Читать книгу Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo - Страница 58
XI. »Christus hat uns befreit.«
ОглавлениеWas lehrt uns Fantinens Lebensgeschichte? Wie die Gesellschaft sich eine Sklavin kauft.
Von wem? Von dem Elend.
Von dem Hunger, der Kälte, der Vereinsamung, der Noth. Jammervoller Handel. Eine Menschenseele für ein Stück Brod.
Jesu Christi heiliges Gesetz beherrscht unsere Zivilisation, durchdringt sie aber noch nicht. Es wird behauptet, die Sklaverei sei aus der europäischen Kulturwelt verschwunden. Das ist nicht richtig. Noch existirt sie, lastet aber nur noch auf den Frauen, und nennt sich die Prostitution.
Lastet auf den Frauen, d. h. auf der Anmuth, Schwäche, Schönheit, auf dem Mutterthum, zur größten Schande des Mannes.
In demjenigen Stadium, das Fantinens Elendsdrama jetzt erreicht hat, bleibt von dem, was sie einst gewesen ist, nichts mehr übrig. Nun sie gemein ist, wie der Koth, ist sie empfindungslos geworden, wie Marmor, kalt für jeden, der sie berührt. Wem sie sich hingegeben, den vergißt sie sofort: Die Schande ist keiner Liebesgluth, keiner Zärtlichkeit fähig. Das Leben, die Welt, die Gesellschaft haben ihr gegenüber ihr letztes Wort gesagt. Was ihr nun noch widerfahren wird, gleicht dem, was ihr schon widerfahren ist. Sie hat Alles ertragen. Alles durchgekostet. Alles erduldet. Alles verloren, Alles beweint. Sie hat jetzt eine Geduld, die der Gleichgiltigkeit so ähnlich sieht, wie der Tod dem Schlafe. Sie flieht, sie fürchtet sich vor nichts mehr. Ob Ströme Wassers aus den Wolken, ob der Ocean über sie hereinbricht, ihr ist es gleich: Sie ist wie ein Schwamm, der vollständig mit Wasser gesättigt ist.
Wenigstens lebt sie dieses Glaubens, aber den Brunnen des Schicksals kann man nicht ausschöpfen, nicht bis auf seinen Grund niedertauchen.
Warum werden doch solche Unglücklichen so wehr- und hilflos herumgeworfen? Was ist der Zweck ihres Daseins?
Das weiß nur der, der alle Finsterniß durchschaut, der Einzige in seiner Art, Gott.