Читать книгу Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 2 - Vicky Lines - Страница 11
ОглавлениеEin Fels in der Brandung
Samantha Willer
Berlin, Oktober 2015, Mittwoch
George lag sich mit meiner Mutter in den Armen. Bei dem Anblick kribbelte meine Nase unaufhörlich und mich überkamen Schauer von warmen Sommerbrisen im Oktober. Solche bildlichen Assoziationen brauchte ich in der derzeitigen Lebensphase so dringend, dass ich erst zufrieden gewesen wäre, wenn ich die Zeit dieses Momentes angehalten hätte, um sie in einem Bild festzuhalten. Sogar seine Augen schloss er beim Umarmen.
Wie süß war er denn noch? Marzipan? Oder gar Nougat?
Noch vor einem Tag hing ich seinetwegen heulend danieder und rang mit mir und meinem Leben. Ehrlich, mein Leben wechselte die Farben wie eine Reklamewand. Es war wie der Picadilly Circus, mal kreischend bunt, mal erdrückend finster. Jetzt stand ich mit dem stattlichen Lord aus London in der Küche meiner Eltern, besser meiner Mutter. Mit einem unglaublich eleganten und intelligenten Schlipsträger mit Manieren und einem ganz zuckersüßen Herz. Verdammt noch mal, es darf nicht enden, nicht demnächst. Ich wünschte mir Wochen, Monate, Jahre mit ihm!
Der Humor und der Sex bedürfen einer dringenden Klärung, schoss es mir durch meinen Kopf.
UBSI!
Meine linke Hand schnellte vor meinen Mund, um nicht laut meine Gefühlsregung kundzutun. Derweil genoss ich es, zuzusehen, wie er meiner Mutter seinen unbändigen und Charme schenkte. Als sich beide lösten, trafen mich seine grünen Augen mit einem Funkeln darin. Auch George imponierte wahrscheinlich unsere Geschwindigkeit gesellschaftlicher Annäherung. Trotz des fehlenden Adelsstandes meiner Familie und der Tatsache, dass er unter Deutschen weilte, hielt er Schritt. Irgendwann hoffte ich darauf, dass er mir erzählen würde, was er in diesem Moment gedacht hatte. Grübelte ich des Öfteren diese gesellschaftlichen Unterschiede betreffend, fand ich bei meiner Recherche Bilder und einige Texte dazu. Zugegebenermaßen stellte ich mich wahrscheinlich ungeschickt an, doch wusste ich nur, dass seine Mutter noch lebte. Wie war sie wohl? Typische englische Lady? Die Zeit für den schweren Teil stand noch bevor. Er würde nun den beiden Männern gegenüber treten. Mir wurde etwas mulmig zumute. Ich hoffte, dass dieser Abend nicht in einer Katastrophe enden würde. Aus dem Wohnzimmer vernahm ich bereits die ungeduldigen Stimmen der mir nicht wohlgesonnenen Männer. Flehen half auch nichts. Ich musste das durchstehen.
Mein Vater fragte mit seiner genervten Stimme lauter: „Wo bleibt ihr denn? Hört auf, euch in der Küche zu verkriechen. Ich will essen.“
Meine Mutter grinste fies. Sie freute sich darauf, mitzuerleben, was dort drinnen in den nächsten Augenblicken geschehen würde. Mit dem vollzähligen Besteck lief Claudia Willer frohlockend einfach los. George, der mir einen sanften Kuss gab, drückte ich einen Korb voller Getränke in seine linke Hand. Es schien, als wollte er mich aufmuntern. Aus dem Ofen schnappte ich mir die bei uns obligatorische warme Platte mit Hühnchen, Würstchen und Gemüsebeilagen, als ich vernahm, wie Marko genervt stöhnte und geräuschvoll aufstand. Mit einem fragenden Blick drehte sich George um.
Marko: „Die schafft es wieder nicht, die Platte termingerecht hereinzutragen.“
Ich flüsterte George schluckend zu: „Geh los, dränge ihn zurück, der wird gleich auftauchen.“
Die angehobenen Augenbrauen mit dem breiten Grinsen sagten mir, dass George etwas improvisieren wollte. Patrizia hob beide Daumen, um seinem Schabernack zuzustimmen. Durch mein bestätigendes Kopfschütteln schaffte es George tatsächlich, sich noch breiter und größer zu machen, was mich beeindruckte. Welch stattliche Statur mein Lord aufgebaut hatte, imponierte nicht nur mir. Patrizia hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu verkneifen. Genau jetzt wäre ich am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihn weggelockt. Riesig wirkte er nun. Kaum hatte ich die Platte aufgenommen, hörte ich die Schritte des fiesen Schwagers im Flur.
„Samantha, du Schlurfi und …“, verlor er seine Stimme, als er beinahe frontal mit George zusammenstieß.
Das Gesicht Markos befand sich auf Brusthöhe von George. Leider erblickte ich nur schemenhaft den Vorgang. Marko verstummte, wunderte sich, verstand nicht, was genau gerade passierte.
Mein Vater hingegen zeterte beinahe aus dem Wohnzimmer: „Jedes Mal diese Flennerei in der Küche vorher.“
George lief langsam vorwärts und drängelte zum Wohnzimmer zurück. Das erinnerte mich irgendwie an Klaatus Gort, den Roboterkoloss aus „Der Tag, an dem die Erde stillstand“. Hatte ich das richtig gesehen, dass George Marko keines Blickes würdigte und auch keine Miene verzog? Sein linkes Bein schritt voran. Wie Gort eben. Marko blieb gar nichts anderes übrig. Er wich zurück. Mich ärgerte es, dass es davon keinen Film geben würde. Innerlich jedoch, entspannte ich mich ein wenig.
Mein Vater plärrte wieder: „Nicht mal zählen könnt ihr, das ist ein Gedeck zu viel. Zählen müsste man schon können, zumindest die Samantha hätte das lernen müssen.“
War ja wieder typisch. Ich hatte den Tisch nicht eingedeckt, bekam aber wieder die Schuld angetackert. Mein griesgrämiger Vater bekam gar nicht mit, wie George den immer noch perplexen und rückwärts stolpernden Marko ins Wohnzimmer scheuchte. Den Mann meiner Schwester beeindruckte und überraschte die Erscheinung meines Lieblingslords. Einen Schritt nach dem anderen. Unbeirrt. Eindeutig erkannte ich das verdrängte Lachen Patrizias und meiner Mama, die beide dem Schauspiel beiwohnten. George wirkte stark, riesig und seriös, jedoch auch unnachgiebig. Trotzdem prägte sich mir George als humorvoll und verspielt ein, wie ein richtiger Vater eben so sein sollte.
Das erregte mich? Wirklich?
Hatte ich eben einen Vater in ihm gesehen? Oder doch nur meinen verspielten Liebhaber? Es war doch egal, oder? Aber hier stand George für mich ein. Ein Kribbeln im Bauch setzte ein. Warme Wellen durchflossen meinen ganzen Oberkörper, wie ein leichter Hauch eines Windes im heißen Sommer. Schon wieder. Nun bekam Marko unausweichlich die einzige Möglichkeit, sich zu setzen. George stand im Rücken meines Vaters und vor mir harrte der hünenhafte Lord einen kurzen Moment aus. Trotzdem konzentrierte ich mich einfach auf die letzte Bemerkung meines Vaters. Ich war über seine Bemerkung in der Gegenwart von George plötzlich sehr erbost. Egal, ob mein Gort diese deutschen Worte verstanden hatte oder nicht.
Mein aufkommendes Hochgefühl plus dem Ärger in Form eines Spruches, verlieh mir den unbändigen Willen auf Entgegnung, besser auf Deutsch: „Bevor du andere Menschen der Idiotie bezichtigst, solltest du erst testen, ob du nicht selbst der größere Idiot bist!“
Mein Vater drehte sich postwendend um. Doch es schien, als würde George nur anhand der Klangfarbe meiner Sprache wissen, welche Pose angebracht wäre. Beide Männer standen sich eine halbe Armlänge entfernt gegenüber. Zwölf Zentimeter Höhenunterschied glich George mit einer gnadenlos humorvollen Geste aus. Ganz langsam neigte er den Kopf nach unten. Dieser Gesichtsausdruck charakterisierte ein britisches I-am-not-amused-Gefühl. Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, wie Wolken bei einem aufziehenden Gewitter. Dieser Blick durchdrang sicherlich nahezu jedes Pokerface. Solch ein Augenblick entlockte meinerseits beinahe ein Stöhnen, so erregt war ich. Meine Frechheit ging komplett unter. Das kannte ich gar nicht. Durch die spiegelnde Scheibe der Vitrine verfolgte ich das Schauspiel von meinem Gort. Genau das brauchte ich, um nicht vollkommen verunsichert zu sein.
Herrje, George, wie viel Hurra schenkst du mir noch?
„Wenn du nicht mit uns speisen magst, steht es dir frei, an diesem Tisch nicht mit uns Platz zu nehmen, VATER!“, hörte ich Patrizia mit einer unglaublich ironischen Stimme sagen.
„Wer sind Sie denn?“, fragte dieser etwas panisch, denn George stand immer noch einfach nur regungslos da.
Langsam fand ich das albern. Duell zweier erwachsener Männer im Wohnzimmer ist und bleibt kindisch. Dringend war es notwendig, dass ich ernst blieb. Wenn mein Gort ebenfalls solche eine Wirkung wie im Film bei diesem Familientreffen haben sollte, wäre ich auf den Verlauf enorm gespannt. Sollte George jetzt den Mund öffnen und irgendwas seltsames geschehen, würde ich schallend loslachen. Dieses verdammte Kichern kitzelte mein Gehirn. Marko starrte immer noch George von der Seite an. Nun wollte ich unbedingt noch einmal provozieren.
„Dieser Hüne ist mein Beschützer“, kam es sehr mädchenhaft aus mir heraus.
Verdammtes Kichern, es wollte raus und es kitzelte überall. In der Stirn, in der Nase, in der Lunge und im Herzen. Damit ich nicht ganz aus dem Rahmen fiel, musste ich endlich diese Situation auflösen. Vorsichtig tippte ich George auf die Schulter. Er reagierte. Meinem englischen Hünen bot ich, als angeblich braves Mädchen, charmant und ganz unwissend Vaters Stammplatz an. Mein Vater glotze mich fassungslos an, als flöge eine Kuh vor ihm Pirouetten und kleine Schweinchen sangen Polka dazu. Auf diesem mir bisher so verhassten Platz saß mein ungehobelter Vater, seit dieses Zimmer eingerichtet wurde als Oberhaupt und Richter über mich und meinem Lebensstil.
Ich konnte einfach meinen Humor nicht bändigen: „Komm, hier lag kein Handtuch.“
George begann endlich zu grinsen. Zwar versuchte er, es zu unterdrücken, doch vermutete ich, dass er schon die gesamte Zeit bemerkt hatte, dass ich kurz vor einem hysterischen Lachanfall stand. Oder konnte er etwa doch ein wenig Deutsch? So viel mentales Chaos vertrugen diese beiden Wichtigtuer nicht. Mein über sechs Fuß großer George sah mit seinen immer noch angespannten Schultern und der starken Brust aus, als hätte er einen riesigen Atlas zum Mittag im Ganzen verspeist. Oder eine Panzerung in seinem perfekt passenden Anzug eingenäht. Das wirkte so omnipräsent und auch irre attraktiv auf mich, dass ich anfing, automatisch nach seiner Hand zu greifen. Bei der Berührung seiner warmen Haut durchflutete eine Hitzewelle meinen Körper, doch dieses Mal vom Kopf hinunter durch meinen Busen, weiter durch meinen vollkommen nervösen Magen und zwischen meinen Beinen endend.
Bitte nicht allzu erregt werden.
Langsam drehte George seinen Kopf zu mir. Und ich vermutete, er wollte das erste Mal zwinkern, seit er diesen Raum betreten hatte. Was für ein Mann. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Es erregte mich. Entgegen seinem spartanischen Auftreten funkelten seine Augen und brannten sich in den meinen fest. Ein Tunnel bildete sich in meinem Blick, mein Herz versuchte, auszubrechen und die Emotionen schwankten zwischen Angst, Verlegenheit und Fassungslosigkeit.
Ich will mit dir … Jetzt! Hier! Auf dem Tisch! Oh weh, ich wollte ihn. Fliehen wäre super!
Gerade noch so erwischte ich die nächste Abfahrt der Autobahn des Wahnsinns, während es in meinem Kopf bereits Alarm schrie. An dieser Stelle gebe ich offen zu, dass sich auch noch andere Wünsche als Sprachfetzen bildeten. Der Schock über meine Sehnsüchte überraschte mich dennoch. Es blitzten auch ab und an Wörter mit den unanständigen drei Buchstaben auf. Meine Güte, ich hatte arg zu kämpfen, mich zu zügeln. George detektierte ich eindeutig als ein Opfer für mich. Seine Anwesenheit übertünchte vollständig meine übliche Befangenheit. Wischte die ewige Benommenheit beiseite und weckte in mir Begehrlichkeiten.
George blickte zu Patrizia und zu meiner Mutter mit einer angehobenen Augenbraue. Dunkelheit überschattete sein Gesicht beim Anblick Markos und meines Vaters namens Peter. Nun setzte sich mein Vater wütend dreinblickend, samt abgeräumten Gedeck wieder hin. Während Patrizia schelmisch ihren Mann beobachtete, glotzten also Marko und Peter angriffslustig zu George. Nachdem ich die warme Platte auf dem Tisch positioniert hatte, setzte ich mich neben George, normalerweise der Stammplatz von Marko, der sich neben Patrizia niedergelassen hatte. Ich hielt meine Schnauze, weil ich erleben wollte, wie beide auf diesen neuen Spieler am Tisch reagierten.
„Beantworten Sie mal meine Frage? Wer sind Sie?“, forderte mein Vater George ungeduldig und vergeblich auf, sich zu offenbaren.
Allerdings fragte er auf Deutsch. Somit drehte ich meinen Kopf, um George anzusehen. Weil der jedoch erst meinen Vater, dann Marko ins Visier nahm und letztlich mich mit gehobenen Augenbrauen fragend ansah, erwartete er natürlich eine Übersetzung. Für genau diesen Augenblick war die förmliche Kleidung von George gerade passend. Diplomat fiel mir ein, staatsmännisch und gediegen. Doch die weiterhin schwelende negative Stimmung verwirrte mich. Ohne nachzudenken, legte ich meine Hand auf seine. Mein Herz hüpfte ganz kurz zweimal. George reagierte mit einem kurzen Zucken um seine Mundwinkel zur Zimmerdecke und ich beugte mich vor, um seiner Geste entgegenzukommen. Ganz nah war ich seinem Ohr und roch dieses markante Deodorant.
„Lieber George, mein Vater versucht zu erfahren, wer du bist“, dolmetschte ich ins Englische.
Er senkte seine Augenbrauen. Hob sie beide wieder an. Allerdings änderte sich seine Mimik keineswegs. Langsam wandte sich mein Lord meinem Vater zu. Der Hals zerrte dabei nicht ein bisschen am Hemdkragen.
George verblüffte alle mit stoischer Etikette: „Wer ich bin, dürfte als Vorstellung nicht dem Protokoll angemessen sein. Aber ich kann meinen Namen preisgeben, George“.
Dann aber fragte er mich in einem sehr lockeren leisen Tonfall, „Entschuldige, darf ich dies überhaupt tun?“
Vor lauter Ironie biss ich mir auf meine Unterlippe. Dieses ungewohnt amüsante Theaterspielchen machte George sichtlich Spaß. Also übertrug ich seine Bemerkung für meinen Vater ins Deutsche. Woraufhin sich George ein wenig entspannte. Meine Mutter stand auf und balancierte mit einer der Platten voller Schnittchen und Beilagen zu meinem Londoner Hünen. Wahrscheinlich versuchte Claudia, diese anfängliche erlebte gute Laune zu retten. Das kannte ich so gar nicht von ihr. Meine Mutter mochte George anscheinend sehr.
Sie bot George eine Auswahl von Schnittchen an und fragte: „Lieber George, möchten Sie einen Happen?“
„Gerne, Mylady“, antwortete er britisch.
Prompt drehte sich Patrizia weg, weil sie anfing zu lachen. Erst verhalten, dann unterdrückte sie es wieder. George nahm sich dezent aber elegant zwei belegte Brötchen, eines mit Lachs und eines mit Kräuterquark mit Messer und Gabel von der Servierplatte. Alle staunten, mit welcher Sicherheit und Eleganz dies geschah. Woraufhin meine Londoner Eroberung warm lächelte und hoheitsvoll nickte. Meine Mutter genoss diesen Augenblick sichtlich, errötete jedoch leicht, bevor sie wieder zu ihrem Platz retournierte, um die Platte auf den gedeckten Tisch zurückzustellen. Geschwind erhob sich George, griff helfend mit seinen langen Armen nach der Platte. Galant setzte er diese auf den freien Platz auf dem Tisch ab. Fasziniert merkte ich, dass Marko ihn weiterhin argwöhnisch beobachtete. Als meine Mutter sich gesetzt hatte, hob George ihre Hand und kredenzte ihr einen anerkennenden Handkuss. Meine Mutter knickste automatisch. Prompt reagierte mein Vater ungehalten und versetzte die eben abgestellte Platte, irgendetwas vor sich hin brabbelnd, mehr zur Tischmitte. Auch Marko atmete missbilligend ein und aus. Leider verstand ich nicht, was genau zwischen den Männern vorging. So suchte ich Blickkontakt zu Patrizia. Diese zwielichtige Stimmung verunsicherte mich doch erheblich. Meine Schwester hob leicht irritiert ihre Schultern, als wir einander ansahen.
Mein Vater: „War ja klar, dass meine älteste Tochter einfach einen Fremden zu ihrer Beruhigung mitbringt. Hofft, von ihrer vergebenen Bringschuld abzulenken. Ist ja einfacher.“
Geschockt versteifte ich mich und saugte die plötzlich zu Eiseskälte abgekühlte Luft ein. Patrizia jaulte leise auf, während meine Mutter mit hochrotem Kopf begann, sich ihres Mannes zu schämen. George blickte in die Runde und fixierte den nickenden Marko. Unwillkürlich verfinsterte sich der Blick des Lords, ignorierte nun das mittlerweile stehende Familienoberhaupt der Willers, um den Schwager genau in Augenschein zu nehmen.
George erhob sich und beugte sich zu meinem Vater ein klein wenig hinab: „Meine Erfahrungen von den Begegnungen mit Deutschen empfand ich immer als respektvoll. Doch solche despektierlichen Gesten befremden mich. Eine Vorstellung des Gastgebers setze ich voraus, bevor ich auch nur im entferntesten daran denken würde, eine höfliche Konversation zu eröffnen. Auch ist es im europäischen Kontext Usus, dass der Hausherr die Gäste begrüßt.“
Diese Stimme durchdrang mit einer Präsenz das Familientreffen, als schnitt jemand eine grüne Gurke mit einem scharfen Messer. Unvorbereitet durchfuhr mich ein Schauer. Niemand musste verstehen, was George gesagt hatte, es reichte, seiner Betonung und Stimmlage gewahr zu werden. Vermutlich müsste ich mich gleich entscheiden, ob ich weiterhin einen Vater und einen Schwager zu meinem Familienkreis zählen würde. Meine Entscheidung stünde sehr schnell fest. Obwohl ich mir unsicher gewesen wäre, welche Zukunft sich mir eröffnete. Mein Herz raste bei der Vorstellung, panische Gedanken projizierten beinahe Albträume vor meine Augen. Mitten in diesem heftigen Erlebnis verließ George einfach das Wohnzimmer. Sofort fingen Patrizia und Mama an zu tuscheln. Mein Lord würde doch nicht ohne mich die Wohnung verlassen, wie ein Feigling? Allerdings stünde dies einem Familienvater eher schlecht zu Gesicht. Langsam fasste ich Mut und spendierte dem Lord ein Vertrauensguthaben.
Sollte ich ihm hinterherlaufen?
Fieberhaft blickte ich zwischen Tür und meinem Teller hin und her, dauernd versuchte ich, zu entscheiden, ob ich ihm folgen oder brav verweilen sollte. Ich zuckte zusammen, als meine Schwester mich zurückhielt, indem sie unter dem Tisch meinen Oberschenkel mit ihrer Hand festhielt. Meine Mutter gab die Aussage von George mit einem verächtlichen Ton, der mich frösteln ließ, auf Deutsch wieder.
Aber George! Ich muss doch hinterher.
Meine Augen erblickten einen mich beobachtenden, viel größer wirkenden und wissenden Mann im Türrahmen. Sein stummer Vorwurf brachte meine Zwietracht zum Verstummen. Vor Kraft strotzend, ein raumfüllendes Charisma und eine Coolness, als wäre nichts geschehen, kehrte Lord Haggerthon mit zwei mir bekannten Flaschen in seiner Hand zurück. Wir hatten doch Wein mitgebracht und vergaßen, unser Geschenk mit einzubringen. Jemand seufzte auf. Und ich hörte ihn „God save the Queen“ summen. Kaum stand er neben mir, verstummten alle Geräusche im Zimmer.
„Immer noch da“, sagte mein Vater kleinlaut.
Mein neuer Freund war nicht geflohen, wie ich es mehrmals getan hatte. Wünschenswerter verlief bisher keine meiner letzten Bekanntschaften mit Männern. Die Möglichkeit, dass George mir zugehört hatte, baute in mir einen Funken Hoffnung auf. Ein kleines entspannendes Seufzen entfuhr mir, während ich meine Schwester lächeln sah.
„Briten tun immer seltsame Dinge und geben oft vor, als wären sie alle irgendwie besser oder von Adel“, versuchte Marko, sich zu produzieren.
Seine Fehler bei anderen suchen, nervte nicht nur mich an Marko. Na gut, dachte ich mir, warte ich ab, wie sich das entwickelt. Irgendwie keimte das Körnchen Zuversicht, diesen Abend glimpflich überstehen zu können. Entwickelte sich noch. George widmete sich besonnen einer der mitgebrachten Flaschen Wein mit einem Korkenzieher. Erstaunlich, mit welcher professionellen Leichtigkeit der Korken herausploppte. Dann griff Lord Haggerthon nach einer Serviette und wickelte diese um den Kelch der Flasche. Das Ploppen bewirkte bei mir einen regelrechten Startschuss. Nun fasste ich endgültig den Mut und verteidigte ihn.
„Manche Briten haben einen Adelstitel oder bekleiden eben eine Position in politischen Ämtern. Ich würde nicht so oberflächlich sein, Marko!“, erwiderte ich überraschend sicher der Anspielung.
Ehrlich gesagt, fühlte ich mich in die Enge gedrängt. Unglaublich schnell stand George mit dem Chardonnay hinter meiner Mutter, bot ihr einen kleinen Schluck in ihrem Schoppen an und wartete ihre Meinung ab. Meine Mutter nippte an der kredenzten Weinprobe. Ihre Ohren erröteten leicht, was sie mit einem Nicken und angehobenen Augenbrauen wohlwollend quittierte. Diese Schüchternheit meiner Mutter durchlebte ich auch schon. Der Wein mundete ihr merklich vorzüglich. Völlig nebensächlich inkrementierte George dieser schnöden Runde Eleganz und Esprit. Claudia neigte sich leicht und begann zu lächeln. Bevor sie einen weiteren Schluck zu sich nahm, nickte George. Uns drei Frauen begann er, den Weißwein einzuschenken. In dieser Rolle blieb er steif und verschränkte den linken Arm stilvoll hinter seinem Rücken. Diese leicht graumelierten Schläfen und der perfekte Haarschnitt wirkten unglaublich anziehend auf mich, wo ich doch eigentlich gelackte Schönlinge seit geraumer Zeit verachtet hatte. Langsam brachte mich mein lieber George um den Verstand, obwohl ich immer noch ein bisschen sauer auf ihn war. Hundert Prozent vertraute ich keinem Mann mehr, lautete eines meiner Mantras.
„Als Kellner brauchen Sie hier keine Etikette. Ich vermute mal, Sie sind ein ganz normaler Engländer, wahrscheinlich auch Informatiker. Bloß ein Kollege von Samantha“, reklamierte Marko in Englisch, seines Sieges bewusst.
Das Knistern in der Luft intensivierte sich merklich. Ich hoffte immer noch inständig, die sich anbahnenden Handgreiflichkeiten blieben aus. Es war wie bestes Tennis. Nun retournierte George, sodass ich beinahe vom Stuhl rutschte.
„Es tut mir leid, aber eine Expertise der Rechentechnik befindet sich nicht im Repertoire meiner Ausbildung. Nur ab und an sind Titel wichtig, um bestimmte Regeln und Voraussetzungen zu bekunden. Bin ich unter Freunden, verzichte ich lieber auf diese Förmlichkeiten“, trieb er Marko in die nächste Ecke.
Patrizia hielt sich zurück, sie schüttelte nur leicht den Kopf, ließ George seelenruhig gewähren. Eben erfuhr Marko eine versteckte diplomatische Zurechtweisung und auch eine Missbilligung seines Verhaltens. Sogar ein verkapptes Freundschaftsangebot interpretierte ich hinein. Wie raffiniert. Meine Schwester genoss es, wie ich auch. Sie lehnte sich zurück und betrachtete aufmerksam den abwägenden Ehemann. Sollte ich eingreifen, ohne es plump aussehen zu lassen?
Meine Mutter fragte interessiert: „Wie heißen Sie denn wirklich?“
Mit einem charmanten Lächeln erwiderte mein Lord ungewohnt förmlich: „Für Sie George. Mein Familienname lautet Haggerthon.“
Marko, der typisch in die Kerbe schlug, wollte nun Klarheit: „Ich denke doch, ich rede Sie korrekt als Herr Haggerthon an.“
Nun tat sich die Lücke perfekt auf, durch die ich eingreifen konnte. Sogar Marko musste doch endlich befreit werden und ich durfte ihm aus der Patsche helfen.
„Nein, tut mir leid, Marko“, warf ich ein.
Woraufhin meine Mutter und auch Marko mich überrascht anstarrten. Mein Vater musterte die ganze Zeit fast schon feindselig George. Die englische Sprache kanzelte meinen Vater ab.
„Wie denn dann?“, zickte mich Marko ungeduldig an.
Männliches Zicken empfand ich als unsexy. Selbst bei uns Frauen war das ausschließlich bei Hormonschwankungen entschuldbar. Doch hier pumpten zwei Männer sinnlos Testosteron in die Luft. Und einer saß einfach nur da, kochte im eigenen Saft und schmiedete Pläne. Alle Frauen in diesem Theaterstück wohnten als Zuschauerinnen bei. Nun holte ich aber Luft.
„Das ist einfach, Marko. Mein Freund lautet mit voller Anrede: Eure Lordschaft Earl George Haggerthon, Mitglied des House of Lords. Das kommt der korrekten Anrede sehr nahe, oder?“, offenbarte ich den Titel vom Lord George.
Der erwiderte meinen hoffnungsvollen Blick mit leuchtenden Augen: „Eure Lordschaft Earl of Haggerthon dankt Madame verbindlichst. Wenn Sie, Samantha, so frei wären, mich zu entschuldigen, um dieser Konversation einige Ausführungen hinzufügen zu dürfen?“
Während dieses Ausspruches hatte George Haltung angenommen. Patrizia hielt sich amüsiert die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verkneifen. Aus meinem Hals nahm ich ein lustiges Glucksen wahr.
Oh meine Güte. Jetzt lief es aber stark in Richtung Komödie.
Allerdings beugte sich George zu mir hinab, nachdem er sich sein Glas als Abschluss seiner kurzzeitigen Tätigkeit eines unterhaltsamen Sommeliers eingegossen hatte. Vermutlich als Eigenlob näherte er sich mir elegant und gab mir einen sanften langen Kuss auf die Wange. Diese kurze Zeit, da ich seinem Duft wieder gewahr wurde, merkte ich dieses Prickeln in mir. Oh nein, meine Brustwarzen versteiften sich auch noch. Heftig kämpfte ich um Beherrschung. Ablenkung erkannte ich als die einzige Methode, heil aus der Situation heraus zu gelangen. Samantha, das Hormonfrettchen, schoss es mir entsetzt durch den Kopf. Erst im Moment nach meinem inneren Entsetzen erkannte ich, dass Lord Haggerthon himself mittlerweile das Familientreffen steuerte. Der englische Politiker dominierte und lenkte bereits unser Familientreffen, was ich ihm noch vor zwei Wochen nie im Leben zugetraut hätte. Diplomatie in perfekter Harmonie? Er spielte mit uns allen, als wären wir Schachfiguren. Dabei fühlte ich mich noch nicht einmal ein klein wenig benutzt. Daran merkte ich, wie viel ich noch über Earl George Haggerthon lernen musste. Diplomatisch grandios, fand ich.
„Sehen Sie, Herr Michaels, Marko richtig? Es scheint so, als müsste ich mit offizieller Anrede sehr viel mehr erklären. Sie fragen sich doch nun bestimmt, wie Sie mich anreden sollen oder welches Benehmen dazu führen könnte, dass ich Sie maßregeln müsste. Eben weil es sich mir gebietet, euch als Samanthas Familie nahe zu sein, verzichtete ich auf unnötige Etikette. Familientreffen stellen sich mir als wichtiges soziales Instrument dar. Deshalb war ich so froh, hier sein zu dürfen. Freundschaftliche Umgangsformen im Kreis der Familie der Frau an meiner Seite, der ich versuche, auf Augenhöhe zu begegnen, fand ich als sehr passend. Alles andere hat etwas mit Respekt und Stil zu tun“, hörte ich meinen großen Engländer, Familienoberhaupt, Vater und Außnahmeschlipsträger säuseln. Schach. Marko war festgenagelt. Und George kleidete sich nicht nur mit diesem Schlips, er nutzte ihn aus. Es war sein persönlicher kultureller Sklave. Meine Bewunderung wuchs mit meinem Wunsch, ihn nicht mehr loslassen zu wollen.
Meine Schwester beugte sich zu mir und flüsterte in einem erstaunten Ton: „Mann, George ist echt gut. Er hat mit einer Einfachheit die Kontrolle übernommen, dass ich Gänsehaut bekomme.“
Natürlich nickte ich lächelnd meiner Schwester zustimmend zu. Meine Mutter dolmetschte ihrem schnaubenden Mann die Konversation. Das Wort Stil hauchte Patrizia noch einmal hörbar in die Runde. Alle schienen verstanden zu haben, was sie andeutete. Sie forderte erwartete Offenheit ein. Ihr Mann fand das gar nicht amüsant und mein Vater driftete in irgendwelche Erinnerungen ab, was man ihm ansah. Auch mir ging gerade die viel gerühmte Realität verloren. Mein Schwärmen, bei dem ich mir in einer mädchenhaften Fantasie zusammensabbern wollte, wie es mit den Haggerthons weiterging, lenkte mich bestens ab.
Mein Vater drängte nun wieder zu einer ganz wichtigen Frage, dachte er: „Lord Haggerthon. In welcher Beziehung stehen Sie zu meiner Tochter?“
Ritscheratsche, sägte mein Vater mal wieder mein Gutfinden einfach radikal ab. Warum nur war er dermaßen unsensibel zu mir? Hatte er vergessen, mich gerne zu haben? Schwach erinnerte ich mich an meine frühe Kindheit. Die gemeinsamen liebevollen Stunden mit ihm entzweiten meine Meinung zu Peter Willer. Was war nur geschehen, dass mein Vater mich nicht mehr mochte? Ich dolmetschte meinem Londoner diese komische Frage, obwohl die Geste meines Vaters unmissverständlich den Inhalt seiner Frage unterstrichen hatte.
Nun kroch der Humor von George hervor, indem er lächelnd antwortete: „In einer sehr frischen, bunten und herzlichen Beziehung, Herr Willer.“
In diesem Augenblick schoss ein Anblick der unterschiedlichsten Blumen des Waldes durch meinen Kopf, die ich als Biene auf einer Sommerwiese in mitten eines Waldes ansteuerte. Diese Farben und den Geruch konnte ich sehr gut beschreiben. Erst auf dem Habichtskraut, dann hinübergesummt zur Erika. Es war ein Gefühl der inneren Schönheit. Labkraut und Sauerampfer erfüllten mich vollends als kleine Biene mit jenem Gefühl. Beinahe begann ich wirklich mit dem Summen anzufangen. Der Wind strich über die blühende Wiese. Ganz sanft wehte er mich ohne Aufwand von Blume zu Blume. Jeder Windstoß ließ es wie eine Orgelweise anhören.
Das Lachen aller, außer dem meines Vaters, hallte noch nach, klang aber durch die Reaktion meines Vaters nach der Erläuterung meiner Schwester aus. Meine Mutter lächelte glücklich. Vielleicht schlängelte ich mich durch diesen Abend ohne weitere peinlichen Momente. Ich war gerade unbeschreiblich glücklich, weil George mir Kraft gab und mir Halt an meiner Seite garantierte. Nur schwer kehrte ich in die Normalität zurück. Doch etwas machte mich doch noch unruhig. Mein Vater meldete sich kommunikativ zurück, nachdem er sein erstes Mettbrötchen trotzig verspeist hatte. Leider ein Thema, was ihm wieder mal so brennend auf der Zunge lag. Nun würden George und ich erfahren, wie mein Vater denn das alles verarbeitete.
„Nun, wussten Sie, LORD HÄGGAZON, dass meine Tochter keine Kinder will?“, dachte er, meinen Lord schockieren zu können.
Zuerst moserte meine Mutter meinen Vater mit einem Zischen wie eine Ladung Tabasco an, wobei Patrizia blasser wurde. Marko zog überraschenderweise die Augenbrauen zusammen. In mir spannte sich alles an. So schnell von Wohlgefallen in leichte Panik zu verfallen, tat meinem Kreislauf nicht gut. Da war sie, meine schlimmste Pein. Ein Schamgefühl umklammerte mich wie eine Zwangsjacke.
Nach der zögerlichen, eher instinktiven englischen Wiedergabe meinerseits, konterte George so unvermittelt ohne Denkpause für alle, inklusive mir: „Keine Kinder möchte? Dem widerspreche ich ganz und gar.“
Es gab zwei Lager, meine Mutter, Marko und Peter auf der unwissenden Seite und meine Schwester mit mir auf der angespannten wissenden Seite. Vollkommen steif stierte ich auf die Tischdecke, weil ich mich nicht mehr zu rühren wagte. Nein, nicht mehr rühren konnte. Jetzt fühlte ich mich genauso, wie damals, als mich dieser blöde Dimitri unbedingt fesseln musste, weil er sonst seine blöden erotischen Machtspielchen nicht genießen konnte. Ein weiteres dunkles Geheimnis in meiner unentdeckten Vergangenheit.