Читать книгу Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo - Страница 6

II. Herr Myriel wird der Herr Bischof Bienvenu

Оглавление

Der bischöfliche Palast in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein großes, schönes Gebäude, das zu Anfang des 18. Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie und 1712 Bischof von Digne, errichtet worden war. Alles in diesem wahrhaft fürstlichen Schlosse war in großem Stile angelegt: die Wohnzimmer des Bischofs, die Säle, die Kammern, der große Ehrenhof nebst den Wandelgängen, die sich, von altflorentinischen Arkaden überwölbt, um ihn herumzogen, die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesal, einer langen und prachtvollen Galerie, die im Erdgeschoß belegen war und sich nach den Gärten hinaus öffnete, hatte einst Henri Puget sieben hohe Würdenträger der Kirche feierlichst bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben ehrfurchtgebietenden Prälaten schmückten den Sal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldnen Buchstaben auf einer weißen Marmortafel eingegraben.

Das Hospital war ein enges, niedriges, einstöckiges Haus mit einem kleinen Garten.

Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Nach Beendigung der Visitation ließ er sofort den Direktor zu sich bescheiden.

»Herr Direktor, redete er ihn an, wieviel Patienten haben Sie gegenwärtig?«

»Sechsundzwanzig, Ew. Bischöfliche Gnaden.«

»Soviel habe ich auch gezählt«, bemerkte der Bischof.

»Die Betten«, hob der Direktor wieder an, »stehen recht dicht aneinander.«

»Das ist mir auch aufgefallen.«

»Statt Säle haben wir nur Stuben, die schwer zu lüften sind.«

»Das scheint mir auch so.«

»Und fällt einmal ein Sonnenstrahl in den Garten, so ist er zu klein, die vielen Rekonvalescenten zu fassen.«

»Das habe ich mir auch gesagt.«

»Wenn Epidemieen umgehen, wie z. B. dieses Jahr der Typhus und vor zwei Jahren Friesel und Schweißfieber, haben wir bisweilen an die hundert Kranke und wissen dann nicht, wo wir mit ihnen hin sollen.«

»Der Gedanke ist mir auch in den Sinn gekommen.«

»Aber allen diesen Uebelständen ist nun einmal nicht abzuhelfen«, sagte der Direktor. »Man muß sich fügen.«

Dieses Zwiegespräch fand in dem Speisesal des Erdgeschosses statt.

Der Bischof schwieg einen Augenblick und wandte sich dann wieder an den Direktor mit der hastigen Frage:

»Herr Direktor, wieviel Betten, meinen Sie, würde wohl dieser Sal allein schon fassen?«

»Der Speisesal Ew. Bischöflichen Gnaden?« rief der Direktor in maßlosem Erstaunen.

Der Bischof überschaute den Sal und schien mit den Augen Messungen anzustellen.

»Zwanzig Betten würden hier wohl Platz finden,« flüsterte er leise, als spreche er für sich. Dann, zu dem Direktor gewendet, fuhr er laut fort:

»Ich will Ihnen was sagen, Herr Direktor. Es liegt offenbar ein Irrthum vor. Ihr seid sechsundzwanzig Menschen in fünf bis sechs winzigen Zimmerchen. Unserer sind hier drei, und wir haben Platz für sechzig. Da liegt ein Irrthum vor, sage ich Ihnen noch einmal. Sie haben meine Wohnung, und ich die Ihrige. Geben Sie mir mein Haus wieder. Sie gehören hierhin.«

Am folgenden Tage waren die sechsundzwanzig armen Kranken in dem Palast des Bischofs untergebracht und der Bischof in das Krankenhaus übergesiedelt.

Myriel hatte, da seine Familie durch die Revolution ruinirt war, kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Leibrente von fünfhundert Franken, die seiner Zeit im Pfarrhause für ihre persönlichen Bedürfnisse ausgereicht hatten. Myriel erhielt vom Staate als Bischof ein Gehalt von fünfzehn Tausend Franken. Ueber diese Summe verfügte Myriel laut einer von ihm selber aufgestellten Rechnung, deren Original uns vorliegt, ein für alle Mal folgendermaßen:

Ausgaben für meinen Haushalt.

Für das kleine Seminar

1500

Franken

Für die Missionskongregation

100

"

Für die Lazaristen zu Montdidier

100

"

Für das Seminar der auswärtigen Missionen in Paris

200

"

Für die Kongregation des Heiligen Geistes

150

"

Für die religiösen Anstalten im Heiligen Lande

100

"

Für die Frauenvereine zur Unterstützung armer Wöchnerinnen

300

"

Für den Verein in Arles außerdem noch

50

"

Für die Verbesserung der Gefängnißeinrichtungen

400

"

Zur Unterstützung und Befreiung Gefangner

500

"

Für die Befreiung von Familienvätern aus dem Schuldgefängniß

1000

"

Zuschuß zu den Gehältern der armen Schullehrer der Diöcese

2000

"

Für das Getreidemagazin der Oberalpen

100

"

Für die Kongregation der Damen von Digne, Manosque und Sisteron zur Erteilung von unentgeltlichem Unterricht an bedürftige Mädchen

1500

"

Für die Armen

6000

"

Für meine persönlichen Ausgaben

1000

"

_____

Summa

15,000

"

An dieser Einrichtung »seines sogenannten Haushaltes« änderte er nichts, so lange er den Bischofssitz zu Digne inne hatte.

Dieser Anordnung unterwarf sich auch Fräulein Baptistine ohne den geringsten Widerspruch. Für diese fromme Dame war Myriel nicht allein ihr Bruder, sondern auch ihr Bischof, ein Freund, den die Natur ihr zugesellt, und ein Vorgesetzter, den die Kirche ihr übergeordnet hatte. Sie brachte ihm nur Liebe und Ehrfurcht entgegen. Allen seinen Worten pflichtete sie bei; was er that, hieß sie gut. Nur die Magd, Frau Magloire, murrte ein wenig. Hatte doch, der Herr Bischof, – wie aus der oben angeführten Rechnung erhellt,– sich nur tausend Franken vorbehalten, was mit Fräulein Baptistines Pension fünfzehn Hundert Franken jährlich ergab. Mit diesen fünfzehn Hundert Franken bestritten die beiden Frauen und der alte Herr ihren ganzen Lebensunterhalt.

Und wenn ein Dorfpfarrer nach Digne kam, brachte es der Bischof noch fertig ihn anständig zu bewirten, dank Frau Magloire's großer Sparsamkeit und Fräulein Baptistine's weiser Haushaltungskunst. Eines Tages – er war damals seit etwa drei Monaten in Digne – sagte der Bischof: »Meine Einkünfte wollen doch gar nicht recht zulangen!«

»Das wollte ich meinen! rief Frau Magloire. Wenn Bischöfliche Gnaden sich wenigstens noch das Geld auszahlen ließen, das Ihnen das Departement als Vergütigung für Equipage und Reiseunkosten schuldig ist. Die Vorgänger Ew. Bischöflichen Gnaden haben's doch immer so gehalten!«

»In der That, Sie haben Recht, Frau Magloire, stimmte ihr der Bischof bei und reichte ein Gesuch bei der Stadtverwaltung ein.

Der Generalrath zog auch das Gesuch in Erwägung und warf einen Posten von dreitausend Franken jährlich aus, als Vergütung der Unkosten, die der Herr Bischof für seine Equipage in der Stadt und für seine Reisen mit der Post zu bestreiten habe.

Natürlich erhoben die Freidenker ein Zetergeschrei und ein Senator namentlich, ein ehemaliges Mitglied des Rathes der Fünfhundert, der dem Staatsstreich vom 18. Brumaire zugestimmt und von Napoleon ein bei Digne gelegnes großes Gut als Dotation erhalten hatte, erließ an den Kultusminister Bigot de Préameneu einen entrüsteten Schreibebrief, dem wir folgende Zeilen entnehmen:

»Wozu eine Equipage in einer Stadt, die keine viertausend Einwohner hat? Und Unkosten für Rundreisen? Was sollen denn solche Rundreisen für einen Zweck haben? Und wie reist man denn per Post in einem Gebirgslande? Wir haben hier ja überhaupt keine Chausseen. Man reist hier nur zu Pferde. Kaum daß die Brücke über die Durance bei Chateau-Arnoult ein Ochsenfuhrwerk tragen kann! Aber so sind die Priester alle! Geldgierig und geizig. Der hier hat sich Anfangs auf den Heiligen ausgespielt. Jetzt macht er's wie die Andern. Er muß in einer Equipage fahren und in einer Postkutsche reisen! Er braucht Luxus wie die Bischöfe des alten Regime. O über dieses Pfaffengeschmeiß! Glauben Sie nur, Herr Graf, ehe uns der Kaiser die Schwarzröcke nicht vom Halse schafft, werden die Zustände nicht besser. Nieder mit dem Papst! (Frankreich stand damals mit Rom auf gespanntem Fuße). Ich für mein Theil bin dafür, daß Cäsar allein regiert. U.s.w. U.s.w.«

Desto mehr freute sich Frau Magloire.

»So ist's recht, sagte sie zu Fräulein Baptistine. Se. Bischöfliche Gnaden haben bis jetzt nur für Andere gesorgt, aber schließlich haben Sie doch endlich auch an sich denken müssen. Die Armen sind nun versorgt, und die dreitausend Franken bleiben für uns. Es war auch Zeit, daß wir was kriegten!«

An dem Abend desselben Tages stellte der Bischof wieder eine Rechnung auf und gab sie seiner Schwester. Sie lautete folgendermaßen:

Unkosten für Equipage und Amtsreisen.

Zu Bouillon für die Kranken unseres Hospitals

l,500

Franken

Für den Frauenverein zu Arles

250

"

Für den Frauenverein zu Draguignan

250

"

Für die Findelkinder

500

"

Für die Waisenkinder

500

"

_____

Summa

3,000

Franken

Das war Myriels Budget.

Was die Nebeneinkünfte anbelangt, die Einnahmen für Abkauf von Aufgeboten, für Dispensationsscheine, Nothtaufen, Predigten, Einweihungen von Kirchen und Kapellen, Hochzeiten u.s.w., so trieb der Bischof diese Gelder von den Reichen mit um so größrer Strenge ein, da er sie sämtlich den Armen zuwandte.

Nach Verlauf einer kurzen Zeit flossen ihm denn auch Liebesgaben in reicher Menge zu. Begüterte und Bedürftige, Alle klopften an Myriels Thür, die Einen um Spenden bei ihm zu hinterlegen, die Andern um sie in Empfang zu nehmen. Aber so beträchtliche Summen ihm auch durch die Hände gingen, so fand er sich doch nicht veranlaßt seine Lebenshaltung in irgend einem Punkte zu ändern und sich außer dem Notwendigen auch Ueberflüssiges zu gestatten.

Im Gegentheil. Da in der menschlichen Gesellschaft allzeit unten mehr Elend als oben Wohlthätigkeitssinn vorhanden ist, so war alles schon weggegeben, ehe er es bekommen hatte, so fiel alles wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Man konnte ihm noch so viel Geld geben, nie hatte er etwas. In solchen Fällen gab er noch mehr von dem Seinigen her.

Der dankbare Instinkt des Volkes wählte denn auch unter den Vornamen, die sein Bischof dem Brauche gemäß in seinen Erlassen und Hirtenbriefen vollständig aufzählte, denjenigen heraus, der einen bedeutungsvollen Sinn darbot. Die armen Leute nannten ihn nur den Bienvenu (Willkommen, Segensreich). Wir wollen diesem Beispiel folgen und ihn gelegentlich gleichfalls so nennen. Ihm selber sagte übrigens diese neue Bezeichnung zu. »Der Name gefällt mir,« ließ er sich vernehmen. Er mildert, was der Titel Bischöfliche Gnaden zu Stolzes hat.«

Daß diese Schilderung, die wir hier entwerfen, die Wahrscheinlichkeit für sich habe, wagen wir nicht zu behaupten, wohl aber ist sie der Wahrheit gemäß.

Les Misérables / Die Elenden

Подняться наверх