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Markus Cremer: Notruf von Varietas
ОглавлениеMit schwungvoller Handschrift setzte die Kapitänin Patricia Woods ihre Unterschrift unter die Schilderung des letzten Abenteuers der Jules III. Voll Ingrimm dachte sie an die Sklavenhändler und ihre Absicht, die Besatzung ihres Schiffes an den Meistbietenden zu verschachern. Sie steckte das zusammengerollte Papier in eine Glasflasche und verkorkte den Inhalt. Das Miniaturschott kurbelte sie langsam nach unten. Ein Fehler und sie würde in den Weltraum gesogen. Gerade platzierte sie die Flasche im Schott, als ihre Kabinentür aufgerissen wurde.
»Wer wagt es!«, schrie sie und wirbelte auf ihrer Beinprothese herum. Unwillkürlich packte ihre Hand die kurze Peitsche.
Im Türrahmen stand der breit grinsende Matt Christie, ihr Erster Offizier. Da die Besatzung durch den Unfall enorm dezimiert worden war, bestand die Crew aus insgesamt sieben Menschen. Die »Gäste« nicht mitgerechnet.
»Da draußen befindet sich etwas wirklich Interessantes«, sagte er und sah sich in ihrer Kabine um.
»Auch ein Erster Offizier hat sich an das Protokoll der Königlichen Marine Ihrer Majestät zu halten«, brauste Patricia auf. »Sie klopfen an! Immer!«
Matt Christie grinste sie an und zeigte dabei seine goldenen Zähne. »Würde ich tun, doch in Anbetracht unserer prekären Situation und der Aussicht auf einen noch unentdeckten Planeten voraus, dachte ich …«
»Unsere prekäre Situation, wie Sie die unglückselige Explosion unseres Hauptkessels bezeichnen, hat nichts mit dem Verhalten an Bord dieses Schiffes zu tun.«
»Der Kapitän sah dies anders«, erwiderte Matt.
»Kapitän Hillary ist tot, ich bin jetzt die neue Kapitänin!«
»Wir sind mit Ihrer Arbeit auch wirklich zufrieden«, sagte Matt. Das Grinsen verließ nicht eine Sekunde den Bereich unterhalb seines gewaltigen Schnurrbartes.
Ohne es zu wollen, mochte sie diese Art von Verwegenheit und Disziplinlosigkeit. Zumindest ein wenig, obwohl sie dies nie zugeben würde.
»Für diese Unverschämtheit gehören Sie ausgepeitscht!«, sagte sie.
Etwas an diesem ehemaligen Piraten brachte sie stets unverzüglich in Rage. Warum? Es war nicht nur seine Weigerung, sich jeder Hierarchie zu unterwerfen. Die Lässigkeit, mit der er seinen Dienst im Angesicht ihrer bedrohlichen Lage verrichtete, verblüffte sie in hohem Maße.
»Wie dem auch sei, der Planet zeigt einen ungewöhnlichen Anhang. Bonnie vermutet, dass es sich um einen wunderlichen Trabanten handelt. Möglicherweise ein Raumschiff.«
»Was? Wo? Warum erzählen Sie mir dies nicht sofort?!« Sie stieß ihn zur Seite und humpelte in Richtung Brücke davon.
Ihr Erster Offizier folgte ihr mit dem gemurmelten Spruch: »Wie immer ist sie mir einen Schritt voraus.«
Sie überhörte den Spruch bewusst.
Auf der Brücke hielt der dunkelhäutige Kanonier Jambaar das Steuerrad, während die Forscherin Bonnie Leach Messungen am Fernrohr vornahm.
»Kapitänin auf der Brücke«, schmetterte ihr die dumpfe Stimme Jambaars entgegen.
»Weitermachen«, befahl Patricia und begab sich an die Seite von Bonnie. Die Expertin für Ätherkunde blickte auf und sah sie mit dem aufgeregten Blick eines Kindes an.
»Die Kurzfassung«, forderte Patricia.
»Schwer zu sagen«, begann Bonnie, »ich empfange widersprüchliche Signale. Vor uns befindet sich so etwas wie ein Planet. Ich habe ihn ›Varietas‹ getauft.«
»Sie haben was?«, fragte Patricia verblüfft. »Diese Sache obliegt dem Kommandanten der Operation …«
»Möglicherweise beim Militär«, unterbrach Bonnie. »In der Welt der Wissenschaften wird dies anders geregelt.«
Der Peitschengriff knirschte unter Patricias Fingern.
»Wie auch immer, was ist mit diesem Planeten? Glauben Sie, wir könnten unseren Kessel dort reparieren lassen?«
»Ich bezweifele es, denn die Äthersignatur von Varietas ist verblüffend, um es einmal laienhaft darzustellen. Es scheint sich bei allen Lebensformen um Variationen derselben Signatur zu handeln.«
»Weiter?«
»Es könnte sich um einen Fehler der Detektoren handeln oder um ein ungünstiges Verhältnis von Signalstärke zum Hintergrundrauschen …«
»Kapitän«, blaffte Jambaar vom Steuerrad aus, »wir werden angegriffen!«
»Jambaar, an die Kanonen.«
Patricia fuhr herum und übernahm das Steuer. Durch das vordere Sichtfenster erblickte sie den grünen Planeten Varietas. Wesentlich näher schwebte sein sonderbarer Trabant an die Jules III heran. Das kugelförmige Gebilde war größer als der Raumer und schien aus grünlichem Schleim zu bestehen. Aus den Tiefen dieser Schleimkugel bildete sich ein tentakelähnlicher Fangarm aus. Patricia schätzte den Kurs des Tentakels ab und warf das Steuerrad schwungvoll herum.
»Ein Seitensegel hat einen Riss!«, verkündete die Sprechanlage scheppernd.
»Einholen, Olivia«, befahl Patricia der Technikerin am anderen Ende der Verbindung. »Jambaar, was machen die Kanonen? Feuer frei!«
»Feuer kommt!«, meldete Jambaar. »Kettenladung und Schrapnell.«
Eine Erschütterung ließ das Schiff erbeben. Von ihrer Position aus sah Patricia, wie die Ladung Metallschrott und zwei mit Ketten verbundenen Kugeln den angreifenden Tentakel in Stücke rissen. Der Trabant bildete weitere Fangarme aus, doch er entfernte sich bereits zu schnell vom Raumer. Seine Umlaufbahn führte ihn von der Jules III fort.
»Kapitän, ein Seitenruder ist defekt. Das Segel lässt sich nicht einholen. Wir müssen landen und das ganze verdammte Schiff reparieren.«
»Dann bleibt nur die Landung auf Varietas«, sagte Matt Christie. »Endlich etwas Abwechslung.«
»Dieser Schleimtrabant ist mit einer lianenartigen Ranke am Planeten befestigt«, sagte Bonnie Leach und ihre Augen strahlten, als sie es mitteilte. »Einzigartig. Wirklich bemerkenswert.«
»Schön, wenn ich meiner Crew eine Freude machen kann«, murmelte Patricia und sah sich um. »Bonnie, wie lange dauert die Umlaufbahn dieses schleimigen Trabanten eigentlich?«
»Moment … ich würde sagen, etwa fünf Minuten, warum?« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Oh!«
»Olivia«, brüllte Patricia in den Trichter der Sprechanlage, »wir landen! Die Stützen ausfahren und die Segel vollständig einziehen.« Ohne ein weiteres Wort zwang die Kapitänin die Jules III in einen spiralförmigen Abwärtsdrift in Richtung Oberfläche.
»Wann stoßen wir in die Atmosphäre vor?«, fragte sie beiläufig.
»Gar nicht«, kam die prompte Antwort von Bonnie Leach.
»Wieso nicht?«, fragte Patricia entsetzt.
»Weil unsere verwirrte Forscherin zu Beginn etwas von einer Art Planet gemurmelt hat, richtig?«, warf Matt Christie ein.
»Stimmt. Der Kern von Varietas ist ungewöhnlich leicht. Ich vermute, er besteht nur aus Biomasse.«
»Nur aus Schleim?« Patricias Hände verkrampften sich am antiken Steuerrad.
»Nein, die Äthersignale waren schwach, aber ich vermute, dass wir auf komplexe Lebensformen treffen werden.«
»Wie komplex?«, fragte Matt Christie.
»Varietas steht für Vielfalt und in dieser Hinsicht wird unser Ziel uns nicht enttäuschen.«
Die Galionsfigur von Jules Verne bohrte sich tief in den weichen Boden. Grüne und violette Pflanzenteile stoben in jede Richtung davon. Die ausgefahrenen Stützen fanden kaum Halt in dem morastigen Untergrund.
»Statusmeldung?«, rief Patricia in den Trichter.
»Hülle intakt, Kapitänin. Ein Segel zerfetzt, aber reparierbar. Zeit, unsere Spinnen anzutreiben. Den Rest muss ich von außen sehen.«
»Danke«, sagte sie und blickte sich in der Kommandozentrale um. »Was ist mit unseren besonderen ›Gästen‹? Immerhin haben wir sie aus der Hand der Sklavenhändler befreit. Dafür könnten sie sich ruhig etwas nützlich machen. Was wissen sie über Varietas?«
»Keine Ahnung«, antwortete Bonnie.
»Dann fragt sie gefälligst.«
Die Forscherin hob den einzig verfügbaren Kommunikator auf und verließ die Brücke.
Patricia sah aus dem verdreckten Frontfenster und entdeckte in dem undurchdringlichen Dschungel Lebewesen mit geschuppten Panzern und gelben Augen. Eines der Wesen bleckte die säbelartigen Zähne.
»Wir können Hilfe brauchen«, murmelte sie.
Eine der affenartigen Kreaturen stürmte auf die Seitenluke zu und zerrte an dem Metall.
»An alle«, sagte sie in den Trichter der Sprechanlage, »wir sind notgelandet. Außenmontur anlegen und persönliche Bewaffnung mitführen. Absolute Priorität besitzt die Reparatur der Segel und des Seitenruders. Konfrontationen mit den Bewohnern von Varietas vermeiden. Ende.«
Sie kehrte zum Steuerrad zurück und lehnte sich daran. Ihr Erster Offizier Christie tauchte neben ihr auf und hielt ihr den ätherbeständigen Druckanzug und die Helmglocke entgegen.
Er strich über seinen Schnurrbart und sagte: »Da draußen werden wir uns nur schwer behaupten können. Ich würde starke Bewaffnung vorschlagen. Die achtschüssigen Repulsorwaffen könnten sich als zu schwach erweisen …«
»Woraus schließen Sie das?«
»Da ist so ein Kribbeln zwischen meinen Schulterblättern«, bekannte er freimütig.
»Etwas Stichhaltigeres haben Sie nicht?«
»Es hat mich während meiner ersten Karriere als … Freibeuter am Leben gehalten.« Mit einem breiten Grinsen fügte er hinzu: »Und vollständig intakt.«
Sie schwor sich, sollte sein Blick ihre Beinprothese streifen, würde sie ihn auspeitschen. Er vermied es und so schlüpfte sie ebenso wie er in den Anzug. Das Schott zur Brücke öffnete sich scheppernd und Bonnie kehrte mit dem roten Gorilla zurück.
Wie die fremden Sklavenhändler diesen Riesen unter ihre Gewalt gebracht hatten, war Patricia schleierhaft. Fest stand, dass sie trotz Kommunikator weder seinen Namen, noch seine Spezies herausgefunden hatten. Wegen der auffälligen Hautfarbe nannte ihn die Crew »den Marsianer«. Die gelben Augen blickten nach draußen und entdeckten die beschuppten Wesen. Sofort leuchteten die Pupillen lodernd auf. Patricia zeigte auf das Außenschott und der Marsianer machte sich auf den Weg.
Ob er unsere Gedanken lesen kann?, fragte sie sich. Kopfschüttelnd machte sie sich auf den Weg zum Spinnenraum. Tom, einer von Jambaars einfältigen Bordschützen, blickte gerade in die Luke des Zuchtraumes.
»Kapitänin Woods«, er nahm so etwas wie Haltung an, »ich fürchte, wir haben Probleme.«
»Nun, da drin ist irgendwie …«
Sie warf selbst einen Blick durch die Luke und sah den Zuchtraum der Seidenspinnen. Vor dem Kesselunfall waren Äthersegel reine Dekoration. Jetzt hingegen waren sie überlebenswichtig. Der Raum sah fürchterlich aus, da sie befohlen hatte, sämtliche Fäkalien in die ehemalige Kabine zu leiten. Die damit gezüchteten Fliegen hielten die faustgroßen Seidenspinnen am Leben. Ein Vorgehen, welches die Queen niemals geduldet hätte. Hier draußen jedoch, weitab von den bekannten Handelswegen, verschollen und orientierungslos?
Ihr Erster Offizier war ein ehemaliger Pirat, viel schlimmer konnte es nicht kommen. Wobei sie sich manchmal nach seinen starken Armen sehnte. Ein Zustand, der zum Glück immer wieder rasch verging.
Sie verwarf die Gedanken und konzentrierte sich auf den Anblick. Etwas fehlte. Die schwarze Wolke aus Fliegen war verschwunden. Sie drehte sich zu dem Bordschützen um und fragte: »Was ist dort passiert?«
»Keine Ahnung, Kapitänin. Als ich die Sch…abwässer umgeleitet hatte, kam ein übler Geruch hoch und dann habe ich wohl etwas viel Reinigungskalk zugegeben …«
»Sie haben was zugegeben?«, schrie sie ihn an. Ihre Hand hob die Peitsche.
»Ich habe nicht nachgedacht und im nächsten Augenblick …«
»Sie denken nie nach! Ich sollte Sie in Kalk ertränken lassen, elender Wurm von einem …«
Aus dem Trichter der Sprechanlage ertönte ein hohes Pfeifen, dann die Stimme von Bonnie Leach: »Wir haben hier draußen Probleme. Am Außenschott.«
»Ich bin unterwegs«, antwortete Patricia. Sie senkte die Peitsche und dachte nach. »Tom, Sie gehen dort rein und holen so viel vom Kalk heraus, wie nur irgend möglich. Retten Sie die Fliegen, sonst ist es um uns geschehen. Keine Fliegen bedeutet keine Spinnen und dies bedeutet keine Segel, verstanden?«
Der Mann nickte ergeben und begab sich zum Zugang der Spinnenkammer.
Im Eilschritt, soweit es ihre Prothese zuließ, machte sie sich auf dem Weg zum Außenschott.
Eine aufgelöste Bonnie Leach begrüßte sie mit einem hektischen Wortschwall, dem sie immerhin entnehmen konnte, dass der Marsianer mehrere der geschuppten Wesen zerrissen hatte, bevor er von besser gepanzerten und agileren Kreaturen angegriffen und verletzt wurde. Der gelbäugige Marsianer lehnte an der Wand des Schotts und blutete aus mehreren tiefen Wunden. Zu ihrer Verwunderung war das Blut des roten Gorillas ebenfalls von roter Farbe. Sie hatte etwas Exotischeres erwartet.
Kratzende Geräusche drangen an ihre Ohren. Durch die Luke konnte sie geifernde Wesen sehen, die mit ihren Krallen die Metallhülle des Raumers bearbeiteten.
»Sahen diese Biester eben nicht noch anders aus?«, fragte sie irritiert.
»Sie scheinen sich anzupassen«, antwortete Bonnie. »Schneller als üblich. Die Pflanzenwelt auch. Alles verändert sich.«
»Könnte dies nicht auch bedeuten, dass …«, begann Patricia, als eine weitere Variante der geschuppten Kreaturen mit blitzenden Klauen auftauchte. Die Kratzgeräusche wurden bedrohlicher. Metallspäne segelten durch die Luft.
»Was zur Hölle geht dort vor?« Sie trat an die Sprechverbindung. »Kapitänin Woods an Jambaar, ich brauche konzentriertes Feuer auf die Stelle am Außenschott. Sofort!«
Bonnie blickte auf ihr Messgerät und sagte: »Die Signaturen gleichen sich frappierend. Varietas ist tatsächlich der passende Name für diesen Planeten.«
»Dies ist nicht der richtige Zeitraum für wissenschaftlichen Schnickschnack!«, fuhr Patricia die Forscherin an, die davon aber völlig unberührt blieb.
»Im Gegenteil, es ist sogar entscheidend. Diese Wesen haben die gleiche Äthersignatur wie die Pflanzen, die unsere Stützen umschlungen halten.«
»Schlingpflanzen haben uns in der Gewalt?« Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. »Wieso erfahre ich davon nichts?«
»Weil es in der Prioritätenliste der Probleme nicht so wichtig ist.«
»Ich bestimme die Prioritäten«, unterbrach Patricia.
»Im Augenblick fliegen wir ohnehin nirgendwo hin.«
»Die Pflanzen verändern sich ständig.«
»Wieso?«, fragte Patricia. »Es ergibt doch keinen Sinn.«
»Möglicherweise ist in ihrem Aufbau etwas defekt. Wäre es ein Mensch, so würde ich denken, es sei zwanghaft.«
»Oder krankhaft?«, warf Patricia ein.
Ein Donnern erfüllte den Flur und die Kanonenmündungen feuerten schwere Salven auf die geschuppten Kreaturen. In einer Wolke aus Feuer verschwanden die aggressiven Bewohner von Varietas.
»Sie sind nicht immun gegen unsere Waffen«, stellte Bonnie überflüssigerweise fest.
»Brauchen sie auch nicht zu sein.« Die Kapitänin zeigte auf Bewegung in der Ferne. Baumähnliche Ranken knickten zur Seite, als ein gigantisches Wesen aus rotem Protoplasma sich der Jules III näherte. Langsam, aber scheinbar unaufhaltsam.
»Jambaar«, rief Patricia in den Trichter, »alles, was geht, sofort auf das neue Ziel. Jetzt! Bis es aufhört, sich zu bewegen.«
Das Ding schob sich vorwärts und während der Bewegung durchlief es zahlreiche Veränderungen in Form und Farbe. Bonnie blickte auf ihre Apparatur und erklärte: »Die gleiche Signatur, wie alles auf diesem Planetending. Es verändert sich nur in einem gewissen Rahmen. So als suche es neue Wörter mit einer begrenzten Anzahl an Buchstaben.«
»Ist die Entwicklung nicht etwas zu schnell?«, fragte Patricia, den Blick fest auf den heranwalzenden Koloss geheftet.
»Nach den Gesetzen der Massenerhaltung und der uns bekannten Kontinuität der …«, begann Bonnie.
Der Rest ging in einem gewaltigen Krachen unter, als Jambaar und seine beiden Kanoniere ihre Waffen abfeuerten. Das riesige Ding zerplatzte an mehreren Stellen und große Teile des Protoplasmas fielen leblos zu Boden. Die Überreste veränderten die Farbe und hielten an. Schuppen bildeten sich auf der Oberfläche. In rasender Geschwindigkeit baute sich das Wesen um.
»Unglaublich!«, gab Bonnie von sich und blickte auf ihre Messapparate, »es ist wieder nur die Variation des ursprünglichen Lebewesens.«
»Wie können wir diese Erkenntnis nutzen?«, fragte Patricia gepresst. »Dieses Vieh steuert direkt auf uns zu.«
»Vielleicht ist das gar nicht nötig«, murmelte Bonnie.
»Was? Etwas konkreter, bitte! Sofort! Jambaar, Feuer frei!«
Eine einzelne Kanone feuerte auf die Mitte des heranrollenden Fleischberges. Ein sauberes Loch bildete sich an der Stelle, wo die Schuppen abplatzten. Das Wesen kroch vorwärts, doch mit jedem Zoll verdunkelte sich seine Farbe. Aus dem saftigen Rot wurde ein fahles Grau. Die Schuppen fielen ab und das Fleisch zersetzte sich vor Patricias ungläubigen Augen.
»Was für eine Sauerei!« Die Kapitänin blickte sich zu Bonnie Leach um und fragte: »Was meinten Sie vorhin?«
»Diese Wesen verwandeln sich sehr schnell«, sagte Bonnie. Patricia nickte ungeduldig. »Zu schnell. Was auch immer diese Kreaturen antreibt, es verbrennt sie regelrecht. Das gesamte Leben auf diesem Planeten versucht, sich möglichst rasch anzupassen. Möglichst schneller, bevor er zur Gänze verbrennt.«
»Der Planet stirbt? Das Leben eines ganzen Planeten?«
»Scheint unmöglich, doch die Messwerte zeigen es eindeutig.« Bonnie deutete auf ihre Detektoren. »Da kommt wieder etwas.«
Eine Kreatur, die wie eine Mischung aus Pflanzen und dem Marsianer aussah, näherten sich der Jules III. Langsam, zögerlich, so als prüfe sie jeden Schritt.
Ein Ruck ging durch den Raumer.
»Olivia hier«, kam es über die Sprechanlage, »der Boden bewegt sich.«
»Ein Erdbeben?«, fragte Patricia, doch Bonnie schüttelte den Kopf.
»Kapitänin, ich fürchte, die Pflanzen verändern sich, der Boden verändert sich und der gesamte Planet verändert sich.«
»Wie lange hat dieser verfluchte Himmelskörper noch?«
»Eher Stunden als Tage«, kam die prompte Antwort.
»Jambaar hier«, erklang die tiefe Stimme des Waffenmeisters, »was mache ich mit dem Wesen dort draußen? Eliminieren?«
Schon wollte Patricia den Feuerbefehl erteilen, als sie bemerkte, dass diese Kreatur sich nicht veränderte. Die Ähnlichkeit mit dem verletzten Marsianer war frappierend. Das Blut fiel ihr wieder ein. Sollte das wenige Blut einen stabilisierenden Einfluss haben? Die Kreatur blieb zwanzig Schritte vor der Jules III stehen. Die einzige Konstante in der sich beständig verändernden Umwelt.
»Auf meinen Befehl warten«, sagte sie laut. »Ich möchte erst noch etwas prüfen.« Sie sah sich um und erblickte Matt Christie, der lässig im Türrahmen zur Brücke lehnte.
»Ich könnte mal nachsehen, was das Wesen möchte«, schlug er vor, »zumindest, wenn mir die fleißige Bonnie ihr Übersetzungsgerät überlässt.«
Sie nickte ihm zu. Rasch verließ er die Brücke. Wenig später erblickte sie ihn, wie er sich breitbeinig und mit zwei Repulsorrevolvern in den Händen vor dem fremden Wesen aufbaute. Der Boden schwankte erneut und Patricia hielt sich am Steuerrad fest.
Über die Sprechverbindung konnte sie hören, wie Matt Christie das fremde Wesen ansprach: »Wir kommen in Frieden!«
»Ihr seid anders«, erklang es aus dem Übersetzungsgerät um Christies Hals, »stabil und fremd.«
»Wir sind bereit, unsere Hilfe anzubieten«, erklärte Matt.
»Opfert die Lebewesen in dem Metallding«, war die Antwort. Patricias Züge versteinerten. Dies war eine offene Kriegserklärung. Wie würde der Erste Offizier darauf reagieren?
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Matt. Das Wesen blickte ihn intensiv an, dann sagte es: »Es spielt keine Rolle. Wir brauchen Eure Stabilität, um unsere Varianz zu besiegen.«
Ein titanenhaftes Wesen bildete sich im Hintergrund, welches der Jules III allein an Masse um ein Vielfaches überlegen war. Krachend erhob sich der Gigant aus dem morastigen Boden. Pflanzen, Tiere und Steine verschmolzen zu einer Kreatur.
»Hier verändert sich wieder alles«, erklärte Bonnie. Die Luft reichert sich in unglaublicher Geschwindigkeit mit Sauerstoff und Methan an.« Sie blickte nach draußen. »Faszinierend, eben konnte man die Luft nicht atmen, jetzt entsteht dort draußen das reinste Gebräu.«
»Matt Christie, sofortiger Rückzug zum Schiff«, befahl Patricia über Sprechfunk. »Schnell!«
»Jambaar, alle Kanonen feuerbereit.« Patricia hielt das Steuerrad fest in den Händen. »Olivia, die Maschinen starten. Notfallraketenstart! Keine Widerrede. Alles auf volle Kraft!«
»Matt Christie«, rief sie und blickte durch die Scheibe. Der Erste Offizier hatte beide Revolver auf den Abgesandten des Planeten Varietas abgefeuert. Blutend sank das Wesen zu Boden. Der sich bildende Koloss schlurfte näher heran. Sein Schatten verdunkelte bereits das Schiff. Unter sich spürte Patricia das Heulen der Dampfturbinen.
»Ich bin drin«, kam Matts gehetzte Stimme über das interne Fernsprechsystem.
»Jambaar, Feuer frei!« Die Antwort in Form von aufblitzenden Projektilen kam prompt. Sie schloss die Augen und dennoch blendete sie der helle Widerschein der Explosion.
Im selben Moment ging ein gewaltiger Ruck durch die Jules III. Sie hob ab und entfernte sich vom brennenden Planeten Varietas. Die Flammen wurden durch den Weltraum rasch gelöscht, doch überall auf dem sonderbaren Trabanten schossen Feuerlohen ins All. Die Jules III machte gute Fahrt. Als sie gebührenden Abstand zwischen sich und Varietas erreicht hatten, ließ Patricia die Maschinen stoppen.
»Sauerstoff und Methan«, sagte Bonnie Leach und blickte bewundernd zu Patricia auf, »ziemlich schlau.«
»Ein explosives Gemisch, wahrhaftig«, erwiderte Patricia. »Hoffentlich können wir die Äthersegel rasch genug reparieren.« Ihr fiel die Sache mit den abgetöteten Fliegen im Spinnenzuchtraum wieder ein.
»Tom, wie steht es um die Fliegen?«
»Gut, Kapitänin, ich habe einige Brummer von diesem verrückten Planeten eingefangen und in den Spinnenraum gesetzt. Die Viecher entwickeln sich prächtig. Sie wachsen bereits auf doppelte Größe an …«
»Was, die Fliegen sind bereits doppelt so groß?« Sie fand Halt am Steuerrad. Welche Folgen könnte diese Unbedarftheit mit sich bringen?
»Die Spinnen sind auch gewachsen, Kapitänin, ich denke, die Segel werden in kürzester Zeit repariert sein, Kapitänin.«
»Danke, Tom«, antwortete sie und ihre Beine drohten wegzubrechen. Eigentlich waren es gute Nachrichten, doch was geschah, wenn das Wachstum sich nicht mehr stoppen ließ?
»Kapitänin«, sagte Matt Christie und baute sich lässig neben ihr auf. »Sie sind wahrhaftig eine ›Tochter des Teufels‹.«
Für diese Unverschämtheit hätte sie ihn zu einem anderen Zeitpunkt mit der Peitsche traktiert, an diesem Punkt ihrer Reisesie nur zutiefst dankbar, dass er an ihrer Seite stand. Was die mutierten Spinnen anging, so konnte sie ohnehin nur abwarten. Beobachten und warten.
»Was ist mit unserem Auftrag?«, fragte er leise. »Die aggressive Forschung in den Kolonien des Kosmos?«
»Wird abgesagt«, flüsterte sie. »Mein Ziel ist die Rückkehr. Alle und unversehrt. Mit welchen Mitteln auch immer.«
»Ich bin dabei.« Sein Goldzahn blitzte auf.