Читать книгу PYROMANIA. DAS WELTENBRENNEN - Victor Boden - Страница 5
Dreiundvierzig Kriegsjahre später …
ОглавлениеMargaret Oakes blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in die grelle Morgensonne, vielleicht in verzweifelter Hoffnung, das gleißende Licht werde sie erblinden lassen – um das Folgende nicht sehen zu müssen. Doch nur helle Punkte tanzten vor ihren Augen, als sie zu ihrem Sohn herüberblickte.
Seit Stunden starrte er mit leeren Augen auf den Bildschirm, bis der stetig wiederholte Werbespot des Friedenskorps sie für die Dauer von fünfundvierzig Sekunden mit Leben erfüllte.
Dieses verbissene Interesse erfüllte sie mit Furcht. Zweimal hatte sie versucht, den Fernseher auszuschalten. Zweimal war er stumm aufgestanden und hatte ihn wieder eingeschaltet.
Nervös schritt sie im Zimmer auf und ab. Ruhelos. Wie ein Tiger, der den Fangschuss ahnt. Ohne Rettung.
Die Hochzeitsfotos an der Wand zeigten eine hübsche Frau, die kaum noch Ähnlichkeit mit jener Frau besaß, der Sorgen und Entbehrungen tiefe Falten in das Gesicht gegraben und dunkle Augenringe hinterlassen hatten.
Margaret bereute ihre vorschnelle Äußerung, sie würde ihm verbieten, dem Friedenskorps beizutreten. Ihr Sohn missverstand diese Aussage als Zorn. Er glaubte, sie wollte ihn einschränken. Ihn vor seinen Freunden lächerlich machen. Doch sie war nicht im Mindesten wütend auf ihn.
Sie empfand … Angst. Nackte Angst!
Sie ahnte … nein, sie wusste mit der Gewissheit einer Mutter, dass sie ihn nicht mehr lebend wiedersehen würde, wenn er dem Friedenskorps beitrat. Möglicherweise würden sie ihn gar nicht nehmen, versuchte sie den letzten Funken Hoffnung im Herzen zu einem kleinen wärmenden Feuer zu entfachen. Doch ihr Sohn war jung und gesund.
Das leise Surren des elektrischen Rollstuhls riss sie aus ihren Gedanken. Timothy. Vielleicht gelang es ihrem Ehemann, den Sohn von seinem Vorhaben abzubringen. Schließlich hatte die Armee ihn zum Krüppel gemacht. Ja, ein Gespräch von Mann zu Mann – zwischen Vater und Sohn – vermochte ihren Jungen möglicherweise doch noch umzustimmen.
Ihr Mann manövrierte seinen altersschwachen Rollstuhl zum Tisch. Ein neues Modell konnten sie sich nicht leisten. Von der Implantation neuer Beine nicht einmal träumen.
Das Projektil hatte ihn in den Rücken getroffen, also drehte der Bastard von der Insurance Corporation den Sachverhalt seinerzeit so, als sei ihm die Verwundung während der Flucht zugefügt worden. Also keine Abfindung. Ablehnungsgrund: Feigheit vor dem Feind!
Hätten sie sich gegen diese Entscheidung zur Wehr gesetzt, wäre vielleicht sogar die staatliche Hilfszahlung eingestellt worden. Wegen unehrenhafter Entlassung aus der Armee. Nun, sie kamen zurecht. Irgendwie. Bisher. Aber nun … Ohne ihren Brian? Wie sollten sie das schaffen?
Jetzt lag diese verdammte kleine Plastikkarte auf dem Tisch und drohte alles zunichtezumachen, für das sie die vielen entbehrungsreichen Jahre zuvor gekämpft hatten. Der Einberufungsbefehl … Sie starrte mit unverhohlenem Abscheu auf dieses ihre Existenz bedrohende Stück Kunststoff und hätte es liebend gern im Müllschacht entsorgt. Doch so einfach war diese Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen.
Ihr Ehemann nahm die Karte mit zwei Fingern und betrachtete sie wie ein widerliches Insekt.
»Brian, du musst nicht gehen«, erklärte er und warf sie auf den Tisch. »Meine Behinderung wäre eine legitime Begründung, die Einberufung abzulehnen.«
Brian blickte auf. »Deine Behinderung ist der Grund, warum ich der Aufforderung Folge leisten werde.«
Ihr Mann zuckte zurück, als habe sein Sohn ihn ins Gesicht geschlagen. »Du glaubst, ich wäre ein Feigling gewesen?«
»So steht es in der Akte.«
Margaret wollte aufbegehren, aber Timothy winkte müde ab.
»Du verstehst nicht, wie es in der Armee zugeht, Brian«, begann er, und sein Sohn verzog das Gesicht. »Mein erster Einsatz war eine Rescuemission. Dreizehn Soldaten, aber nur der Sergeant erhielt für die Rettung des Sohnes des Rüstungskonzernchefs Colwell eine Auszeichnung. Mein Dank bestand in einem Fronteinsatz.«
»Bei dem du deine Kameraden im Stich gelassen hast«, bemerkte Brian bitter. Margaret krümmte sich innerlich, denn der Hass, der aus den Worten ihres Sohnes sprach, traf sie tief. Ihr Mann zuckte resignierend die Achseln.
»Das ist die offizielle Version.«
»Du hast ihr nie widersprochen.«
Timothy lachte bitter. »Hätte ich widersprochen, wären die Anwälte über mich hergefallen. Glaubst du wirklich, sie hätten mir eine faire Chance eingeräumt? Ich habe an euch gedacht … deine Mutter und dich. Mein Gott, du warst noch ein Baby …«
»Ich verstehe. Also ist alles nur eine riesige Verschwörung gegen dich?«, höhnte Brian.
»Es war eine bequeme Gelegenheit, einen desillusionierten Soldaten loszuwerden.«
Brian schwieg. Timothy zögerte, dann gab er sich einen Ruck.
»Krieg ist kein Werbespot. Er ist dreckig, blutig und sinnlos. Wir erhielten Befehl, einen Außenposten der Correlianer zu erobern. Dreihundertneunzig Männer, die nicht ahnten, dass sie nur als Kanonenfutter im Rahmen eines taktischen Manövers herhalten sollten.« Er schüttelte den Kopf. »Wir waren so naiv. Als der Angriffsbefehl ertönte, stürmten wir los … überzeugt, dass uns nichts aufhalten konnte. Wir feuerten im Laufen die Magazine leer, warfen uns zu Boden, schoben ein Ersatzmagazin ein und rannten wieder los. Wie im Training.« Er schwieg einen Augenblick und schloss die Augen. »Dann brach die Hölle los. Glühend heiße Leuchtspuren rissen uns Löcher in die Panzerung. Die Anzugklimatisierung fiel aus, die Hitze wurde unerträglich. Plasmageschosse zerfetzten Körper. Den Soldaten hinter mir erwischte eine Ladung frontal, ich hörte das grauenvolle Geräusch eines aufbrechenden Körpers, dessen innere Organe verdampften. Doch noch immer feuerte er ununterbrochen. Dann schlug mir etwas die Füße weg. Eines seiner Projektile hatte mich getroffen. Ich stürzte, meine Waffe glitt mir aus den Händen. Meine letzten Gedanken galten euch, im sicheren Gefühl, dort auf diesem fremden Planeten zu sterben.« Obwohl die Erinnerungen ihrem Mann spürbar zusetzten, wirkte ihr Sohn gelangweilt.
Timothy seufzte tief und schloss die Augen. »Doch ich starb nicht. Als ich wieder zu mir kam, schwebte ich über dem Boden. Um mich herum ein flammendes Inferno. Ich spürte meine Beine nicht. Verschwommene Gesichter neben der Hovercrafttrage. Ich versuchte aufzustehen, um weiter zu kämpfen. Jemand drückte mich in die Luftkissen. Zurück im Stützpunkt erfuhr ich, dass nur sechzehn Soldaten diese Hölle überlebt hatten. Dann hieß es, ein Aliengeschoss habe mich in den Rücken getroffen.« Timothy blickte seinem Sohn lange in die Augen.
»Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Herkunft des Projektils zu ermitteln.«
Brian erwiderte den Blick, dann wandte er sich ab.
»Nun, das ist deine Version der Geschichte. Vielleicht entspricht sie sogar den Tatsachen. Aber es ist eben nicht die offizielle Version der Geschichte. Ich muss mit deiner Schande leben. Und ich hasse dieses Leben. Ich habe mich freiwillig gemeldet und verschwinde von hier. Ihr werdet mich nicht daran hindern.«
Seine harten Worte katapultierten Margaret mitleidlos in das Tränenmeer, an dessen Ufer sie ständig wandelte. Sie brach zusammen und weinte, doch nicht einmal ihr haltloses Schluchzen erreichte ihren Sohn noch. Er hatte sich innerlich in der Welt kalten Stahls und blitzender Waffen verschanzt und alle Luken schalldicht hinter sich verschlossen.
Brian erhob sich abrupt, verschwand in seinem Zimmer und kehrte nur wenige Minuten später mit seinem Kleidersack zurück.
»Brian …« Weinend zog sie ihren Sohn an sich. Er umarmte sie emotionslos und erlaubte ihr widerwillig, ihm einen Abschiedskuss auf die Wange zu drücken. Dann schob er sie von sich, schulterte sein Gepäck und schritt, ohne sich umzudrehen, aus der Tür.
»Ihr seid mit Abstand der lausigste Haufen Rekruten, der mir je untergekommen ist!«, brüllte der hochgewachsene Offizier, der sich den Wartenden mit schneidender Stimme als Drillsergeant Cobaine vorgestellt hatte. Seine tadellose Uniform und sein kantiges Gesicht wirkten ebenso einschüchternd, wie das altehrwürdige Gussbetongebäude hinter ihnen. Diese graue Militärakademie hatte Hunderttausende Anfänger durch ihre Tore eingelassen, um sie als trainierte Friedenskämpfer zu entlassen.
Vier Wochen würde dieses Furcht einflößende Gebäude Brians Zuhause sein. Die Ausbilder würden ihn durch das härteste Training schleifen, um ihn auf den Kampf gegen die Correlianer vorzubereiten.
Brian war fest entschlossen, sein Bestes zu geben. Vielleicht würde sein Einsatz den Schandfleck in seiner Familiengeschichte tilgen, den sein Vater hinterlassen hatte. Er versuchte, sich auf die Worte des Drillsergeants zu konzentrieren.
»Falls ihr gekommen seid, um Ruhm zu ernten und ein Held zu werden: Vergesst es! Wir sind einzig und allein zur Pflichterfüllung hier. Für unsere Welt, für die Menschen, für eure Familien.«
Cobaine schritt langsam die Reihe der Neuankömmlinge ab und musterte jeden mit unverhohlener Abscheu. Direkt vor Brian blieb er stehen und fixierte ihn mit seinen stahlblauen Augen. Der sezierende Blick bohrte sich in Brians Innerstes, öffnete es mit der scharfen Schneide der Menschenkenntnis und offenbarte Geheimnisse, die verborgen bleiben sollten. Brian fühlte sich geradezu entblößt, während sein Ausbilder wissend lächelte. Dann wandte er sich dem nächsten Rekruten zu.
»Für Einzelkämpfer ist hier kein Platz. Die erste Lektion: Einer für alle, alle für einen. Diejenigen, die ohne Kameraden auszukommen glaubten, hatten nie genug Zeit, den Nachkömmlingen zu erzählen, dass sie sich irrten. Weil sie aus Plastiksärgen keine Ratschläge mehr geben konnten.«
Der Drillsergeant trat zurück, betrachtete die Männer, die schwitzend vor ihm standen, und schüttelte resigniert den Kopf.
»Jetzt geht und holt eure Trainingskombis. Auf dem Weg dorthin kommt ihr an einer Vitrine vorbei. Seht euch den Inhalt gut an. Diesen Kampfanzug werdet ihr tragen, falls es euch gelingt, die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Ihr werdet sie mit Stolz tragen, wenn ihr in den Kampf zieht. Aber dazu müsst ihr erst meine Ausbildung überleben.«
Brian rannte los.
Der Gleiter landete sanft auf dem Dach des Firmengebäudes der GunTec Corporation. Derek Colwell verließ das Fahrzeug, grüßte die schwer bewaffneten Wachen und betrat den Antigravitationslift, der ihn direkt in die Arbeitsräume seines Vaters befördern würde.
Lautlos öffneten sich die Türen und er stand in der riesigen Empfangshalle. Die Brünette hinter dem roten Manila-Padouk-Schreibtisch war neu hier. Sie hatte ein hübsches Gesicht. Diese Auswahl sehr junger und sehr weiblicher Mitarbeiterinnen missfiel ihm. Zumindest waren sie nicht minderjährig. Obwohl … die Position seines Vaters an der Machtspitze hätte ihm Straffreiheit garantiert. Selbst wenn er es mit Kindern getrieben hätte.
Die junge Dame erhob sich bei seinem Eintreten und musterte ihn mit unverhohlener Neugier. Wenn sie schon mit dem Vater schlief, würde sie eine Einladung des Sohnes nicht ablehnen, schoss es Derek durch den Kopf. Doch er war verheiratet und nahm die altmodische Tradition der Monogamie sehr ernst. Außerdem liebte er seine Frau.
»Ihr Vater erwartet Sie«, erklärte die Brünette nun mit rauchiger Stimme, die älter klang, als ihr Aussehen vermuten ließ. Derek nickte ihr zu und öffnete die Flügeltüren zum Allerheiligsten.
Sein Vater saß hinter seinem Schwarznussschreibtisch voll Aktenordnern, Papierstapeln und einem Arrangement verschiedenster Alkoholika. Vor Besuchern gab er sich den Anschein pausenloser Aktivität, doch tatsächlich galt sein Hauptaugenmerk den schönen Mädchen seiner Umgebung. Derek wusste, dass von diesem Raum eine verborgene Tür in ein angrenzendes … Spielzimmer führte, in dem er den Großteil des Tages verbrachte. Natürlich mit langbeinigem Spielzeug. Derek teilte die Leidenschaft seines Vaters für blutjunge Frauen nicht, aber er sah auch keinen Grund, seinen alten Herrn deshalb zu tadeln. Schließlich hatte er dieses gigantische Imperium aufgebaut, und so sollte er die Früchte seiner Arbeit genießen dürfen. Zumal ihm die Früchtchen willig in den Schoß fielen. Geld stellt ein unwiderstehliches Aphrodisiakum dar. Die Tatsache war fast schon ein Naturgesetz.
Das Geld spielte in seiner Familie nie eine Rolle. Man sprach nicht darüber, man besaß es einfach. Sein Vater hatte ihn durch die Eliteuniversitäten Neuoxford, Harvard II und Yaletown geschleust, und Derek nahm diese Herausforderungen dankbar an. Mit seinem angehäuften Wissen landete er schließlich in der Waffenforschung der GunTec und war als Projektleiter maßgeblich an der Entwicklung der neuen Techno-Impulsgewehre und den Pyro-Plasmabrennern beteiligt. Seine Befreiung vom Dienst im Friedenskorps war durch diese Projekte mehr als gerechtfertigt. Aber nun war ihm und seinen Mitarbeitern ein Durchbruch gelungen, der alles in den Schatten stellte. Er konnte es kaum erwarten, seinem Vater diese frohe Botschaft zu verkünden.
Guy Colwell besaß durch aufwendige Behandlungen das Äußere eines agilen Mittvierzigers, der beschlossen hatte, nicht zu altern. Seine inneren Organe waren durch jüngere Exemplare ausgetauscht worden, die welkende Haut wurde regelmäßig einer Frischzellenkur unterzogen und für die poröser werdenden Knochen wurde hoch dosiertes Kalzium gespritzt. Selbst die an Sehkraft verlierenden Augen waren ersetzt worden. Genau betrachtet stand Derek einem menschlichen Ersatzteillager mit dem Gehirn seines Vaters gegenüber.
»Mein Sohn!«, rief sein Vater aufgeräumt und eilte ihm mit offenen Armen entgegen. Ein gewisser Glanz in seinen Augen verriet Derek, dass er ihn wahrscheinlich beim Beischlaf gestört hatte. Doch angesichts der Nachrichten, die er ihm brachte, würde sein alter Herr den Interruptus wohl verschmerzen.
Er umarmte seinen Vater. Dann ließen sie sich in der Designer-Sitzecke nieder, die zwanglosen Unterredungen mit hochrangigen Gästen vorbehalten war.
»Du siehst müde aus, Junge. Was verschafft mir die Freude deines unerwarteten Besuchs?«
Derek schob ihm eine Mappe hinüber. »Ich habe praktisch rund um die Uhr gearbeitet, aber jeder Tag ohne Schlaf hat sich mehr als gelohnt.« Sein Vater blätterte in den Unterlagen, verfügte aber nicht über ausreichendes Fachwissen, um den Inhalt zu begreifen.
»Was ist das?«, fragte er daher.
»Das rettet die Zukunft der Erde«, erklärte Derek stolz.
»Ich verstehe nicht …«
Derek lachte. »Das musst du auch nicht. Ich will dich nicht mit technischen Einzelheiten langweilen, aber diese Waffe, die ich mit meinen Leuten entwickelt habe, ist die Beste, die wir je hatten.« Sein Vater wiegte skeptisch den Kopf.
»Wir statten unsere Leute mit den besten Waffen aus. Sie sind teuer, aber zuverlässig.«
»Es sind gute Waffen, aber nicht die besten …«, berichtigte ihn Derek.
Guy hob fragend die Augenbrauen.
»Es ist uns gelungen, die DNS aus Alienblut zu isolieren, zu bestimmen und zu decodieren«, erklärte Derek enthusiastisch. »Wir konstruieren momentan Phasenwerfer, die bis zu einhundert Schuss gleichzeitig abfeuern können.«
»Wo liegt der Vorteil? Unsere Impulsgewehre schaffen zehn Schuss pro Sekunde.«
»Der Vorteil ist …« Derek legte eine dramatische Pause ein. »Unsere Geschosse sind auf Alien-DNS programmiert. Die Trefferquote liegt bei 99,34 %! Die Menschheit wird siegen, Vater! Wir werden siegen.«
Sein Vater starrte ihn fassungslos an. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Mit zusammengepressten Lippen quetschte er schließlich ein »Das ist … großartig« hervor. Derek entging in der eigenen Begeisterung das gefährliche Flackern seines Blickes.
»Wie weit seid ihr mit der Entwicklung?«
»Der Prototyp hat alle Tests bestanden. Wir stehen unmittelbar vor der Serienreife.«
Sein Vater legte vor dem Gesicht die Fingerspitzen aneinander und runzelte die Stirn.
»Das … ist nicht so einfach, wie du glaubst, mein Sohn«, begann er ruhig.
»Wir retten Leben, Vater! Das ist es! Ganz einfach.«
»Du … verstehst nicht. Es existieren Verträge. Bindende Verträge, die eingehalten werden müssen. Wir können nicht einfach ein neues Produkt einführen und die bisherigen ersetzen. Das würde milliardenschwere Konventionalstrafen nach sich ziehen.«
Derek musterte seinen Vater konsterniert. »Vater, das kann nicht dein Ernst sein …«
Guy Colwell beugte sich vor. »Es ist leider mein voller Ernst. Wir benötigen Genehmigungen. Die Interstellare Handelskommission muss unterrichtet werden. Ebenso die Kolonialbehörden. Die Weltregierung muss zustimmen.«
»Das verzögert den Einsatz der Waffen um Wochen, vielleicht sogar Monate«, stöhnte Derek in plötzlicher Erkenntnis und empfand bittere Enttäuschung. Er starrte seinen Vater mit tiefster Sorge an. »Wir können den Krieg gewinnen, so viele Soldaten könnten gerettet werden. Ist das kein hinreichender Grund, Dienstwege zu umgehen?«
Das künstlich gestraffte Gesicht des alten Mannes verzog sich ärgerlich.
»Nun, wenn dir soviel daran liegt, werde ich … meine Beziehungen spielen lassen. Ich habe diese Möglichkeiten oft genutzt, denn auf langen Dienstwegen kann vieles verloren gehen. Leitende Angestellte. Hochrangige Verwaltungsbeamte. Wirtschaftspotentaten. Sie alle kochen ihr eigenes Süppchen und spinnen Intrigen gegeneinander. Ein einzelner Mann mit Überblick kann dieses System aushebeln und zum eigenen Vorteil nutzen. Ein wenig Korruption hier, etwas Druck da. Gut, mein Sohn, wir werden es schon schaffen.«
Das Raumschiff glitt als waffenstarrende Machtdemonstration langsam, fast träge durch das All. Was immer die Erbauer auf der Erde sich dabei gedacht hatten, hier an der Front waren diese Überlegungen reine Makulatur. Der Gegner ließ sich nicht einschüchtern, wie zahlreiche, notdürftig geflickte Einschusslöcher bewiesen.
»Feindkontakt in fünfundvierzig Minuten.« Die blecherne Frauenstimme, die in regelmäßigen Abständen von sechzig Sekunden den zeitlichen Abstand zum ersten Kampfeinsatz verkündete, sorgte für Unruhe unter den jungen Rekruten.
Brian beobachtete Krastinov, dessen Pausbacken der vierwöchige Drill nichts hatte anhaben können. Der Junge aus Usbekistan zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Ansage ertönte.
»Hier, trink«, brummte Salvan mit rauer Stimme, die ein Leben unter reichlichem Alkoholgenuss dokumentierte. Hart stieß er Brian den Ellbogen in die Seite und drückte ihm einen zerkratzten Flachmann in die Hand.
»Hilft nervöses Augenzucken zu unterdrücken, das beim Zielen stört.«
Brian nickte dankbar und nahm einen Schluck. Er hegte Zweifel, dass der selbst gebrannte Schnaps, den das Organisationstalent Salvan auf irgendeiner Kolonie erstanden hatte, legal destilliert worden war, denn das Zeug brannte unangenehm in seiner Kehle. Gott allein wusste, welche Zutaten sie in dieses Teufelsgebräu gemischt hatten. Vielleicht nicht einmal Gott.
Aber sobald die ätzende Flüssigkeit die Speiseröhre passiert hatte, erfüllte sie sein Inneres mit wohltuender Wärme und beruhigte seinen vor Spannung zitternden Körper. Außerdem sorgte sie dafür, dass Fantasien über die bevorstehende Schlacht in seinem Kopfkino erträglicher wurden.
»Danke«, raunte er Salvan zu und reichte die Flasche zurück. Leichte Euphorie erfasste ihn, während er einen vorsichtigen Seitenblick auf Gunsergeant Hackford warf. Aber der bärbeißige, stets schlecht gelaunte Mann, der sie mit Drillsergeant Cobaine während der letzten Wochen durch ihre persönliche Hölle geschickt hatte, wusste um die geistige Verfassung seiner Rekruten. Zum ersten Mal sah er über die Vorschriften hinweg, die striktes Alkoholverbot vor Kampfeinsätzen beinhalteten. Stattdessen richtete er das Wort an seine Männer: »Sie haben uns mehr als einmal in den Arsch getreten. Aber wir stehen immer wieder auf und schlagen zurück. Wir sind die letzte Verteidigungslinie. Das einzige Bollwerk, das sie hindert, unseren Planeten zu überfallen und alles menschliche Leben auszulöschen.«
»Feindkontakt in vierundvierzig Minuten.« Krastinov zuckte zusammen.
Derek ließ den unvermeidlichen Retinascan über sich ergehen und wartete auf das leise Zischen der sich öffnenden Tür. Dann betrat er das verwaiste Vorzimmer seiner Hitec-Welt. Hier herrschte jenes kreative Chaos, mit dem die führenden Kapazitäten der Waffenforschung die sterile Welt hinter der nächsten Schleusentür vermenschlichten.
Er lächelte beim Anblick des heillosen Durcheinanders, das seine Mitarbeiter hier angerichtet hatten: überladene Regale, überfüllte Schreibtische und beklebte Monitore, die dem riesigen Raum eine familiäre Note gaben. Kinderzeichnungen, Kaffeebecher mit respektlosen Sprüchen oder Kunstwerke aus Epoxit, deren Bedeutung ihm ein ewiges Rätsel bleiben würden.
Derek sank müde auf seinen Schreibtischstuhl und rieb sich die Augen. Die Euphorie der letzten Tage war verflogen. Die Bedenken seines Vaters hatten ihn desillusioniert. Er fragte sich, wie er das seinen Mitarbeitern verständlich beibringen sollte. Die Rettung der Menschheit lag in den Händen von Bürokraten.
Er zweifelte nicht, dass sein Vater Erfolg haben würde – dessen Einfluss reichte, um Welten aus ihrer Umlaufbahn zu werfen. Aber selbst ein Guy Colwell benötigte Zeit. Zeit, die noch viele Soldaten ihr Leben kosten würde.
Wie automatisch glitt seine Hand über die Computertastatur, um den Monitor einzuschalten. Die von ihnen entwickelte Wunderwaffe im benachbarten Labor zu betrachten, würde ihn vielleicht ein wenig beruhigen. Der Bildschirm erhellte sich und fast gleichzeitig erkannte er, dass da etwas nicht stimmte. Am Rumpf des Gewehrs befand sich etwas Kleines, Schwarzes, das dort nicht hingehörte.
Ein Fremdkörper.
Derek sprang alarmiert auf.
Dann erfolgte eine gewaltige Detonation. Seine Hitec-Welt stürzte ein.
Die Nacht war voller Albträume. Feuer, Explosionen. Sein Rücken schmerzte und sein Mund war völlig ausgetrocknet, als er erwachte. Dann die Erkenntnis: Feuer und Explosion waren keine Traumbilder.
»Er hat das Bewusstsein wiedererlangt«, erklärte eine sachliche Stimme. Derek öffnete mühsam die Augen und grelles Weiß blendete ihn. Er blinzelte. Der kahle Kopf eines über ihn gebeugten Vitalmechanikers schob sich in sein Blickfeld. Der MediTec leuchtete ihm mit einer Punktlampe in die Pupillen, offenbar um eine Retinareaktion zu bewirken. Dann nickte er zufrieden und wandte sich ab, um die Messwerte auf dem Biomonitor abzulesen.
»Kein Anlass mehr zur Sorge. Körperlich ist alles in Ordnung«, erklärte er nach dem Blick auf die Diagnosegeräte. »Die Implantate haben sich stabilisiert. Die motorischen Reaktionen sind ausgezeichnet. Auch mental gibt es keinen Grund zur Besorgnis. Den Schock wird er rasch überwunden haben.« Er wandte sich wieder Derek zu und fixierte ihn prüfend. »Wie fühlen Sie sich?«
»Wie von einem Turbogleiter geküsst.« Derek versuchte ein Lächeln, doch es gelang ihm nur eine hilflose Grimasse. Eine kühle Hand griff nach seiner und hielt sie fest. Er erkannte seinen Vater, der sich neben sein Hydrobett setzte.
Die Explosion. Das Feuer. Derek schloss die Augen und versuchte seine Konzentrationsfähigkeit zurückzuerlangen. Die letzten Sekunden vor dem Blackout kehrten zurück. Ein Fremdkörper hatte sich an dem Gewehr befunden.
»Das Labor! Was ist dort passiert? Es hat eine Explosion gegeben.«
»Was zum Teufel hattest du mitten in der Nacht in den Labors zu suchen?«, lautete die Gegenfrage seines Vaters. Seine Stimme klang besorgt, aber ein leiser Vorwurf schwang mit.
»Ich wollte nachdenken«, erklärte Derek.
»Das hätte dich fast dein Leben gekostet. Das Labor ist explodiert. Ein technischer Defekt vermutlich.«
Derek versuchte, sich aufzurichten. »Kein Defekt! Sabotage! Jemand hat einen Sprengsatz an unserer Entwicklung angebracht!«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Es deutet nichts darauf hin.« Er ließ die Hand seines Sohnes los und erhob sich.
»Doch! Ich weiß es! Ich habe es gesehen. Jemand hat unsere Erfindung zerstört.« Derek keuchte. »Wie groß ist der Schaden?«
Sein Vater schwieg. »Wie groß?«, drängte Derek. Guy Colwell seufzte und begann den Raum abzuschreiten.
»Es ist … alles zerstört. Die Aufräumarbeiten sind noch im Gange, aber viel wird nicht zu retten sein.«
»Wir müssen sofort mit dem Wiederaufbau beginnen«, forderte Derek. »Es gibt noch eine Datenkopie, die uns als Grundlage dienen kann. In wenigen Wochen kann ich einen neuen Prototyp herstellen. Du solltest derweil die nötigen bürokratischen Schritte einleiten.«
Colwell unterbrach seine unruhige Wanderung. »Hör zu …«, begann er vorsichtig. »Vielleicht ist diese Katastrophe ein Wink des Schicksals, dass wir es nicht übereilen sollten. Weißt du, ich habe lange … nachgedacht.«
Derek sah seinen Vater irritiert an.
»Ich mache mir Sorgen, dass diese Entwicklung vielleicht unser Geschäft ruinieren könnte.«
»Es geht um Menschenleben, die gerettet werden können, Vater.«
»Ja, das weiß ich. Aber es ist komplizierter, als du denkst.«
»Ich verstehe nicht …«
»Das Friedenskorps dient der Erziehung junger Menschen. Die Soldaten sind eine Stütze des Staates.«
»Ja, ja, ich habe die Werbefilme auch gesehen. Aber ich will das Korps nicht abschaffen, ich will Menschenleben retten.«
»Das will ich ja auch, aber … es gibt für uns Colwells eine andere Seite der Medaille. Wir sind Rüstungsfabrikanten. Um Waffen zu verkaufen, sind Kriege erforderlich. Einige Rebellengruppen mit Ausrüstung zu versorgen, ist nicht nur wenig lukrativ, sondern auch gefährlich. Die Weltregierung hingegen zu beliefern, öffnet die Tür zum Schlaraffenland.«
Derek zögerte, schüttelte benommen den Kopf und fixierte seinen Vater ungläubig. Dann begriff er allmählich die Tragweite dieser Antwort. Die kalte Logik traf ihn tief. Sein Mund begann zu zittern. Zorn drohte ihm den Hals zuzuschnüren. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, zu sprechen.
»Das ist … nicht … dein Ernst …«, stieß er hervor.
Guy Colwell hatte die Empörung in der Stimme seines Sohnes nicht wahrgenommen, sondern nur dessen Worte. Er glaubte noch immer, seinen Sohn überzeugen zu können.
»Mein Junge, deine neue Entwicklung zerstört das Lebenswerk deines Großvaters und wird uns in den Ruin treiben. Willst du, dass alle seine Opfer umsonst waren? Sein genialer Plan bestand darin, einen ewigen Krieg zu schaffen. Das Auftauchen der Correlianer war ein Geschenk des Himmels. Er hat alles riskiert für unsere Familie. Ich war bereit, das ebenfalls zu tun.«
»Was willst du mir sagen, Vater?«
»Ich denke, es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst, mein Sohn.« Er setzte sich wieder und blickte Derek an.
»Auslöser des Krieges war der Alienangriff auf Beleron. Ich war als Crewmitglied dort. Ich habe eine Atemmaske aufgesetzt und die Sauerstoffzufuhr gedrosselt – bis alle bewusstlos waren. Dann bin ich an die … Arbeit … gegangen. Zuletzt habe ich mir eine geringfügige Verletzung beigebracht und auf das Rettungsteam gewartet. So einfach, wie einem Kleinkind den Lutscher zu klauen. Der Plan deines Großvaters funktionierte perfekt.« Er schwieg einen erinnerungsseligen Augenblick.
»Niemand hegte auch nur den Hauch eines Zweifels, dass die Correlianer schuld waren. Alienblut zu beschaffen war der schwierigste Teil. Aber dein Großvater hat auch dies geschafft.« Stolz schwang in seiner Stimme.
»Ich hatte gehofft, auch in dir steckt ein echter Colwell.«
Derek wurde bei dem Gedanken übel, wie viele Menschenleben seine hoch angesehene Familie auf dem Gewissen hatte. Es fiel ihm schwer zu realisieren, dass sich sein Vater und Großvater als Verbrecher der schlimmsten Sorte entpuppten. Gequält schüttelte er den Kopf.
»Weißt du, Vater, ich ertrage es nicht! Unser gemeinsames Unternehmen endet hier. Du kannst einen Nachfolger adoptieren, der diese Firma weiterführt. Ich werde es jedenfalls nicht tun. Dein Sohn bin ich immer noch, aber nur genetisch. Deshalb will ich auch nicht sehen, wie man dich ans Kreuz nagelt. Und jetzt … möchte ich, dass du mich allein lässt.«
Guy Colwell seufzte tief.
»Irgendwie habe ich befürchtet, dass du so … altruistisch reagierst. Aber, wenn du schon nicht auf mich hören willst, dann vielleicht auf jemand anderen, den du liebst.« Er wandte sich um und winkte.
Aus dem Hintergrund näherte sich nun eine junge Frau mit einem Jungen an ihrer Hand.
»Mara! Thomas!« Derek starrte seine Frau und seinen Sohn an. »Ihr habt alles gehört?«
Die hübsche Frau mit den sinnlichen Lippen, die er so liebte, nickte.
»Wir haben alles gehört und, mein Lieber, ich denke … Guy hat recht. Willst du deine Nächsten wirklich einem Leben in Armut aussetzen? Willst du deinem Sohn das antun? Und bedenke den Skandal, sollte etwas davon durchsickern. Dein Vater, dein Großvater und wir wären völlig diskreditiert.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das kannst du nicht wollen.«
Tränen traten in seine Augen. »Mara, glaubst du wirklich, das sei das Wichtigste? Ist dir ein Leben in Reichtum so viele Opfer wert?« Sie lächelte kalt. Diese Geringschätzung traf ihn bis ins Mark. Doch weitaus schlimmer wog der verständnislose Blick seines Sohnes, die kühle Arroganz, die den eigenen Vater als Schwächling verdammte.
»Nun, du musst dich entscheiden«, sagte Mara. »Für deine Familie, oder Menschen, die du gar nicht kennst.«
Er hob seinen Arm. »Komm bitte zu mir. Lass uns darüber reden«, bat er, doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Derek, da gibt es nichts mehr zu bereden. Der Sachverhalt ist klar, du musst dich entscheiden. Für uns oder gegen uns.«
Er sank zurück. »Hör’ zu, ich kann das nicht ertragen … zu viele Tote … zu viel Blut klebt an den Händen unserer Familie.«
Sie betrachtete ihn mitleidig. »Es tut mir leid, dass du es so siehst. Du kennst doch das Sprichwort: Jeder ist sich selbst der Nächste? Ich sehe, dass sich deine Prioritäten nicht mit den Interessen unserer Familie decken. In diesem Fall werde ich die Scheidung einreichen. Mit Guy habe ich die Vereinbarung getroffen, dass wir die Firma gemeinsam führen, bis Thomas alt genug ist, um ihre Geschicke zu übernehmen.«
Die bittere Erkenntnis, sich in seiner Mara gründlich getäuscht zu haben, und dass seine Ehefrau sich in Wahrheit charakterlich nicht von den Mädchen unterschied, die mit seinem Vater ins Bett stiegen, raubte ihm schier den Atem.
»Bitte …«, flüsterte er. Doch seine Frau wandte sich ab und verließ mit Thomas das Zimmer. Derek sank erschöpft zurück. Seine Biofunktionen spielten verrückt. Der Vitalmechaniker eilte hastig in den Raum.
»Sie dürfen sich nicht so aufregen. Der Kreislauf …«
Der Kreislauf war nun wirklich sein geringstes Problem.
Die Landschaft trug tiefe Narben des Krieges. Aufgerissen von zahllosen Granateinschlägen, umgepflügt von gepanzerten Fahrzeugen, die über sie hinweggerast waren, und getränkt vom Blut vieler gefallener Soldaten. Rotes und grünes Blut.
In einiger Entfernung ragten schwarz versengte Stahlträger wie Gebeine eines erlegten Dinosauriers in den schwefelgelben Himmel. Es war nicht mehr zu erkennen, wer die Station errichtet hatte und welchem Zweck sie diente, so schwer wurde sie in den hin und her wogenden Kämpfen beschädigt.
Die erste Kampfhandlung – und er hatte überlebt. Brian zitterte in Erinnerung an das allgegenwärtige Sterben um ihn herum. Die Stimme des Gunsergeants übertönte das Stöhnen der Verwundeten. Brian hörte ihn kaum. Die Detonationsgeräusche der Granaten beeinträchtigten immer noch sein Hörvermögen.
»Sie haben uns kräftig in den Arsch getreten. So ist das immer, mal treten wir ihnen in den Arsch, mal ist es umgekehrt. Das ist Krieg. Kein Ruhm, keine Ehre, nur die Aussicht auf einen schnellen Tod.« Hatte Hackford das wirklich gesagt? Vielleicht ja, vielleicht nein. Das Pfeifen in Brians Ohren ebbte allmählich ab.
Ein irrsinniges Gemetzel, dachte Brian voll Ekel. Aber warum empfand er diese Abscheu? Hatte er tatsächlich anderes erwartet, als er die Tränen seiner Mutter und die Erzählungen seines Vaters ignoriert und sich dem Friedenskorps angeschlossen hatte? Nun war er aus eigenem Wunsch Soldat und seine Pflicht bestand darin, jeden Correlianer zu töten. Doch in seinem tiefsten Inneren regten sich Zweifel und die Frage, ob seine Eltern doch recht gehabt hatten, ließ sich nicht mehr so einfach mit Nein beantworten wie zuvor.
Der nächste Angriff stand unmittelbar bevor. Ein Sturmboot mit weiteren Rekruten befand sich im Landeanflug. Sobald die neuen Männer ihren Trupp verstärkt hatten, würde die nächste Offensive beginnen.
»Wir bauen Schutzwände aus Termium-Stahl und sie beschleunigen die Geschwindigkeit ihrer Geschosse.« Der redselige Gonzales, dessen Stirn eine lange Narbe zierte, spuckte aus. »Wir verändern die Zusammensetzung des Stahls, machen ihn härter – und sie finden einen Weg, damit ihre Waffen auch diese Legierung durchdringen. Wir finden Schwachstellen ihrer Kampfanzüge, sie verbessern die Panzerung, wir finden auch hier die Schwachpunkte. Viele Soldaten sterben für diese Erkenntnisse. Es ist ein ewiges Hin und Her. Ich bin lange genug dabei, um das Prinzip zu erkennen. Das sind die wenigsten. Bei jedem Einsatz kehrt vielleicht die Hälfte der Männer zurück. Manchmal weniger.«
»Halt dein Maul, Soldat!«, fuhr Drillsergeant Cobaine dazwischen. »Solche Reden sind Subordination. Wenn ich dich noch einmal so reden höre, dann treffen wir uns vor dem Kriegsgericht wieder.«
»Vorausgesetzt, diese Analfistel überlebt das nächste Gefecht«, brummte Gonzales. Dann schwieg er. Nur für den Fall, dass der Sergeant doch überleben sollte.
Brian brannte eine andere Frage auf der Zunge.
»Aber warum sind wir eigentlich hier, Sir? Ich meine, es gibt nicht einmal Bodenschätze, die wir den Geeks abjagen könnten.« Er sah den strengen Blick seines Gunsergeants und schwieg.
»Du stellst Fragen, das ist gut«, kommentierte sein Vorgesetzter gefährlich leise. Dann brüllte er: »Aber nicht für einen Soldaten!« Speicheltropfen sprühten.
»Wir sind hier, weil wir den Befehl dazu erhalten haben! Wir sind hier, um den Geeks kräftig in den Arsch zu treten! Wir sind hier, weil es unsere verdammte Pflicht ist!« Seine Stimme wurde wieder sanft. »Beantwortet das deine Frage, Soldat?«
Brian nahm Haltung an und schrie: »Jawohl, Sir!«
»Damit das klar ist – wir sind hier nicht wegen des guten Wetters oder der schönen Aussicht. Wir sind hier, um zu kämpfen und zu siegen. Oder zu sterben. Für unsere Familien und die Zukunft der Erde.«
Die Männer wechselten einen letzten Blick. Hackfords Miene war unergründlich. Brian beschlich das bittere Gefühl, nunmehr die oberste Position der Schikanierliste eingenommen zu haben.
Doch nun war die Verstärkung gelandet und die Attacke stand unmittelbar bevor. Keine Zeit mehr, zu denken. Jetzt brach die Zeit des Handelns an. Die Zeit zu überleben. Brian griff nach seinem Plasmagewehr und setzte den Helm auf.
Neben ihm erschien ein fremdes Gesicht, vermutlich einer der Neuankömmlinge, die seiner Einheit zugeteilt wurden. Brian nickte ihm zu. Der neue Rekrut hielt sein Impulsgewehr wie einen Fremdkörper.
»He, Rekrut«, flüsterte Brian. »Wenn du den Kolben gegen die Energieversorgung des Kampfanzugs klemmst, erleichtert es dir das Feuern. Der Rückstoß wird aufgefangen und die Zielautomatik besorgt den Rest.«
Der Neue schien aus einer Trance zu erwachen und blickte ihn verwirrt an. Dann lächelte er. Brian erschien es wie das unheilvolle Grinsen eines Totenschädels.
Er schulterte das Plasmagewehr und nahm sein Impulsgewehr in die Hand. Falls der Angriff ins Stocken geriet, würden sie mit Plasmastrahlern einen Feuerteppich zwischen sich und die Geeks legen, um einen geordneten Rückzug einleiten zu können.
Gonzales strich über seine Narbe, grinste und hob den Daumen.
»Halt dich aus meiner Reichweite, Oakes. Du bringst mir Unglück.«
Der Gunsergeant wandte sich um, blickte Brian hinterhältig an und zischte: »Lass dir nicht in den Rücken schießen, Soldat.« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer höhnischen Grimasse.
Leuchtspuren zischten über ihre Stellung hinweg. In einiger Entfernung ließen Detonationen den Boden beben und blaugrüne Explosionsfeuer flammten am Horizont auf. Brian hoffte, dass die Kanoniere diesmal besser zielten und dafür sorgten, dass die Geeks ihre Alienschädel zumindest zu Beginn der ersten Angriffswelle unten hielten. Sonst würde auch diese Offensive in einem Fiasko enden.
»Okay, es geht gleich los …«, erklärte Brian und hob fragend eine Augenbraue.
»Derek Colwell«, sagte der Neue.
Gonzales klopfte auf sein Gewehr. »He, so wie der Colwell, dem wir unsere Babys hier verdanken? Großer Mann!«
»Er ist ganze einssechzig«, stellte Colwell sachlich fest.
»Ach, du kennst ihn?«, fragte Gonzales erstaunt. Colwell blickte gequält.
»Wir sind … irgendwie verwandt.«
Ehe Gonzales etwas erwidern konnte, ertönte das Angriffssignal. Die Männer stürzten aus ihren Stellungen hervor, die Waffen im Anschlag. Brian lief leicht gebückt, um dem außerirdischen Feind möglichst wenig Zielfläche zu bieten, und feuerte. Neben ihm rannte Gonzales. Er fluchte ununterbrochen, dann fetzte ihm ein Desintegrator den halben Schädel weg. Bis sie vom fehlenden Gehirn nicht mehr mit Bewegungsimpulsen versorgt wurden, liefen seine Beine noch einige Meter. Dann stellten sie ihren Dienst ein und der Körper stürzte schwer zu Boden. Brian sah, dass Gonzales nicht blutete … der Laserstrahl kauterisierte die Wunde. Das Sterben begann.
Brian lief weiter, ohne seine Geschwindigkeit zu drosseln, und feuerte ununterbrochen. Ein blauer Blitz blendete ihn. Vor ihm wurde ein Soldat wie eine zerbrochene Gliederpuppe in die Luft katapultiert. Ein unmissverständliches Zeichen, dass sich die Geeks allmählich auf sie einschossen.
Der Getroffene war noch nicht tot, sondern bestand aus einer stöhnenden Masse zerfetzten Fleisches. Colwell war stehen geblieben und blickte wie erstarrt auf den sterbenden Soldaten, dem das Geekgeschoss die Eingeweide herausgerissen hatte.
»Weiter, Colwell!«, brüllte Brian. »Stehend bist du ein sicheres Ziel!« Er verlangsamte seinen Schritt, bis er sah, dass der Neue sich wieder taumelnd vorwärts bewegte. Auch diese Offensive würde scheitern. Das Sperrfeuer ihrer Gegner wurde heftiger. Die eigene Artillerie hatte das Bombardement der feindlichen Linien längst eingestellt.
Brian warf sich hinter die nächste Deckung, die das flache Gelände bot – eine Anhäufung von Steinen, die auf Dauer wenig Schutz bieten würde. Erleichtert sah er, wie Colwell es ihm gleichtat.
Jetzt war es an der Zeit, einen Feuergürtel aus Plasmageschossen zu legen, um den Rückzug zu decken. Um zielen zu können, musste er sich allerdings aus dem Schutz der Steine erheben.
»Colwell«, zischte er gepresst. »Feuerschutz!«
Der Neue nickte ihm zu, brachte sein Impulsgewehr in Stellung und begann zu feuern. Brian hob sein Plasmagewehr von den Schultern, sprang auf und visierte sein Ziel an. Das Plasmagewehr spuckte seine Ladung auf die feindlichen Stellungen. Dann verstummte das Geräusch der Impulsgarben neben ihm.
»Deckung!«, brüllte Colwell und schlug wild gegen seine Waffe. »Ladehemmung!«
Doch es war schon zu spät, um zu reagieren. Direkt neben Brian schlug ein feindliches Geschoss ein und pulverisierte Stein. Das Nächste würde seinen Namen tragen.
Es tut mir leid, Mutter, dachte er, dann stürzte etwas auf ihn, riss ihn um und er prallte hart auf den Boden. Eine Schrecksekunde lang erwartete er die Schmerzen des nahenden Todes, doch sie kamen nicht. Er war nicht verletzt, nur atemlos vom Aufprall.
Aber er hatte den Einschlag gespürt! Dann dämmerte ihm die Erkenntnis: Das Projektil hatte nicht seinen Körper durchschlagen, sondern denjenigen, der ihn zu Boden gerissen hatte. Er wälzte sich herum.
»Colwell!«
Der Rekrut lächelte und spuckte Blut.
Schmetternde Explosionen, Schreie, Stöhnen. Sein olfaktorischer Sinn schien derartig geschärft, dass er die Gerüche aus metallenem Blut und ausgeschwitzter Angst überdeutlich wahrnahm.
Derek schaute in den dunklen Himmel. Er würde sterben. Das war alles, was er tun konnte. Seine Eingeweide ließen sich nicht mehr zurückstopfen. Aber er hatte ein Leben gerettet. Wenigstens eine Mutter würde ihren Sohn wieder in die Arme schließen können.
Der blutrünstige Krieg würde seine unstillbare Gier weiterhin mit Toten befriedigen. Lange Zeit. Vielleicht endlos.
Sein skrupelloser Großvater hatte diese Bestie entfesselt. Sein charakterloser Vater fütterte sie. Als Gegenleistung für die abgeschlachteten Opfer schenkte das unersättliche Monster seiner Familie Reichtum. Ob sein Sohn diese Tradition eines Tages fortführen würde? Die Wahrscheinlichkeit lag hoch.
Doch für ihn: Stille. Dunkelheit. Frieden.
Vorabveröffentlichung in
Thomas Heidemann, Detlef Klewer, Katharina Groth & Christian Künne
Chroniken der Nachwelt: Am Rande des Abgrunds
Eridanus Verlag, Februar 2017, ISBN 978 3 946348 15 3
bzw. 978 3 946348 17 7