Читать книгу Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein - Verena Huth - Страница 14
2.2 Der Skandal von 1998 und seine Vorboten
ОглавлениеFälschungen sind immer spannend. Unter anderem deshalb, weil sie nicht unsere unbedingt besten Eigenschaften auf den Teppich rufen. Man ärgert sich, weil man auf etwas hereingefallen ist, das man hätte durchschauen müssen, und falls man zufällig nicht zu den Getäuschten gehört, so fühlt man sich leicht überlegen, oder man wird sogar ein wenig schadenfroh, weil die lieben Mitmenschen sich so leicht betrügen ließen.24
Dieses Zitat aus Ruth Klügers Artikel „Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann“ beschreibt vermutlich die menschliche Seite des Prozesses sehr treffend, den Daniel Ganzfried im Jahr 1998 in Gang setzte. Doch schon bevor er seinen Artikel veröffentlichte, sogar noch vor Erscheinen von Wilkomirskis Bruchstücke, wurden, quasi auf offizieller Ebene, erste Zweifel an dessen Authentizität geäußert. Der damalige Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, Hanno Helbling, schrieb einen Brief an den Suhrkamp-Verleger, Siegfried Unseld, in dem er Binjamin Wilkomirski als Pseudologen bezeichnete.25 Zwar konnte der Brief keine Beweise vorbringen, die gemachten Vorwürfe erwiesen sich später jedoch als zutreffend. Verlag und Autor verständigten sich auf eine Erweiterung von Bruchstücke: Wilkomirski schrieb ein Nachwort, in dem er auf die Widersprüche in seiner Biografie hinwies und behauptete, er habe „rechtliche Schritte gegen diese verfügte Identität“26 eingeleitet.
Schaut man sich die Rezensionen in Deutschland und der Schweiz kurz nach Erscheinen des Buches an, so fällt auf, dass sich lediglich vier Rezensentinnen von auflagenstärkeren Zeitungen zu Wort meldeten: Klara Obermüller in der Weltwoche27, Taja Gut in der Neuen Zürcher Zeitung28, Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung29 und Renate Wiggershaus in der Frankfurter Rundschau30. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Spiegel, in der taz, der Welt und der Zeit erschienen hingegen keine Besprechungen. Nur bei Taja Gut findet sich ein überschwängliches Lob: Bruchstücke trage „das Gewicht dieses Jahrhunderts“ – eine drei Jahre später oft zitierte Aussage. Klara Obermüller ließ dagegen leichte Zweifel anklingen, ob Wilkomirskis Geschichte glaubhaft sei.31
Auf lokaler Ebene sowie in den USA kann jedoch von einem achtbarem Erfolg des Buches gesprochen werden.32 Vor allem Wilkomirskis Auftritte bei Lesungen und Kongressen wurden durchweg als sehr bewegend beschrieben. Er las seinen Text nie selbst, neben der Darbietung eines Schauspielers spielte er einige Stücke auf der Klarinette. Der tief traumatisierte Mann, dem es unmöglich war, seinen Text vor Publikum vorzutragen, jedoch seine Emotionen in Musik kleidete, rührte die Anwesenden meist sehr.33 In die Zeit relativ kurz nach der Veröffentlichung fallen auch die Preisverleihungen, bei denen Wilkomirski dekoriert wurde.34 Bruchstücke wurde in neun Sprachen übersetzt. Von der deutschsprachigen Version wurden innerhalb von vier Jahren jedoch nur 13.000 Exemplare verkauft. Wilkomirskis Autobiografie war also gerade im deutschsprachigen Raum vom Status eines Bestsellers weit entfernt.35 Zum Vergleich: Die beiden Werke, die im Jahr 1998 häufig als Vergleichsbeispiele herangezogen wurden, um die Qualität von Bruchstücke argumentativ herabzusetzen, Ruth Klügers weiter leben (1992)36 und Imre Kertész' Roman eines Schicksallosen (1996)37, waren bereits im selben Jahr über 100.000 Mal verkauft worden.38
Im Jahr 1998 nahm Wilkomirskis Karriere eine scharfe Wende: In seinem Artikel „Die geliehene Holocaust-Biographie“ in der Weltwoche behauptete Daniel Ganzfried, Wilkomirski habe Auschwitz und Majdanek nur „als Tourist“ besucht. Er sei der uneheliche Sohn der Schweizerin Yvonne Grosjean, die ihn zur Adoption frei gegeben hätte.39 Dieser Artikel Ganzfrieds, wie auch seine folgenden zum gleichen Thema, zeichnete sich durch ein hohes Maß an Polemik aus.40 Als Sohn eines KZ-Überlebenden sah er sich offenbar in einem besonderen Maße vom ‚Schwindel‘ Wilkomirskis betroffen.41 Ganzfried wurde nach eigener Aussage bei seinen Recherchen zur Vergangenheit des Autors überdies stark behindert: „Als ich diesen Fall recherchiert habe, hat man aktiv versucht, mich zu behindern, zu bedrohen, zu bestechen etc. etc.“42 Diese Erfahrung bestärkte ihn zusätzlich in seinem Vorhaben, Wilkomirskis Vorleben sowie den sorglosen Umgang des Verlags und der Agentur mit dem Buchprojekt öffentlich zu machen.
Sein Artikel erhielt große Aufmerksamkeit, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland. In diesen Ländern wurde in den 1990er Jahren die Frage nach dem Umgang mit ‚herrenlosen‘ jüdischen Vermögen in der Zeit während und nach dem Ende des Dritten Reichs heiß diskutiert, was die Debatte um Wilkomirski zusätzlich befeuerte.43
Viele Journalisten hefteten sich argumentativ an Ganzfrieds Fersen, jedoch zunächst ohne eigene Nachforschungen anzustellen.44 Es wurde ebenfalls behauptet, Wilkomirskis Autobiografie hätte eine breite und geradezu begeisterte Berichterstattung erfahren. So schreibt Leon de Winter im Spiegel: „Wilkomirskis Buch bekam hervorragende Kritiken. [...] die New York Times sprach von ‚einer poetischen Vision mit dem Zauber kindlicher Unschuld‘. Auch im deutschen Sprachraum war der Tenor nicht anders.“45 Dem schließt sich Jörg Lau in der Zeit an: „Die Literaturkritik hat die Bruchstücke seinerzeit mehrheitlich mit fast religiöser Ehrfurcht aufgenommen.“46 Wie oben bereits gezeigt wurde, kann von solchen Erfolgen nur bedingt die Rede sein.47 Gerade mit Blick auf das deutschsprachige Feuilleton kann nur der Artikel von Taja Gut in der Neuen Zürcher Zeitung genannt werden, dem ein solch „religiös-ehrfürchtiger“ Ton zu entnehmen ist. David Oels merkt in diesem Zusammenhang an, dass Werturteile wie die de Winters und Laus in einem medialen Zusammenhang zu sehen sind: Um effektvolle Schlagzeilen bringen zu können und damit besondere Aufmerksamkeit für die eigene Position zu generieren, müsse die Fallhöhe des ‚Antihelden‘ vergrößert werden.48 Nach einer vorgeblich überschwänglichen Aufnahme seines Buches geht nun von verschiedenen Seiten ein literaturkritischer Kugelhagel auf Wilkomirskis Bruchstücke nieder:
Es war ermüdend, dieses Einerlei der Sprache, die Klischees, die Perspektiven eines Kindes, das auf Gefahren blitzschnell und korrekt reagiert, aber sich in der Freiheit und Sicherheit auf geradezu idiotische Weise nicht orientieren kann; es klang nach zusammengelesenen Bruchstücken, nicht nach erfahrenem Leid.49
Nach ihrer treffenden Definition des öffentlichen Umgangs mit Fälschungen, schlägt Ruth Klüger nun ebenfalls den durch Ganzfried geebneten Meinungsweg ein. Zwar hatte sie das Buch nach seinem Erscheinen nur angelesen,50 doch wird aus ihrer nunmehr abgeschlossenen Lektüre deutlich, dass sie Bruchstücke auch ohne das Wissen um seine fehlende Authentizität für einen unglaubwürdigen Text von schlechter literarischer Qualität gehalten hätte. Diese Einschätzung mag durchaus zutreffen. Dennoch ist es interessant, festzustellen, dass in Klügers Artikel, der auf analytische Art beginnt, am Ende die eigene moralische und literaturkritische Absicherung in Form eines abfälligen Werturteils über Wilkomirskis Buch nicht fehlen darf.
Der vermeintlich kritiklose Umgang des Feuilletons mit Bruchstücke unmittelbar nach Erscheinen des Werks wurde auch auf sehr viel explizitere Weise als von Klüger vielfach angeprangert. Jörg Lau spricht von einer Art „reflexhaften Angerührtheit“, die man Wilkomirski entgegen gebracht habe und die eine „subtile Form der Abwehr“ offenbare.51 Man verneige sich tief vor dem Opfer, um sich daraufhin nicht mehr mit ihm beschäftigen zu müssen. Eine solche Unantastbarkeit der Thematik bewirke gleichzeitig eine Normalisierung und schließlich Banalisierung des Holocaust.
De Winter argumentiert ähnlich, wenn er feststellt: „Solange wir glauben, dass Wilkomirskis Gestotter authentisches Schmerzensgeschrei aus der Hölle ist, erweisen wir ihm beschämt die Reverenz.“52 Es wirkt insofern fast ironisch, dass de Winter seinen Artikel gerade mit der Berufung auf eine Autorität aus dem Bereich der Holocaust-Literatur beginnt: mit der auf seinen Schwiegervater Gerhard L. Durlacher, der als Kind Birkenau überlebte. Durch diese familiäre Verbindung ergibt sich für de Winter eine persönliche Betroffenheitsebene bei seinem Blick auf den Fall Wilkomirski – was ihm selbst wiederum die notwendige Autorität zu verleihen scheint, um darüber zu urteilen. Es lässt sich so herausarbeiten, wie strategisch de Winters Text aufgebaut ist, um der eigenen Position Gewicht zu verleihen. Jedoch seine Kritik daran, bestimmten Autoritäten bedenkenlos Vertrauen zu schenken und die „Reverenz“ zu erweisen, erscheint auf diese Weise eher unglaubwürdig.
Ohne Laus Beobachtung eines „subtilen Abwehrverhaltens“ die Relevanz abzusprechen, reiht sich sein Text dennoch in eine Liste von Artikeln ein, die, nach Lautwerden der Zweifel an Wilkomirskis Identität, auf den nun ‚richtigen‘ Meinungs-Zug aufspringen und damit am Prozess der Skandalisierung teilhaben. Wenn de Winter die vorangegangene Berichterstattung über Bruchstücke kritisiert, bringt er damit allerdings gleichfalls auf den Punkt, was auch für ihn und seine Kollegen in der damals gegenwärtigen Situation gilt: „Je größer die Anerkennung, die der Kritiker äußern kann, desto nachdrücklicher kann er kundtun, dass er auf der richtigen Seite steht.“53
Es lässt sich auf diese Weise beobachten, wie sich Journalisten im Jahr 1998 deutlich von den Äußerungen ihrer Kollegen von 1995 abgrenzen und die (positiven) Kommentare zu Bruchstücke von damals überzeichnen, um einen größeren Skandaleffekt zu erzielen. Der Wilkomirski-Diskurs ist in dieser Hinsicht von Inszenierungs-Bestrebungen stark geprägt: Die Kritiker Wilkomirskis, die ihm ein pathologisches Aufmerksamkeitsbedürfnis unterstellten, strebten selbst gleichfalls nach Aufmerksamkeit.
Nicht vergessen werden sollte, dass am Schluss dieser Debatte die zerstörte, wenn auch angeeignete Identität eines Menschen steht. Agentur und Verlag vernachlässigten ihre Sorgfaltspflicht. Ein paar Jahre später wurde der Autor medial quasi aufs Schafott geführt. Die Gründe für die öffentlichen Diffamierungen sollen nicht für nichtig erklärt werden. Dennoch erscheint es wichtig zu betonen, dass nicht alle tatsächlich sachlicher Natur waren. Das legt bereits ein Blick auf das eingangs in diesem Kapitel genannte Zitat nahe.54
Auf die brisante Frage, wie Zeitzeugenberichte literarisch zu bewerten seien, auch und gerade, um einen erneuten Wilkomirski-Fall zukünftig zu verhindern, fand niemand eine befriedigende Antwort. David Oels beschreibt, wie trotz der feuilletonistischen Klage über die Vernachlässigung literarischer Kriterien, diese eben auch in der ‚zweiten Runde’ zu Bruchstücke nur unzureichend angewendet wurden: „Angesichts dieses offenkundigen Mangels an verfügbaren und kontrolliert anwendbaren Kriterien blieben die meisten Literaturbeurteiler denn auch beim durch die Rezeptionshaltung naiver Leser gedeckten Pauschalurteil ‚Kitsch‘.“55 Bezeichnend scheint an dieser Stelle, dass auch Ruth Klügers Artikel aus dem Jahr 1998 das Wort „Kitsch“ im Titel trägt. Stefan Mächler bemerkt darüber hinaus:
Durch Wilkomirskis Entlarvung wurde indessen die Wirkung seiner Rhetorik weder gebrochen noch durchschaut. Im Gegenteil setzten zahlreiche Kritiker seine manichäische Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, die keinen Raum für Differenziertheit ließ und den Leser zu einer identifikatorischen Lektüre mit dem Opfer verführte, unter umgekehrten Vorzeichen einfach fort.56
Wilkomirski widersprach den Vorwürfen der Presse zunächst und kündigte Beweismaterial für seine Identität an. Diese Dokumente konnte er jedoch nie vorweisen. Nachdem der Fall in den Medien mehr und mehr hochgekocht war, beauftragte die Literaturagentur Liepmann, die Wilkomirski vertrat, den Historiker Stefan Mächler, die Biografie des Autors detailgenau nachzurecherchieren. Als Mächler seinen Bericht vorlegte, der eindeutig ergab, dass Wilkomirski seine Kindheit in der Schweiz verbracht hatte, zog Suhrkamp das Buch im Jahr 1999, über ein Jahr nach dem Erscheinen von Ganzfrieds Artikel, vom Markt zurück.57