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Nacht-Erfahrungen

Theologie und Spiritualität einer Lebenswirklichkeit

Angst, Schwermut und Trostlosigkeit sind Teil jedes menschlichen Lebens. Weil Gott den ganzen Menschen in seiner leibseelischen Wirklichkeit ansprechen und erlösen will, müssen diese Nacht-Erfahrungen auch eine Bedeutung für den christlichen Glauben haben. Stephan Lüttich

Die Dunkelheit der Nacht versinnbildlicht die negativ geprägte, bedrückende und bedrängende Seite menschlicher Lebenswirklichkeit. Bei der spontanen Assoziation wird die Nacht zuerst als Finsternis, als Ort des Schreckens und der Bedrohung, als Wirkungsort von unheimlichen, vielleicht kriminellen Gestalten begriffen. Das ist aber nur ein Aspekt. Die Nacht ist auch die Zeit des stärkenden Schlafes und des Vergessens, die Zeit der schutzgebenden Dunkelheit, der Bergung vor den Feinden. In ihrer Stille bietet die Nacht den Raum für die Begegnung zwischen Menschen, sei es im intensiven Gespräch oder in der erotischen Vereinigung.

Auch die Religionsgeschichte weiß um die Nacht als ambivalentes Bild. In nahezu allen Religionen ist die Nacht einerseits Wirkungsbereich bedrohlicher Dämonen und Totengeister. So kennt etwa die altägyptische Religion die Vorstellung eines Kampfes, den der Sonnengott Re Nacht für Nacht mit den Chaosmächten der Finsternis zu bestehen hat. Und die bis heute geläufige Idee der mitternächtlichen Geisterstunde oder Johann Wolfgang von Goethes klassische Schilderung der Walpurgisnacht, in der sich Hexen und Zauberer vergnügen, beziehen sich auf uralte Motive der nordischen Mythologie.

Andererseits ist die Nacht aber auch eine privilegierte Zeit für das Gebet und die Offenbarung der Gottheit. So sind die spätantiken Mysterienkulte im hellen Licht des Tages schlicht nicht vorstellbar. Auch die jüdische Bibel erzählt gerade an wichtigen Schlüsselstellen von nächtlichen Begegnungen mit Gott, die sowohl das erschreckendübermächtige als auch das vertrauensvollbergende Moment in der Gotteserfahrung des Volkes Israel zum Ausdruck bringen. Der Islam kennt diese religiöse Dimension der Nacht ebenfalls. So widmet der Koran eine ganze Sure der sogenannten „Nacht der Bestimmung“, in der Muhammad zum ersten Mal die göttliche Offenbarung empfängt.

Diese Doppeldeutigkeit der nächtlichen Dunkelheit hat sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, in Literatur, Malerei und bildender Kunst vielfältige Ausdrucksformen geschaffen. Von den romantischen Nachtbildern Caspar David Friedrichs bis zu Edward Hoppers Ikonen moderner Nächtigkeit, vom Abschied der Liebenden in Shakespeares Romeo und Julia bis zu Arnold Schönbergs Quartett Verklärte Nacht, von den verstörenden Nacht-Gedichten Georg Trakls bis zu den erschütternden Bekenntnissen von Georges Bernanos Landpfarrer zieht sich die Beschäftigung mit der Nacht durch alle Epochen, durch alle Formen und Stilarten menschlichen Kunstschaffens.

Stephan Lüttich

geb. 1974, Dr. theol., nach Tätigkeit im Bistum Hildesheim jetzt Abteilungsleiter bei der Klosterkammer Hannover, einer staatlichen Stiftungsverwaltung.

DIE NACHT ALS ORT GOTTES

Der christliche Glaube dechiffriert das Dunkel der Nacht als Ort Gottes. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, dichtet Jochen Klepper 1937 vor dem Hintergrund äußerster existentieller Not in seinem bekannten Weihnachtslied: Angst, Trauer und Verzweiflung sind ein Raum, den Gott mit seiner Gegenwart erfüllen will. Und seine Gegenwart erhellt diese Nacht. Aber nicht wie ein greller Scheinwerfer, der alle dunklen Ecken und alle finsteren Winkel ausleuchtet. Das Dunkel der Welt und des Lebens bleibt dunkel, auch wenn es von Gott erlöst ist. Das Leiden wird nicht abgetan. Es kann und darf für Christenmenschen Erfahrungen geben, in denen alle Vorstellungen von Gott auf furchtbare Weise zerbrechen. Aber das Entscheidende ist: Da, wo die Geschichte der Glaubenden voller Hoffnungslosigkeit ist, wirkt Gott als einer, der durch Nacht in das aufgehende Licht führt.

Die Nacht als Raum des Übergangs und Ineinanders von negativ-angstvoller und positiv-beglückender Erfahrung ist ein locus theologicus. Das inhaltliche Zentrum und damit die Berechtigung, ja die Verpflichtung, auch die Nacht-Seite Gottes anzuschauen, sind von der Offenbarung vorgegeben. Weihnachten und Ostern, die Hauptfeste des Christentums, sind Nachtfeste: „Zusammen sind diese beiden Feste der Anfang unserer Erlösung, zusammen verheißen sie den Tag, auf den wir im Glauben warten. Weil sie beide den Anfang des Sieges eines ewigen Tages, zusammen den Sieg eines neuen Anfangs bedeuten, darum sind beide Feiern einer allerheiligsten Nacht“ (Rahner, 401). Schon im Weihnachtsgeheimnis spiegelt sich eine starke Spannung: Die Nacht der Not und Armut des Stalls ist gleichzeitig die Nacht des „Gloria in excelsis Deo“, das den Hirten auf dem Feld verkündet wird; die improvisierte Geburt des hilflosen Säuglings ist gleichzeitig die glorreiche Ankunft des erwarteten Friedenskönigs. Und diese Spannung findet sich aufs Äußerste gedehnt in der Pascha-Nacht Christi, die sich vom Abend von Getsemani bis zum Morgen der Auferstehung erstreckt. Die Polarität von Angst und Sieg, Verlassenheit und Erfüllung, Leiden und Herrlichkeit, Tod und Auferstehung wird von der Ambivalenz der Nacht-Metapher umfangen. Ein kantiges, sprachlich herausforderndes Zitat des zu Unrecht nur wenig rezipierten jesuitischen Theologen Erich Przywara fasst diese Polarität zusammen und macht gleichzeitig deutlich, dass es sich dabei um eine Grundstruktur des christlichen Glaubens überhaupt handelt: „Es ist […] die Osternacht. Die Nacht vom Karfreitag her: das Versunkensein in den Widersinn eines durch Seine Schöpfung getöteten Gottes. Die Nacht zum Ostermorgen hin: das Entrücktsein in den Über-Sinn einer durch die Tötung Gottes in Gott hinein erlösten Schöpfung. Es ist darum die ‚wache Nacht‘ […]. Wachheit negativ: als schärfstes Bewußtsein der aufgerissenen Abgründe. Wachheit positiv: als Nacht, die schon Tag ist. Es ist Nacht, in der das Abgründige des Geschöpfes […] und das Grundlose Gottes […] unergründlich eins sind. […] Die Nacht der ‚Gottverlassenheit‘ ist das entscheidende ‚Gott alles in allem‘“ (Przywara, 70f.).

NACHT-ERFAHRUNGEN

Negative menschliche Erfahrungen sind immer zweideutig. Sie können den gläubigen Menschen von Gott entfernen oder ihm helfen, jenseits aller vordergründigen Erwartungen an das Leben zu einer größeren menschlichen und religiösen Reife zu gelangen. Unbedingt festzuhalten ist, dass die Erfahrungen von Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Selbstzweifeln nicht per se ein Zeichen für eine Trennung von Gott sind. Es gilt sie zu deuten und zu gestalten. Dann können sie als wichtige Etappe eines geistlichen Weges verstanden werden.

Dabei ist wichtig, diese spirituellen Nacht-Erfahrungen vom Krankheitsbild der Depression abzugrenzen. Eine klinische Depression ist natürlich keine Frage mangelnder positiver Deutungsversuche des Betroffenen oder der fehlenden Gewissheit des christlichen Glaubens. Eine Depression muss von kompetenten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Ärztinnen und Ärzten behandelt werden.

Nacht-Erfahrungen im Sinne eines spirituellen Wachstumsprozesses sind etwas Anderes. Romano Guardini hat Ende der 1920er Jahre einen großen Essay über den „Sinn der Schwermut“ veröffentlicht. Für Guardini zeichnen sich Menschen, die unter Schwermut leiden, durch eine besondere Empfindsamkeit, ja Verwundbarkeit aus: „Diese Verwundbarkeit stammt […] aus einer durch innere Vielfältigkeit der Anlagen bedingten Sensibilität des Wesens. […] Diese Sensibilität macht den Menschen verwundbar durch die Erbarmungslosigkeit des Daseins […]; das Leiden überall; das Leiden der Wehrlosen und Schwachen, das Leiden der Tiere, der stummen Kreatur … Im letzten kann man es nicht ändern. Es ist unaufhebbar. […] Verwundend sind die Armseligkeiten des Daseins; daß es oft so häßlich ist, so platt“ (Guardini, 71f.). Auch Guardini weiß, dass menschliche Nacht-Erfahrungen zweideutig sind. Die Verwundbarkeit, die er beschreibt, schmerzt. Sie lässt die Schwermütigen leiden. Gleichzeitig erschließt sie ihnen aber eine besondere Tiefe des Lebens und des Daseins überhaupt. Diese Tiefe bleibt für all jene verborgen, die sich nur an der Oberfläche bewegen und Verzweiflung und Angst wegerklären wollen oder mit vordergründigen Ablenkungen zu verdrängen suchen.

So offenbart sich eine unerwartet positive Seite der Schwermut. Guardini ist davon überzeugt, dass der Mensch mit einer Neigung zur Schwermut „das Leid der Vergänglichkeit [erfährt]: Daß das Geliebte weggenommen wird. Daß der Nachbar des Schönen der Tod ist. […] Aber wie in äußerster Gegenwehr dazu ist da die Sehnsucht nach dem Ewigen, Unendlichen; nach dem Absoluten. […] Schwermut ist Ausdruck dafür, daß wir begrenzte Wesen sind, […] Wand an Wand mit Gott“ (Guardini, 85ff.).

MYSTIK DER DUNKLEN GEGENWART GOTTES

Für Guardini enthüllt sich in der Nacht-Erfahrung die menschliche Sehnsucht nach Vollkommenheit und Unendlichkeit. Und hier eröffnet sich eine überraschende Anschlussfähigkeit im Hinblick auf eine religiös indifferente oder sogar anti-religiös eingestellte Gesellschaft. In Situationen existentieller Not und Betroffenheit hilft es nicht, auf das Dasein eines „lieben Gottes“ hinzuweisen, der schließlich doch alles zum Guten wenden werde. Ein solches von keiner Erfahrung gedecktes Behaupten wird vielmehr eher dazu führen, dass Menschen, die es ohnehin schwer haben, einen Zugang zum Glauben an die Existenz Gottes zu finden, sich ganz vom Christentum abwenden.

Die Antwort der Mystik auf die Gottvergessenheit der Gegenwart ist nicht philosophisch-theologische Argumentation, sondern gelebtes Leben.

Angemessener wäre ein vorsichtiger Ansatz, der den Gedanken vom Dasein eines guten Gottes eher vorschlägt als behauptet und auch den Zweifeln Raum lässt. Dies ist der klassische Weg der christlichen Nacht-Mystik. Denn das Fehlen greifbarer Gotteserfahrung behindert die mystisch begabten Frauen und Männer nicht. Der Zweifel scheint geradezu zur Voraussetzung für die wirkliche Begegnung mit Gott zu werden.

Die Antwort der Mystik auf die Gottvergessenheit der Gegenwart ist nicht philosophischtheologische Argumentation, sondern gelebtes Leben. Nicht die Frage nach dem Ursprung des Leidens, sondern der Umgang mit konkreter körperlicher und seelischer Leiderfahrung steht im Fokus der Mystikerinnen und Mystiker. Es gelingt ihnen, ihr eigenes Leiden anzunehmen, indem sie das Negative und die Gottferne in ihre Beziehung zu Gott integrieren. Nicht das bloße Zustimmen zu einer dogmatischen Wahrheit, nicht die unhinterfragte Glaubensgewissheit, sondern das Ernst- und Annehmen der eigenen Begrenztheit, der eigenen Unsicherheit im Glauben und das Ringen um eine lebendige Beziehung zu Gott sind entscheidende Faktoren eines überzeugend und erfüllt gelebten Christentums.

Das ist ein Weg, der nicht intellektuell erklärt, sondern nur existentiell gegangen und solidarisch mitgegangen werden kann. Angesichts aktueller innergesellschaftlicher und globaler Krisen und Konflikte sind Christinnen und Christen herausgefordert, sich nicht in das Schneckenhaus innerkirchlicher Diskurse zurückzuziehen oder über die Entchristlichung der Gesellschaft zu lamentieren. Der Versuch, Gott vor dem Leid in der Welt zu rechtfertigen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aufgabe der Glaubenden ist vielmehr, solidarisch zu sein mit den Leidenden und die Begrenztheiten des eigenen Lebens anzunehmen und zu gestalten.

NÄCHTLICHE SPRACHFORM

Bei dieser geistlichen Gestaltung von Nacht-Erfahrungen kommt der Sensibilität für die sprachliche Form eine besondere Bedeutung zu. Die Uneindeutigkeit metaphorischer Sprache erweist sich hier als Stärke. Indem Sinnzusammenhänge eines Textes aufgebrochen werden, erschließt sich eine tiefere Wirklichkeitsebene. Die Ambivalenz der Nacht-Metapher ermöglicht es, die bedrohliche Seite der belastenden Erfahrung ernst zu nehmen und gleichzeitig die Möglichkeit einer positiven Deutung schon in der Beschreibung dieser Erfahrung anklingen und durchscheinen zu lassen.

Eine im Sinne der Nacht-Mystik geschulte theologische und pastorale Sprache zeichnet sich durch den Verzicht auf terminologische und methodische Engführungen und durch die Rückbesinnung auf elementare Inhalte und Strukturen der Offenbarung aus. Schöpferischer Umgang mit der biblischen und kirchlichen Überlieferung sowie der lebendige Austausch mit poetischen und anderen künstlerischen Ausdrucksformen bieten den Raum, sich zaghaft der dunklen Gegenwart Gottes zu vergewissern. Dabei zeigt die Frömmigkeitsgeschichte des Christentums, dass sprachliche Kraft keine Infragestellung der existentiellen Betroffenheit durch die individuellen Nacht-Erfahrungen bedeuten muss. Gerade die Verunsicherung und Verwirrung von Leben und Denken durch Angst und Schwermut, Enttäuschung und Leid, Trauer und Verlassenheit, Trost- und Hoffnungslosigkeit kann zum Fundament außergewöhnlicher sprachlich-gestalterischer Tiefe werden.

Die Erfahrung von Nacht-Erfahrungen sind kein Zeichen für die Abwesenheit Gottes. Im Gegenteil. „Gott will im Dunkel wohnen“ – es lohnt sich, die Nacht auszuhalten, um Gott in den Abgründen des eigenen Lebens zu entdecken und so die Fülle der Wirklichkeit auszuschöpfen, die sich nicht an der lichten Oberfläche finden lässt. Der Leipziger Dichtertheologe Christian Lehnert fasst die Dynamik dieses geistlichen Weges, der unserer Zeit in besonderer Weise aufgegeben zu sein scheint, so zusammen: „Die gläubige Existenz tritt heute in einem unvorhersehbaren, erst in der Bewegung erfahrenen Sinn ‚hinaus‘ in eine ‚dunkle Nacht‘. […] Der Gläubige muß hinaus, für sich und gefährdet, auf eine Begegnung zu, die völlig offen ist und unkalkulierbar in ihren Folgen. Auf den ‚Gott‘ zu und nicht einmal dieses Wort hilft mehr zu verstehen, was da ,draußen‘ wartet. […] Doch der Gläubige sagt: Draußen, in der ‚dunklen Nacht‘ liege das unverstandene Geheimnis der Liebe verborgen. Wie kommt er dazu? Weil er es glaubt“ (Lehnert, 91).

LITERATUR

Bäumer, Regina/Plattig, Michael (Hg.), „Dunkle Nacht“ und Depression. Geistliche und psychologische Krisen verstehen und unterscheiden, Ostfildern 2010.

Guardini, Romano, Vom Sinn der Schwermut, in: Ders., Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien 1923-1963 [Bd. 3: Gestalten], Mainz-Paderborn 31995, 59-93.

Lehnert, Christian, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 22017.

Lüttich, Stephan, Nacht-Erfahrung. Theologische Dimensionen einer Metapher, Würzburg 2004.

Przywara, Erich, Analogia entis. Metaphysik. (Schriften III: Ur-Struktur und All-Rhythmus), Einsiedeln 1962.

Rahner, Karl, Heilige Nacht, in: Geist und Leben 24 (1951), 401-403.

Schlögl, manuel, Mystik – Atheismus – Dunkle Nacht. Johannes vom Kreuz und Therese von Lisieux im Gespräch mit dem neuzeitlichen Atheismus, Regensburg 2013.

Lebendige Seelsorge 4/2020

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