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I. Am Abend eines Tagemarsches
ОглавлениеAn einem der ersten Tage des Monats Oktober im Jahre 1815 betrat ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang ein Wanderer die kleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die zu dieser Zeit am Fenster oder auf ihrer Thürschwelle standen, betrachteten den Mann mit ängstlichen Gefühlen. War es doch schwer sich einen elenderen Anblick vorzustellen, als dieser unbekannte Vorübergehende darbot. Es war ein untersetzter starker Mann, der sechsundvierzig bis achtundvierzig Jahre zählen mochte. Er trug eine Mütze, deren lederner Schirm sein sonnengebräuntes, mit Schweiß bedecktes Gesicht zum Theil barg. Sein grobes gelbes Hemd, das oben durch einen kleinen silbernen Anker zusammengehalten wurde, ließ seine haarige Brust sehen. Er trug ein, wie ein Strick zusammengedrehtes Halstuch, verschlissene Beinkleider aus blauem Zwillich, von denen das eine Bein am Knie weiß, daß andere durchlöchert war, einen alten grauen zerlumpten Kittel, dem am Ellenbogen ein mit Bindfaden genähter Flick aufgesetzt war, einen sehr vollen, gut zugeschnallten und ganz neuen Tornister, einen gewaltigen Knotenstock und eisenbeschlagene Schuhe ohne Strümpfe. Das Kopfhaar war sehr kurz geschoren, der Bart dagegen sehr lang.
Niemand kannte diesen müden, über und über mit Staub bedeckten Wanderer. Woher kam er? Von Süden, vielleicht vom Meere her. Denn er betrat die Stadt auf derselben Straße, die sieben Monate vorher den Kaiser Napoleon auf seinem Zuge von Cannes nach Paris hatte einziehen sehen. Der Fremde mußte offenbar den ganzen Tag marschiert haben. Einige Frauen aus dem unterhalb der Stadt gelegenen Flecken hatten gesehen, wie er unter den Bäumen des Boulevard Gassendi, am Ende der Promenade, stehen geblieben war, um aus der Fontaine zu trinken. Er schien recht durstig zu sein, denn zweihundert Schritte weiter wurde er von Kindern beobachtet, wie er aus der Marktfontaine abermals trank.
An der Ecke der Rue Poichevert angelangt, wandte er sich links und ging auf das Stadthaus zu. Hier trat er ein und kam nach einer Viertelstunde wieder heraus. Dicht bei der Thür saß ein Gendarm auf einer steinernen Bank, auf der am 4. März der General Drouot gestanden und dem verwunderten Volke die Proklamation des Kaisers Napoleon vorgelesen hatte. Unser Wanderer nahm seine Mütze ab und grüßte demüthig den Gendarmen.
Dieser sah ihn, ohne ihm zu danken, aufmerksam an, folgte ihm mit den Augen und ging dann in das Rathhaus hinein.
Es gab zu der Zeit in Digne eine sehr gute Herberge »zum Kreuze.« Der Wirt hieß Jacquin Labarre und erfreute sich in der Stadt einer besondern Hochachtung wegen seiner Verwandtschaft mit einem andern Labarre, der die Herberge zu den »Drei Dauphins« in Grenoble besaß und bei der Leibwache gedient hatte. Zur Zeit der Landung Napoleons bei Cannes waren über diese Herberge »zu den drei Dauphins« ganz sonderbare Gerüchte umgegangen. Es hieß, der General Bertrand sei, als Fuhrmann verkleidet, im Monat Januar oft dort eingekehrt, um an die Soldaten Ehrenkreuze und an die Civilisten Napoleond'ors zu vertheilen. Thatsächlich aber hatte der Kaiser bei seinem Einzug in Grenoble die Einladung, im Präfekturgebäude Wohnung zu nehmen, mit Dank abgelehnt, indem er zu dem Bürgermeister sagte: »Ich kehre bei einem rechtschaffenen Gastwirt, den ich kenne, ein« und hatte in den drei Dauphins logirt! Die große Ehre, die so dem Labarre in Grenoble zu Theil wurde, warf noch fünfundzwanzig Meilen weit einen Abglanz auf den Labarre in Digne. Man rühmte von diesem: »Er ist ein Vetter von dem in Grenoble.«
Nach dieser Herberge »zum Kreuze«, der besten in der der Stadt, lenkte unsrer Wanderer seine Schritte. Er trat in die Küche ein, deren Thür unmittelbar auf die Straße hinausging. Alle Kochherde und Backöfen waren im Gange, und im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Der Wirt stand am Herde und hatte alle Hände voll zu thun mit der Zubereitung eines üppigen Abendessens, das für eine sehr vergnügte Gesellschaft von Frachtfuhrleuten in einem Nebenzimmer bestimmt war. Ißt und trinkt doch, wie Jedem, der viel gereist hat, bekannt ist, Niemand besser als die Fuhrleute. Am Kamin drehte sich am Bratspieß ein von Repphühnern flankirtes fettes Murmelthier und auf den Kochherden brieten zwei große Karpfen aus dem See von Lauzet und eine Forelle aus dem See von Alloz.
Als der Wirth die Thür gehen und einen neuen Gast hereinkommen hörte, fragte er ohne den Kopf umzuwenden:
»Was wünscht der Herr?«
»Ein Abendessen und ein Nachtlager.«
»Nichts leichter, als das«, erwiderte der Wirt. In demselben Augenblick aber wandte er sich um, überflog mit einem Blicke den Ankömmling von Kopf bis zu Fuß und ergänzte seine Antwort mit der Einschränkung: »Wer bezahlt!«
Der Fremde holte eine große lederne Börse aus einer Tasche seines Kittels hervor und antwortete:
»Ich habe Geld.«
»In dem Fall stehe ich zu Diensten.«
Der Mann steckte die Börse wieder ein, nahm seinen Tornister ab, stellte ihn in der Nähe der Thür an die Erde, behielt seinen Stock in der Hand und ließ sich auf eine Fußbank vor dem Kamin nieder. Digne liegt im Gebirge und die Oktoberabende sind daselbst kalt.
Währenddem musterte der Wirt, indem er überall herumhantirte, den Ankömmling.
»Wird bald gegessen?« fragte dieser.
»Gleich!« lautete der Bescheid des Wirtes.
Während der Gast sich am Kamin wärmte, zog der wackre Wirt Jaqcuin Labarre hinter seinem Rücken einen Bleistift aus der Tasche und riß von einer alten Zeitung, die sich aus einem kleinen Tisch am Fenster herumtrieb, eine unbedruckte Ecke ab. Auf diesen Fetzen Papier schrieb er ein paar Zeilen, faltete ihn ohne ihn zuzusiegeln und übergab ihn einem Jungen, den er in der Küche und als Laufburschen in seinem Dienst hatte. Diesem flüsterte er einige Worte ins Ohr, worauf der Junge spornstreichs davon eilte, nach dem Stadthaus zu.
Der Gast hatte von dem ganzen Vorgang nichts bemerkt.
Nach einer Weile fragte er wieder: »Wird bald gegessen!« und abermals antwortete der Wirt: »Gleich!«
Bald darauf kam der Küchenjunge mit dem Stück Papier zurück. Der Wirt faltete es hastig auseinander, wie Jemand, der die Antwort mit Ungeduld erwartet hat. Er schüttelte den Kopf, während er den Zettel las und sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann trat er vor den Gast, der in trübe Gedanken versunken schien.
»Guter Freund, ich kann Sie nicht aufnehmen.«
Der Gast richtete sich auf seinem Sitz empor.
»Wieso? Haben Sie Angst, daß Sie kein Geld von mir kriegen? Soll ich vorausbezahlen? Ich habe Geld, sage ich Ihnen.«
»Nicht darum.«
»Ja, warum denn aber?«
»Sie haben Geld ...«
»Ja gewiß«, bestätigte der Fremde.
»Aber ich habe kein Zimmer für Sie.«
»Dann lassen Sie mich im Stall schlafen.«
»Geht nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil die Pferde allen Platz im Stall brauchen.«
»Gut, dann weisen Sie mir irgend einen Winkel auf dem Boden an. Ein Bund Stroh werden Sie ja auch wohl noch haben. Wir können ja nach dem Essen darüber sprechen.
»Ich kann Ihnen nichts zu essen geben.«
Diese in ruhigem Tone, aber mit Nachdruck abgegebene Erklärung machte den Gast stutzig. Er erhob sich von seinem Sitze.
»Das ist ja noch schöner! Ich falle um vor Hunger. Ich habe seit Sonnenaufgang marschirt. Wenn ich Geld habe, muß ich doch zu essen bekommen.«
»Ich habe aber nichts,« entgegnete der Wirt.
Der Fremde lachte laut auf und wies mit dem Kopf nach dem Kamin und dem Herde.
»Sie haben nichts! Ist das nichts?«
»Das ist alles bestellt.«
»Von wem?«
»Von den Herren Fuhrleuten.«
»Wie viele sind das?
»Zwölf.«
»Damit können Zwanzig reichen.«
»Sie haben alles bestellt und vorausbezahlt.«
Der Fremde setzte sich wieder und fuhr, ohne heftig zu werden, fort:
»Ich bin in einer Herberge, ich habe Hunger, also bleibe ich.«
Jetzt beugte sich der Wirt zu ihm nieder und sagte mit einer Betonung, bei der sein Gast zusammenschrak! »Gehen Sie!«
Der Fremde hatte sich gerade niedergebückt und stieß mit der eisernen Zwinge seines Stockes einige Kohlen in das Feuer. Er wandte sich hastig um, aber als er den Mund zu einer Erwiderung aufthat, sah ihm der Wirt fest in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort: Lassen wir die überflüssigen Redensarten. Soll ich Ihnen sagen, wie Sie heißen? Jean Valjean. Und wer Sie sind? Vorhin, als Sie hereinkamen, habe ich schon einen richtigen Animus gehabt und habe auf dem Stadthaus nachfragen lassen. Können Sie lesen?
Bei diesen Worten überreichte er dem Fremden den Zettel, der zwischen dem Stadthaus und der Herberge hin- und hergewandert war ... Der Gast überflog ihn mit einem Blicke. Dann fuhr der Wirt nach einer Pause fort:
»Ich bin aus Grundsatz gegen Jedermann höflich. Gehen Sie.«
Der Fremde ließ den Kopf auf die Brust sinken, hob den Tornister von der Erde auf und ging.
Er ging die Hauptstraße entlang. Vor sich hin, auf's Gerathewohl, dicht an den Häusern, wie Einer, dem eine Demüthigung widerfahren, und der infolgedessen schwermüthig gestimmt ist. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um. Hätte er es gethan, so würde er gesehen haben, wie der Gastwirt und um ihn herum alle seine Gäste, so wie andres Publikum ihm nachschauten, nach ihm zeigten, sich lebhaft unterhielten, und hätte aus ihren mißtrauischen und ängstlichen Blicken schließen können, daß binnen Kurzem seine Ankunft wie ein wichtiges Ereignis ausposaunt sein würde.
Aber er merkte nichts von alle dem. Die Unglücklichen sehen sich nicht um. Sie wissen auch so, daß das Unglück hinter ihnen geht.
So schlich er eine Zeitlang dahin, durch Straßen, die er nicht kannte, ohne seine Müdigkeit zu beachten, wie dies bei schwermüthiger Stimmung der Fall zu sein pflegt. Plötzlich aber meldete sich wieder der Hunger. Die Nacht brach herein. Er sah sich um, ob er nicht irgend einen Unterschlupf finden könne.
Aus dem feinen Gasthaus war er hinausgewiesen worden; er suchte also irgend ein bescheidenes Logirhaus, irgend ein armseliges Loch.
In dem Augenblick flammte gerade am Ende der Straße ein Licht auf, und ein Kiefernzweig an einem eisernen Ständer zeichnete sich an dem weißen Abendhimmel ab. Er ging darauf zu.
Es war in der That eine Schänke, die in der Rue de Chaffaut.
Der Fremde blieb einen Augenblick davor stehen und betrachtete durch das Fenster einen niedrigen Saal, der von einer kleinen Lampe und einem hellen Kaminfeuer beleuchtet war. Es waren einige Gäste darin. Der Wirt stand am Kamin und wärmte sich. Ueber dem Feuer hing ein eiserner Topf an einem Kesselhacken.
Diese Schänke, in der man auch logieren kann, hat zwei Thüren, von denen die eine nach der Straße hinausgeht, und die andere nach einem Hofe, in welchem Dünger liegt.
Zu der Straßenthür wagte der Fremde sich nicht hinein. Er schlich sich in den Hof, blieb nochmals stehen, drückte auf die Klinke und machte die Thür auf.
»Wer ist da?« rief der Wirt.
»Jemand, der um ein Abendessen und ein Nachtlager bittet.«
»Sehr wohl. Das kann man hier kriegen.«
Er trat ein. Alle Gäste sahen nach ihm hin, während die Lampe von der einen und das Kaminfeuer von der andern Seite in beleuchteten. So musterte man ihn eine Zeit lang, während er seinen Tornister aufschnallte.
Der Wirt sagte dann zu ihm: »Hier ist ein gutes Feuer. In dem Topf kocht das Abendbrod. Kommen Sie näher, guter Freund, und wärmen Sie Sich!«
Der Fremde setzte sich, hielt seine wund gelaufenen Füße an das Kaminfeuer und sog den angenehmen Duft ein, der dem Kochtopf entstieg. Derjenige Theil seines Gesichts, den seine tief heruntergezogene Mütze noch sehen ließ, drückte Behagen aus und erhellte einigermaßen die leidensvollen Falten, die fortgesetztes Elend um seinen Mund gebildet hatte.
Das Profil des Fremden deutete auf Festigkeit und Energie. Seine Züge ließen auf ein sonderliches Gemisch von Demuth und Strenge schließen. Die Augen leuchteten unter den Augenbrauen wie Feuer aus einem Gestrüpp hervor.
Zufälliger Weise befand sich unter den Gästen in diesem Lokal auch ein Fischhändler, der kurz zuvor sein Pferd bei Labarre untergebracht hatte. Der Mann erkannte in dem neuen Ankömmling ein verdächtiges Subjekt, dem er am Morgen eben dieses Tages zwischen Bras d'Asse und – wenn ich mich recht entsinne – Escoublon begegnet war. Dieser, der schon zu der Zeit sehr ermüdet schien, hatte ihn gebeten, ihn hinter sich auf sein Pferd zu nehmen, worauf der Fischhändler statt aller Antwort noch schneller gefahren war. Dieser Mann also, der eine halbe Stunde vorher mit Labarre auf der Thürschwelle gestanden und seine gefahrvolle Begegnung erzählt hatte, winkte jetzt heimlich dem Wirt. Derselbe trat an ihn heran und sie wechselten einige Worte im Flüsterton, während der Fremde am Feuer saß und seinen Gedanken nachhing.
Der Wirt kam alsbald wieder zu dem Kamin zurück legte derb seine Hand auf die Schulter des Fremden und herrschte ihn an:
»Mach, daß Du fortkommst!«
Der Fremde wandle den Kopf und erwiederte mit sanfter Stimme!
»Sie wissen also ...?«
»Ja.«
»Ich bin aus der andern Herberge hinausgewiesen worden.«
»Und hier wirst Du auch weggejagt.«
»Wo soll ich denn hingehen?«
»Anderswohin.«
Der Fremde griff nach seinem Stock und Tornister und ging davon.
Als er herauskam, warfen ihn einige Kinder, die ihm von der ersten Herberge her gefolgt waren und hier auf ihn zu warten schienen, mit Steinen. Er lief ihnen wüthend nach und drohte mit dem Stock. Die Kinder stoben auseinander wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel.
Er kam an einem Gefängniß vorbei. An der Thür hing eine eiserne Kette, die an einer Glocke befestigt war. Er schellte.
»Herr Schließer, bat er mit demüthig abgenommener Mütze, »würden Sie wohl die Güte haben mir aufzumachen und mir für diese Nacht Unterkunft zu geben?«
Eine Stimme antwortete:
»Ein Gefängnis ist keine Herberge. Erst müssen Sie arretirt sein. Dann wird Ihnen aufgemacht.«
Damit ging das Schiebefenster wieder zu.
Nun kam er in eine Straße, an der viele kleine Gärten liegen. Einige davon sind, statt mit hohen Mauern, nur von Hecken eingehegt, was der Straße ein hübscheres Aussehen verleiht. Hier erblickte er ein kleines einstöckiges Haus, dessen Fenster erleuchtet war. Er schaute hinein, wie kurz vorher in die Fenster der Schenke. Er sah ein großes weißgetünchtes Zimmer mit einem Bett, das mit Draperien aus bedrucktem Kattun behängt war, einer Wiege in einer Ecke, einigen Holzstühlen und einer Doppelflinte, die an der Wand hing.
In der Mitte des Zimmers stand ein gedeckter Tisch. Eine Lampe strahlte ihr Licht aus über das weiße grobe Tischtuch, die zinnerne Weinkanne, die wie Silber glänzte, und die dampfende braune Suppenschüssel. An diesem Tisch saß ein etwa vierzig Jahre alter Mann, der sehr vergnügt ein Kind auf seinen Knieen reiten ließ. Neben ihm säugte eine junge Frau ein andres Kind. Der Vater lachte, das Kind krähte vergnügt und die Mutter lächelte dazu.
Der Fremde sah einen Augenblick diesem anmuthenden und friedlichen Schauspiel zu. Was ging in seiner Seele vor? Er allein hätte es sagen können. Wahrscheinlich dachte er, daß in einem Hause, wo es so gemüthlich zuging, auch Gastfreundschaft geübt werden müsse. Vielleicht würde er hier, wo er so viel Glück sah, auch ein wenig Erbarmen finden.
Er klopfte ganz schwach an die Fensterscheibe.
Niemand hörte.
Er klopfte zum zweiten Mal.
Jetzt hörte er die Frau sagen: »Männchen, mir däucht, es klopft.«
»Bewahre!« antwortete der Mann.
Er klopfte zum dritten Mal.
Der Mann stand auf, nahm die Lampe, kam auf die Thür zu und schloß sie auf.
Es war ein hochgewachsener Mann, halb Bauer, halb Handwerker. Er trug eine große Lederschürze, die ihm bis zur linken Schulter hinaufreichte, und die über dem Gürtel von einem Hammer, einem rothen Tuch, einem Pulverhorn aufgebauscht war. Er hielt den Kopf nach hinten geneigt und sein weit offenes Hemd, dessen Kragen niedergeschlagen war, ließ seinen weißen, stiermäßig starken Hals sehen. Er hatte buschige Augenbrauen, einen gewaltigen schwarzen Backenbart, hervorstehende Augen, ein spitzes Kinn und über dem Ganzen war jener unbeschreibliche Ausdruck von Ruhe und Sicherheit ausgebreitet, welchen das Bewußtsein Herr eines eignen Heims zu sein, dem Menschen verleiht.
»Ich bitte um Verzeihung, lieber Herr,« begann der Wanderer. »Wenn ich bezahle, würden Sie mir wohl einen Teller Suppe abgeben und einen Winkel in dem Schuppen da, wo ich schlafen könnte. Ja, würden Sie das? Ich bezahle.«
»Wer sind Sie?« fragte der Hausherr.
Der Fremde antwortete: »Ich komme von Puy-Moisson. Ich bin den ganzen Tag zu Fuß gegangen. 48 Kilometer. Würden Sie das wohl? Ich bezahle.«
»Einem rechtschaffenen Menschen, der bezahlte, würde ich schon Unterkunft geben. Aber warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«
»Die sind überfüllt.«
»Ist nicht möglich. Es war ja heute kein Markttag, kein Jahrmarkt. Sind Sie bei Labarre gewesen?«
»Ja.«
»Nun?«
Der Fremde antwortete verlegen: »Ich weiß nicht – Er hat mich nicht aufgenommen.«
Sind Sie bei Dingrich, in der Rue Chaffaut gewesen? Die Verlegenheit des Fremden nahm zu. Er stotterte:
»Der hat mich auch nicht aufgenommen.«
Das Gesicht des Bauern nahm einen Ausdruck von Mißtrauen an, er betrachtete den Fremden von oben bis unten und schrie plötzlich mit einer Art Entsetzen:
»Sind Sie etwa der Mann, der ...«
Er warf einen prüfenden Blick auf den Fremden, trat einige Schritte zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und hakte die Flinte von der Mauer los.
Bei den Worten: »Sind Sie etwa der Mann?« War die Frau von ihrem Sitz aufgestanden, hatte ihre beiden Kinder in die Arme genommen und sich eilig hinter ihren Mann geflüchtet, indem sie erschrocken nach dem Fremden blickte und etwas von »Räubern« murmelte.
Alles dies geschah in kürzerer Zeit, als erforderlich ist, sich den Vorgang vorzustellen. Nachdem er eine Zeit lang den Ankömmling im Auge behalten hatte, als hätte er eine Viper vor sich, kam der Hausherr in die Thür zurück und sagte:
»Mach', daß Du fortkommst.«
»Ein Glas Wasser. Aus Erbarmen.«
»Eine Kugel durch den Kopf gehört Dir!«
Damit warf er die Thür heftig zu, und der Abgewiesene hörte, wie innen zwei starke Riegel vorgeschoben wurden. Einen Augenblick darauf wurden die Fensterladen zugemacht, und nach außen drang ein Geräusch, als wenn eine eiserne Stange innen vorgelegt würde.
Unterdessen kam die Nacht immer näher. Es wehte ein kalter Wind von den Alpen her. Bei dem Schein des verlöschenden Tageslichtes bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die sich längs der Straße erstreckten, eine Art mit Rasen belegter Hütte. Er schwang sich schnell entschlossen über den Zaun in den Garten hinüber und ging auf die Hütte zu. Sie hatte statt der Thür eine schmale und niedrige Oeffnung und besaß Aehnlichkeit mit den Baracken, die sich die Chausseearbeiter längs der Landstraßen zu bauen pflegen. Er glaubte ohne Zweifel, sie gehöre wirklich einem Arbeiter; ihm fror und ihn hungerte. Den Hunger wollte er geduldig ertragen, aber er fand hier wenigstens ein Obdach gegen die Kälte. Dergleichen Behausungen sind für gewöhnlich des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich platt auf die Erde hin und kroch in die Hütte hinein. Es war warm darin, und er fand ein gutes Strohlager vor. Auf diesem blieb er eine Zeitlang lang ausgestreckt liegen, ohne sich rühren zu können – so groß war seine Müdigkeit. Dann aber machte er sich daran seinen Tornister loszuschnallen, der Bequemlichkeit halber und um ihn als Kopfkissen zu verwerthen. In diesem Augenblick ließ sich ein grimmiges Knurren vernehmen. Er blickte auf. Im Eingang der Hütte zeichnete sich der Kopf einer gewaltigen Dogge ab.
Er war in eine Hundehütte gerathen.
Er konnte sich auf seine Kraft verlassen, und wagte sich, den Stock als Angriffs-, den Tornister als Schutzwaffe benutzend, aus der Hundehütte heraus, nicht ohne die Löcher in seinen Lumpen noch weiter aufzureißen.
Auch aus dem Garten kam er glücklich heraus, rückwärts und indem er mit einem geschickten, den Stockfechtern abgelernten Manöver die Dogge von sich abwehrte.
Als er, nicht ohne Mühe, seinen Rückzug über den Zaun bewerkstelligt hatte und sich wieder auf der Straße befand, allein, ohne Nachtlager, ohne Obdach, von dem Strohlager und aus der elenden Hütte verjagt, sank er mehr, als er sich setzte, auf einen Stein nieder und stöhnte.
»Ich habe es nicht einmal so gut wie ein Hund!«
Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, zur Stadt hinaus, in der Hoffnung einen Baum, einen Schober zu finden, der ihm ein schützendes Obdach gewähren würde.
So schleppte er sich eine Strecke dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt. Als er sich weitab von jeder menschlichen Behausung fühlte, hob er die Augen auf und hielt Umschau. Er befand sich auf einem Acker, vor einem niedrigen Hügel, der mit Stoppeln bedeckt war und einem kurz geschornen Menschenkopf ähnlich sah.
Der Horizont war tief schwarz, nicht blos von dem Dunkel der heraufsteigenden Nacht, sondern es waren sehr niedrige Wolken, die auf dem Hügel selber zu lasten schienen und über den ganzen Himmel heraufstiegen. Da indessen der Mond zu scheinen begann und im Zenith noch etwas Abendhelle schwebte, bildeten diese Wolken oben eine Art weißliches Gewölbe, von dem sich ein Lichtglanz auf die Erde niedersenkte.
Die Erde war also heller erleuchtet, als der Himmel, was sich recht schaurig ausnahm, und der kläglich winzige Hügel hob sich matt und undeutlich von dem düstern Horizont ab.
Die ganze Aussicht war eine öde, abstoßende, armselige, unheimlich eingeengte. Auf dem Acker und auf dem Hügel nichts, als ein verkrüppelter Baum, der sich in einer Entfernung von wenigen Schritten, vom Winde durchschauert, hin und herkrümmte.
Unser Wanderer war sicherlich weit davon entfernt jene Empfindungs- und Denkweise zu besitzen, die das Gemüth feinerer Menschen für geheimnisvolle Natureindrücke empfänglich macht; allein dieser Himmel, dieser Hügel, diese Ebene, dieser Baum waren so schaurig, so wüst, daß er nach kurzem Besinnen seine Schritte hastig rückwärts lenkte. Es gibt Augenblicke, wo die Natur dem Menschen ein feindliches Gesicht zeigt.
Er kehrte auf demselben Wege wieder nach der Stadt zurück, und fand die Thore schon geschlossen. Denn Digne, das in den Religionskriegen Belagerungen ausgehalten hat, war noch 1815 von Mauern mit viereckigen Thürmen umgeben, die seitdem geschleift worden sind. Der Fremde ging durch eine Bresche in die Stadt hinein.
Es mochte jetzt acht Uhr Abends sein. Da ihm die Straßen unbekannt waren, marschierte er wieder ohne Plan und Ziel.
Auf diese Weise kam er an der Präfektur, dann an dem Seminar vorbei. Als er über den Domplatz ging, ballte er die Faust gegen die Kirche.
In der einen Ecke dieses Platzes befindet sich eine Druckerei. Dort wurden zum ersten Mal die Proklamationen des Kaisers und der kaiserlichen Garde an die Armee gedruckt, die von Napoleon selber auf der Insel Elba diktirt worden waren.
Vollständig erschöpft und hoffnungslos streckte sich der Obdachlose auf die steinerne Bank aus, die sich vor der Druckerei befindet.
In dem Augenblick trat eine alte Dame aus der Kirche und sah ihn im Schatten dort liegen. »Was machen Sie da, guter Freund?«
Er fuhr heftig auf: »Sie sehen ja, gute Frau, ich lege mich schlafen.«
Die gute Frau, die auf diese Benennung ein volles Recht hatte, war die Frau Marquise von R.
»Auf diese Bank?«
»Ich habe neunzehn Jahre lang auf einer hölzernen Matratze gelegen, so kann ich auch einmal auf einer steinernen schlafen.«
»Sie sind Soldat gewesen.«
»Ja wohl, gute Frau.«
»Warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«
»Weil ich kein Geld habe.«
»Leider habe ich nur vier Sous bei mir.«
»Geben Sie sie mir.«
Die Marquise gab ihm das Geld und fuhr fort: »Mit so wenig können Sie keine Unterkunft in einer Herberge bekommen. Aber haben Sie's wenigstens versucht? Sie können doch nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen, Sie haben ohne Zweifel Hunger und frieren. Man hätte Sie aus Mitleid aufnehmen können.«
»Ich habe an alle Thüren geklopft.«
»Und?«
»Sie haben mich überall hinausgeworfen.«
Die gute Frau berührte den Mann am Arme und zeigte ihm ein kleines niedriges Haus, das auf der andern Seite des Platzes neben dem bischöflichen Palast stand.
»Sie sagen, Sie haben an alle Thüren geklopft?«
»Ja.«
»Auch an die da drüben?«
»Nein.«
»Nun dann, klopfen Sie einmal da an.«