Читать книгу Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo - Страница 65

I. Schwester Simplicia

Оглавление

Die Ereignisse, die wir jetzt berichten werden, sind nicht sämtlich in Montreuil-sur-Mer bekannt geworden; aber das Wenige, das an die Oeffentlichkeit gedrungen ist, hat einen so tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, daß unsre Erzählung eine bedenkliche Lücke aufweisen würde, wollten wir nicht Alles recht ausführlich berichten.

Vielleicht wird der Leser Manches darunter für unwahrscheinlich halten; die Achtung für die Wahrheit zwingt uns aber, auch derartige Einzelheiten als Thatsachen zu vertreten.

Am Nachmittag des Tages, wo Javert bei ihm gewesen, ging Madeleine seiner Gewohnheit gemäß zu Fantine in den Krankensaal.

Ehe er indessen denselben betrat, fragte er nach Schwester Simplicia.

Die beiden Nonnen, die den Dienst in Madeleines Hospital übernommen hatten, und wie alle barmherzigen Schwestern der Kongregation des heiligen Lazarus angehörten, hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.

Perpetica war eine einfache unverfeinerte Bäuerin, die bei dem Herrgott mit demselben Sinne in Dienst gegangen, wie man sonst bei irdischen Herrschaften in Kondition tritt. Nonne und Köchin war für sie der Hauptsache nach dasselbe. Dieser Menschenschlag ist bei den geistlichen Orden in zahlreichen Exemplaren vertreten; läßt sich doch aus dieser groben Masse leicht genug ein Kapuziner, beziehungsweise eine Ursulinerin, bilden. Solch ein derbes Menschenmaterial eignet sich vorzüglich für die niederen Arbeiten. Der Uebergang vom Ochsenhirten zum Karmeliter ist kein gewaltsamer, mühevoller. Die auf dem Dorfe und im Kloster herrschende Unwissenheit ist eine bequeme Vorbereitung und stellt den Dörfler von vornherein auf dieselbe Stufe wie den Mönch. Man braucht bloß den Bauernkittel etwas länger zu machen, so wird eine Mönchskutte daraus. So war auch Schwester Perpetua aus Marines bei Pontoise eine derbe, rothbackige zungenfixe Nonne, die nach wie vor ihren Bauerndialekt redete, und die aller Zartheit und Leisetreterei entschieden abhold, die Kranken anranzte, und wenn sie irgendwie geärgert worden war, ihre brummige Laune auch Sterbenden gegenüber nicht zum Schweigen brachte.

Schwester Simplicia war weiß wie ein Wachsbild, im Vergleich mit Perpetua eine Kerze neben einem Talglicht. Sie erinnerte an die feierliche Beschreibung, die St. Vincenz von Paula von der vollkommnen barmherzigen Schwester entwirft, eine Schildrung, die sowohl der mühseligen Sklaverei als auch der Freiheit ihres Lebens beredten Ausdruck leiht: »Ihr Kloster soll nur das Haus der Kranken sein, ihre Zelle nur ein gemiethetes Zimmer, ihre Kapelle nur die Kirche ihres Sprengels, ihre Klausur nur die Straßen der Stadt oder die Säle der Krankenhäuser, ihr Sprechgitter nur die Furcht Gottes, ihr Schleier nur die Sittsamkeit. Dieses Ideal war in Schwester Simplicia zur Wirklichkeit geworden. Wie alt sie war, wußte Niemand zu sagen; sie war nie jung gewesen, und es sah nicht aus, als ob sie je alt sein werde. Sie war ein sanftes Wesen, Weib wagen wir nicht zu nennen – von strengster Sittenreinheit, von feiner Bildung, und größter Wahrhaftigkeit. Trotz ihrer Sanftmuth konnte sie fest sein, wie der Granit. Ihre Rede kam dem Stillschweigen sehr nahe, denn sie sprach nur das Allernothwendigste, und ihre Worte klangen so weich und lieblich, daß sie nicht nur im Beichtstuhl, sondern auch in einem Salon das Wohlgefallen ihrer Zuhörer hätte erregen können. Fein gewöhnt, wie sie war, gefiel ihr die grobe Wolle, in die sie gekleidet war, weil dieser rauhe Stoff sie beständig an den Himmel und an Gott erinnerte. Ein Zug verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Sie hatte nie gelogen, niemals aus irgend einem Grunde, niemals auch nur leichthin irgend etwas gesagt, das nicht die Wahrheit, die lauterste Wahrheit, gewesen wäre: Hierin bestand Schwester Simplicias wesentlichstes Merkmal, das Hauptkennzeichen ihrer Tugend. Wegen dieser unerschütterlichen Wahrheitsliebe war sie sogar berühmt in ihrer Kongregation, und der Abt Sicard erwähnt sie auch aus diesem Grunde in einem Brief an den Taubstummen Massieu. So aufrichtig und lauter auch unsre Gesinnung sein mag, immer haftet ihr der Flecken der unschuldigen, kleinen Lüge an. Bei ihr nicht. Giebt es denn unbedeutende, unschuldige Lügen? Die Lüge ist etwas absolut Böses. Man kann nicht »ein Bischen« lügen; eine Lüge ist so verlogen, wie jede andre; die Lüge ist das Wesen des Dämons, und Satan hat zwei Namen, Satan und Lüge. So dachte sie. Und wie sie dachte, so handelte sie auch. In Folge dessen strahlte auch in ihren Zügen, ja auf ihren Lippen und in ihren Augen eine makellose Reinheit und Klarheit. Ihr Gewissen war von keinem Staub, keinem Schmutz befleckt. Uebrigens war auch der Name, den sie bei ihrem Eintritt in den Orden angenommen, ein mit Absicht gewählter. Denn bekanntlich ist die heilige Simplicia aus Sicilien jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ, als daß sie sich zu der Lüge herabließ, sie sei in Segesta – statt in Syrakus – geboren, einer Lüge, die sie gerettet hätte. Schwester Simplicia hätte sich also keine für sie passendere Schutzheilige wählen können.

Schwester Simplicia hatte, seitdem sie Mitglied ihres Ordens war, zwei Fehler, die sie allmählich abgelegt hatte; sie naschte und empfing gern Briefe. Jetzt las sie nur ein lateinisches Gebet mit großen Lettern. Verstand sie nicht Latein, so verstand sie doch das Buch.

Das fromme Mädchen hatte Fantine lieb gewonnen, wahrscheinlich weil sie ihr verborgne Tugendhaftigkeit anmerkte, und hatte ihre Pflege speziell übernommen.

Diese Schwester Simplicia also nahm Madeleine jetzt bei Seite und empfahl ihr Fantine mit einem eigenthümlichen Nachdruck, an den sie sich später erinnerte.

Dann trat er an Fantinens Bett.

Diese wartete jeden Tag auf Madeleine's Erscheinen, wie auf einen wärmenden Freudenstrahl. »Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist,« pflegte sie zu den Schwestern zu sagen.«

An diesem Morgen fieberte sie gerade sehr stark. Als sie Madeleine erblickte, fragte sie hastig: »Wo bleibt Cosette?«

Er antwortete lächelnd.

»Sie kommt bald.«

Madeleine benahm sich gegen Fantine dieses Mal so wie sonst. Nur daß er zu ihrer größten Freude eine volle Stunde blieb, statt einer halben, wie es sonst seine Gewohnheit war. Auch bat er dringend das ganze Personal, es der Patientin an Nichts fehlen zu lassen, sie recht gut zu pflegen und dergl. mehr. Es fiel ferner auf, daß sein Gesicht sich einmal verdüsterte. Aber dies erklärte sich daraus, daß der Arzt ihm leise ins Ohr geflüstert hatte: »Es geht rasch mit ihr zu Ende.«

Dann kehrte er nach dem Stadthaus zurück, und der Büreaudiener sah ihn, wie er eine Postkarte von Frankreich, die in seinem Arbeitskabinett an der Wand hing, aufmerksam studirte. Dann schrieb er mit Bleistift einige Ziffern auf einen Zettel.

Les Misérables / Die Elenden

Подняться наверх