich fühle, daß er es nicht tat, weil er mich nicht mehr liebt. Sein eigener Schmerz muß übergroß gewesen sein, und er hat sich nur abgewendet, weil etwas Unbekanntes noch viel stärker war als er. Mit einem Schlag begreife ich: Von jetzt an muß ich ohne dich weitermachen, ich bin allein.23
Dieses Zitat macht deutlich, dass das Reflexionsvermögen des schreibenden Ichs das des erlebenden weit übersteigt. Das Geschehen wird durch den Erwachsenen interpretiert und geformt. Die Schlüsse, die der Junge aus den Ereignissen zieht, erscheinen in den Mund gelegt – insbesondere der letzte Ausspruch: „Von jetzt an muß ich ohne dich weitermachen, ich bin allein.“ Die zitierte Stelle zeigt, dass Wilkomirskis angestrebtes Erzählverfahren in sich bereits unglaubwürdig und im Grunde auch nicht realisierbar ist. Kein erwachsener Mensch kann das Kind in sich auf authentische Weise wieder zum Sprechen bringen. Warum Bruchstücke trotz vieler Szenen, die, vorsichtig formuliert, mit einem Fragezeichen hätten versehen werden sollen, auf den Markt gelangte und erst Jahre danach als Konfabulation erkannt wurde – um diese Merkwürdigkeit kreist auch die spätere Feuilleton-Debatte.