Читать книгу Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein - Verena Huth - Страница 15
2.3 Überlegungen zum realen Hintergrund
ОглавлениеDoch wie kommt jemand dazu, eine Autobiografie mit fiktiven KZ-Erinnerungen zu veröffentlichen? Welche Motivation könnte dahinter stecken? In diesem Kapitel soll ein Erklärungsversuch dazu angeboten werden.
Den Rechercheergebnissen Mächlers folgend, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass Wilkomirski das Herausbringen einer gefälschten Autobiografie ‚eiskalt‘ plante, um durch das spezifische Thema besondere Aufmerksamkeit und finanzielle Erfolge zu erringen. Das zeigten, Mächler zufolge, die zahlreichen Widersprüche im Text und die Tatsache, dass er historisch schlecht fundiert sei.58 Plausibler als das Bild des heimtückischen Fälschers ist wohl das eines traumatisierten Mannes, der sich eine fremde Biografie aneignet und vermutlich immer noch daran glaubt. Sander L. Gilman bringt hier den Begriff Sigmund Freuds vom „sekundären Krankheitsgewinn“ ins Spiel; dies bedeutet, dass ein Opferstatus auch Vorteile birgt.59 Es sei nur logisch, dass einem Holocaust-Überlebenden mehr Mitleid entgegengebracht würde als einem Adoptivkind, das in frühester Kindheit von Heim zu Heim und von einer Pflegefamilie zur nächsten wanderte,60 bis es schließlich von einem reichen, in der Erziehungsarbeit wohl recht autoritär agierenden Schweizer Ehepaar adoptiert wurde. Als Holocaust-Überlebender konnte sich Wilkomirski in eine Gemeinschaft integrieren, deren Mitglieder ‚ähnliche Erfahrungen‘ gemacht hatten und von denen er akzeptiert wurde. Wilkomirskis tatsächliche Kindheitserlebnisse, wie Mächler sie nachrecherchierte, bilden sich, hochgradig verfremdet, in Bruchstücke ab: „Mit so viel Authentizität habe ich nicht gerechnet. Wilkomirski-Grosjean hat nicht zwei Köpfe, er führt kein Doppelleben, sein Buch erzählt in atemberaubender Verfremdung sein eigenes Leben, dasjenige von Bruno Grosjean.“61
Wilkomirskis Schicksal scheint bemerkenswert. Normalerweise geht man davon aus, dass traumatisierte Menschen ihr Leid zu verdrängen versuchen, um eine Art Verbesserung zu erzielen. Hier verwandelt jemand jedoch seine Verletzungen in die vielleicht schlimmste vorstellbare Leidensgeschichte, um einen emotionalen Ausdruck für seine Erlebnisse zu finden. Wilkomirski verarbeitete vermutlich auch zahlreiche Passagen aus Büchern, Filmen etc., bediente sich also aus dem sogenannten kulturellen Gedächtnis, und glaubte schließlich, es handle sich um seine eigenen Erinnerungen. Ein solcher Prozess scheint nicht weit ab von der Normalität zu sein: Mit Eva Kormann lässt sich sagen, dass jede schreibende Selbstkonzeption „zwischen Diskurs und äußerer oder innerer, in jedem Fall nicht vom Diskurs unabhängiger Realität“ vermittelt.62 Mit anderen Worten: Jegliche Information von außen kann mit dem eigenen Selbstbild eine Verbindung eingehen. So kann beispielsweise über Medien vermitteltes Wissen zum eigenen werden und die Selbstwahrnehmung beeinflussen. Wer könnte sagen, wo die Grenzen verlaufen, falls es solche überhaupt gibt?
Eine Inspirationsquelle für Wilkomirski bildete der Roman Der bemalte Vogel von Jerzy Kosinski63: „Wilkomirski erzählt, ihn habe kaum je etwas so erschüttert wie Der bemalte Vogel [...], den er in den sechziger Jahren gelesen habe.“64 Auf formaler Ebene spiegelt sich dies im Bruchstückhaften von Wilkomirskis Text wieder.65 Auch inhaltlich weisen Der bemalte Vogel und Bruchstücke deutliche Parallelen auf:
In beiden Büchern ist der Protagonist ein vollkommen auf sich allein gestellter Knabe, der in Polen zur Zeit des Nazi-Terrors entsetzlicher Gewalt ausgesetzt ist […]. Die Welt, in der sich die beiden Kinder bewegen, ist von einer radikalen Brutalität, Primitivität und Grausamkeit […]. Beide Kinder sind derart dieser sinnlosen, normlosen und gewalttätigen Welt ausgesetzt, daß sie beständig um ihre Identität ringen und schließlich ihre Sprache verlieren.66
Kosinkis Roman wurde auch deshalb ein Erfolg, weil es hieß, es würden darin autobiografische Erlebnisse verarbeitet.67 Später kam jedoch heraus, dass Kosinki derartige Erfahrungen nie gemacht hatte. Kosinski entpuppte sich also ironischerweise nicht nur in Bezug auf die Text-Gestaltung der Bruchstücke als Wilkomirskis (unbewusstes) Vorbild.68
In der vorliegenden Arbeit wird weiterhin davon ausgegangen, dass es sich bei Bruchstücke um eine (unbeabsichtigte) Autobiografie-Fiktion handelt, Wilkomirski also von der Authentizität seiner Erzählungen überzeugt war (und ist). Daraus ergeben sich folgende Fragen: Kann Bruchstücke demzufolge doch als Autobiografie bezeichnet werden, als Beschreibung des eigenen Lebens durch das Subjekt selbst (und damit durch die subjektive Wahrnehmung geprägt)? Diese Problematik wird u.a. Gegenstand der nächsten Kapitel sein.