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Das rechte Maß
ОглавлениеDie Tradition hat die Tugend der Keuschheit innerhalb der Kardinaltugend der temperantia, also des Maßhaltens, verortet. Denn Keuschheit bedeutet, das rechte Maß zu finden in Bezug auf die eigene Sexualität und Geschlechtlichkeit. Insofern hat die Tugend der Keuschheit nichts mit kirchlicher Verbotsmoral7 zu tun, auch wenn sie leider allzu oft genau hier thematisiert wurde. Das Mühen um die Tugend der Keuschheit gehört vielmehr in den Kontext der „Kunst des Liebens“ (E. Fromm)8. Sie ist ein ambitioniertes, lebenslang unabgeschlossenes Projekt.
Die Keuschheit hat die caritas ordinata9, die geordnete Liebe, im Blick. Seit frühester Zeit deutete die geistliche Überlieferung den Ruf der Braut aus dem Hohenlied Salomos „er hat in mir die Liebe geordnet“ (Vulgata Hld 2,4b: „ordinavit in me caritatem“) als Verweis auf Christus.10 In Ihm, dem „schönsten aller Menschen“ (Ps 45,3), findet die unendliche Liebessehnsucht des Menschen ihre Erfüllung. Von Christus her ordnet sich das menschliche Streben nach Erfüllung. Gemäß christlicher Anthropologie ist der Mensch von Beginn an auf ein Gegenüber angelegt und kommt erst im göttlichen wie einem menschlichen Gegenüber zur Erfüllung. Die Keuschheit bewahrt uns vor der Ansicht, wir wären uns selbst genug und die anderen dienten nur dazu, unsere Wünsche zu erfüllen.
Zur Illustration der Unkeuschheit bedient sich Thomas von Aquin eines Bildes aus dem Tierreich. Er vergleicht sie mit dem Blick des Löwen auf einen Hirsch: Der Löwe sieht den Hirsch nur durch sein Beuteschema. Die Eleganz und Schönheit des Hirsches vermag er nicht wahrzunehmen. In ihrem gierigen Zugriff verhindert Unkeuschheit also, die Wirklichkeit in ihrer Fülle und Schönheit zu sehen. Sie ist egoistische Brechung der eigenen Wahrnehmung und „schätzt“ die andere Person immer nur insofern, als sie der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dient.11 „Ein unkeuscher Mensch“, führt Josef Pieper aus, „will vor allem etwas für sich selbst; er ist abgelenkt durch ein unsachliches ‚Interesse‘; sein stets angespannter Genusswille hindert ihn, in jener selbstlosen Gelöstheit vor die Wirklichkeit zu treten, die allein echte Erkenntnis ermög-licht.“12 Positiv gewendet ist die Geste der Keuschheit „die Berührung voller Ehrfurcht. Denn schon die Berührung der Haut berührt die Person, und die Person ist der Ehrfurcht wert. So berührt selbst die Keuschheit nicht das tiefste Geheimnis des Anderen, denn sein Geheimnis ist der Unversehrtheit wert.“13 Insofern muss die Liebe immer wieder neu ausgerichtet, neu geordnet werden, um nicht hinter dem zurückzubleiben, wozu der Mensch in Christus berufen ist.