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XIII. Ueber gewisse Polizeireglements
ОглавлениеJavert drängte die Zuschauer bei Seite und ging mit raschen Schritten auf das Polizeibureau zu, das sich an dem Ende des Platzes befand, indem er die Unglückliche hinter sich her zog. Sie folgte ihm maschinenmäßig. Keines von Beiden sprach ein Wort. Ein großer Menschenschwarm, den das Schauspiel höchlichst amüsierte, marschirte mit und riß Witze über die Unglückliche.
Vor den Polizeibureaus angelangt, ging Javert hinein, schob Fantine in die niedrige Stube und machte die vergitterte Thür hinter sich zu, zum großen Aerger der Maulaffen, die sich vergeblich auf die Zehenspitzen stellten, den Hals reckten, ihre Augen anstrengten, um durch die Glasscheibe der Thür einen Blick in das Innere des Bureaus zu werfen. Die Neugierde ist ja die Feinschmeckerei der Augen.
Nachdem sie eingetreten waren, fiel Fantine in einer Ecke nieder und blieb da wie ein Hund, regungslos und stumm, liegen.
Der Sergeant des Postens brachte ein angezündetes Talglicht und stellte es auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Blatt Stempelpapier aus der Tasche und schrieb.
Diese Klasse Frauen ist kraft unsrer Gesetze ganz und gar dem Belieben der Polizei anheimgegeben. Sie thut mit ihnen, was sie will, bestraft sie nach ihrem Gutdünken und konfiszirt willkürlich, die traurigen beiden Rechte, die sie ihr Gewerbe und ihre Freiheit nennen. Diese richterliche Machtvollkommenheit übte jetzt Javert aus. Er saß ruhig da; sein ernstes Gesicht verriet keine Aufregung. Gleichwohl war sein Geist von einer gewichtigen Aufgabe vollauf in Anspruch genommen. Er war sich bewußt, daß er ebenso gerecht, wie streng verfahren müsse, daß der ärmliche Schemel, auf dem er saß, ein Richterstuhl war. Er hatte in seinem Innern einen Prozeß zu verhandeln, und ein Urtheil zu sprechen. Deshalb bot er nun auch alle Ideen, die er überhaupt besaß, auf, um seiner schwierigen Pflicht gerecht zu werden. Je eingehender er aber die vorliegende Sache prüfte, desto mehr sittliche Empörung erfaßte ihn. Es war geradezu ein Verbrechen, was dieses Frauenzimmer da begangen hatte. So eben war die Gesellschaft in der Person eines Grundbesitzers und Wählers auf öffentlicher Straße beschimpft und thätlich angegriffen worden von einem Frauenzimmer, die außerhalb der Gesetze und der Welt stand. Eine feile Dirne hatte sich eines Attentats gegen ein Mitglied der höhern Stände erfrecht. Das hatte er, Javert, mit eignen Augen gesehen.
Als er mit Schreiben fertig war, faltete er das Papier zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten: »Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie die da ins Loch.« Und zu Fantine gewendet: »Du hast sechs Monate abzusitzen.«
Die Unglückliche erschrack.
»Sechs Monat! Sechs Monat Gefängnis, wo ich täglich blos sieben Sous verdiene! Was soll dann aus meiner Cosette werden? Meine arme Tochter! Herr Inspektor, ich bin den Thénardiers noch hundert Franken schuldig!«
Dann kroch sie auf den Knieen über den, von den kothigen Stiefeln der Schutzleute beschmutzten Steinboden hin, faltete die Hände und flehte:
»Gnade, Herr Javert! Ich versichre Sie, ich habe keine Schuld. Wären Sie zu Anfang dabeigewesen, so würden Sie Sich davon überzeugt haben. Ich schwöre Ihnen bei unserm lieben Herrgott, daß ich keine Schuld habe. Der Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gesteckt. Hat man das Recht, uns Schnee in den Rücken zu stecken, wenn wir ruhig auf der Straße an den Leuten vorübergehn und ihnen nichts thun! Da hat mich die Wut von Sinnen gebracht. Ich bin nämlich krank, Herr Inspektor. Und vorher hatte er mich schon eine ganze Weile geschimpft: »Du bist häßlich! Du hast keine Zähne!« Ich weiß recht gut, daß ich keine habe. Ich that nichts. Ich dachte, der Herr will sich einen Witz machen, verhielt mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir Schnee in den Rücken gesteckt. Herr Inspektor! Gütiger Herr Inspektor! Ist denn Niemand da, der zugegen gewesen ist und sagen kann, ob es sich nicht wirklich so verhält, wie ich sage? Es war vielleicht unrecht von mir, daß ich wüthend geworden bin. Aber in dem ersten Augenblick kann man sich ja nicht beherrschen. Man läßt sich fortreißen. Und dann so was Kaltes am Leibe, wenn man sich's garnicht versieht. Es war nicht in der Ordnung, daß ich dem Herrn seinen Hut ruiniert habe. Warum ist er fortgegangen? Ich hätte ihn ja um Verzeihung gebeten. Du mein Gott, es käme mir darauf nicht an. Erlassen Sie mir die Strafe nur dieses einzige Mal, Herr Javert. Sie wissen's nicht, aber im Gefängnis verdient man nur sieben Sous den Tag; die Regierung hat keine Schuld, aber man verdient nur sieben Sous, und ich soll hundert Franken bezahlen, sonst schicken sie mir meine Tochter zurück. Und ich kann ja doch nicht das Kind um mich haben. Ich kann sie ja doch nicht mit ansehen lassen, was für ein abscheuliches Leben ich führe. Was soll denn aus meiner armen Cosette werden? Das süße Engelskind wird mir wie ein verlassenes Schäfchen in der Welt herumlaufen. Denn, sehen Sie, die Thénardiers, das sind Gastwirthe auf dem Lande, Bauern: Die haben kein Einsehen. Die wollen Geld haben. Stecken Sie mich nicht ins Gefängniß. Die sind im Stande und schmeißen das kleine Wesen auf die Straße: Nun geh, wo Du hingehen kannst. Mitten im Winter. Da müssen Sie Erbarmen haben, lieber, guter Javert. Wenn das größer wäre, könnte es ja arbeiten und sein Brod verdienen, aber so geht's ja nicht. Ich bin kein schlechtes Frauenzimmer von Natur. Nicht Trägheit und Leckermäuligkeit haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Branntwein habe ich freilich getrunken, aber da ist das Elend dran schuld. Ich mag ihn nicht, aber er betäubt. Als es mir besser ging, da hätte man in meinem Kleiderschrank keinen überflüssigen Putz gefunden. Ich hatte hauptsächlich Wäsche, viel Wäsche. Haben Sie Mitleid mit mir, Herr Javert!«
So redete sie, in sich zusammengesunken, von heftigem Schluchzen geschüttelt, die Augen von Thränen geblendet, die Brust entblößt, mit gerungenen Händen, in ihrer qualvoll gestammelten Rede fortwährend von einem trocknen, kurzen Husten unterbrochen. Großes Herzeleid verklärt die Unglücklichen mit einem himmlischen, herrlichen Strahl. So war auch Fantine in diesem Augenblick wieder schön geworden. Aber so demüthig sie auch bat und dem Polizisten den Saum seines Rockes küßte, sie konnte sein steinernes Herz nicht rühren.
»Vorwärts! Ich habe Dich angehört. Bist Du zu Ende? Jetzt fort mit Dir! Du hast deine sechs Monate weg, und Gott im Himmel selber könnte sie Dir jetzt nicht mehr abnehmen!«
Bei dieser feierlichen Betheurung begriff sie, daß ihr Urteil unabänderlich war. Sie brach zusammen und stöhnte nur noch schwach: »Gnade!«
Javert drehte ihr den Rücken zu, und die Soldaten packten sie bei den Armen.
Aber seit einer Weile stand mit dem Rücken an der Thür ein Mann, der unbemerkt hereingekommen war und die verzweifelten Bitten der Unglücklichen mit angehört hatte.
In demselben Augenblick, als die Schutzleute sie ergriffen, da sie nicht aufstehen wollte, trat er aus dem Schatten hervor und sagte:
»Einen Augenblick, wenn's beliebt.«
Javert sah ihn an und erkannte Herrn Madeleine. Er nahm den Hut ab und grüßte in ungeschickter Weise mit der Miene eines Menschen, der nicht zufrieden ist.
»Verzeihung, Herr Bürgermeister ...«
Die Worte Herr Bürgermeister brachten bei Fantine einen merkwürdigen Eindruck hervor. Sie schnellte plötzlich vom Boden empor, wie ein Gespenst, das aus der Erde heraustaucht, schob mit den Armen die Schutzleute zurück, ging, ehe man sie daran hindern konnte, auf Madeleine zu, musterte ihn mit wilden Blicken und schrie:
»Ach! Du bist also der Herr Bürgermeister!«
Alsdann aber schlug sie eine Lache auf und spie ihm in's Gesicht.
Madeleine trocknete sich das Gesicht und sagte:
»Inspektor Javert, setzen Sie diese Frau in Freiheit!«
Javert war einen Augenblick zu Muthe, als verliere er den Verstand. Heftigere Gemüthserregungen, als diejenigen, die ihn jetzt fast zu gleicher Zeit erschütterten, hatte er in seinem Leben noch nie empfunden. Daß eine öffentliche Dirne einem Bürgermeister in's Gesicht spie, war etwas so Ungeheuerliches, daß derartiges auch nur zu träumen, ihm als ein Frevel erschienen wäre. Andrerseits überkam ihn plötzlich zu seinem größten Schrecken, in seinem tiefsten Innern der Gedanke, daß dieser Bürgermeister vielleicht zu derselben Menschenrasse gehörte, wie die Dirne, und daß also das entsetzliche Attentat gar nichts so Schlimmes sei. Aber als nun gar der Bürgermeister, der höchste Beamte der Stadt, sich ruhig das Gesicht abtrocknete und ihn die Elende in Freiheit setzen hieß, da war er wie betäubt vor Staunen, da versagte ihm seine Denkfähigkeit und die Sprache, da war das Maß der Verwunderung, das sein Geist fassen konnte, voll und er blieb stumm.
Auch auf Fantine hatten die Worte des Bürgermeisters nicht minder gewaltsam gewirkt. Sie umklammerte das Ofenrohr, als fürchte sie umzufallen, ließ ihre Blicke überall umherirren und sprach leise vor sich hin:
»In Freiheit! Ich darf gehn! Ich brauche nicht in's Gefängniß. Wer sagte das? So was kann doch Keiner gesagt haben. Ich habe mich verhört. Der schändliche Mensch von Bürgermeister ist's gewiß nicht gewesen. Haben Sie, lieber guter Herr Javert gesagt, daß ich frei ausgehn soll? Ich will's Ihnen erklären, dann werden Sie mich gewiß gehen lassen. Sehen Sie, der alte Schurke von Bürgermeister da ist an Allem schuld. Denken Sie, Herr Javert, er hat mich aus der Fabrik weggejagt, weil ich von niederträchtigem Gesindel verklatscht worden bin. Ob das nicht eine Schändlichkeit ist! Ein armes Frauenzimmer entlassen, die rechtschaffen ihre Schuldigkeit thut und ihre Arbeit macht. Nachher habe ich nicht mehr genug verdient, und da ist das Unglück gekommen. Da wäre zunächst mal eine Verbesserung einzuführen. Das müßten die Herren von der Polizei besorgen. Da giebt es nämlich Unternehmer, die thun den armen Leuten Schaden. Lassen Sie's Sich erklären, wie das zugeht. Man verdient also zwölf Sous mit Hemdennähen, und mit einem Mal kriegt man blos noch neun Sous. Keine Möglichkeit damit auszukommen. Man hilft sich dann, wie man kann. Ich hatte meine Cosette und da mußte ich doch ein schlechtes Frauenzimmer werden. Nun werden Sie einsehen, daß der Halunke von Bürgermeister das Unheil angerichtet hat. Darauf habe ich den Hut des Herrn vor dem Offizierscafé zu Schanden gemacht. Aber er hatte mir mit dem Schnee mein Kleid verdorben. Unsereins hat doch blos ein einziges seidenes Kleid für den Abend. Sehen Sie, Herr Javert, ich habe nie absichtlich etwas Böses gethan, Herr Javert, und ich sehe überall Frauen, die schlechter sind als ich, und doch sind sie viel glücklicher. Ach Herr Javert, Sie haben gesagt, daß ich gehen soll, nicht wahr? Erkundigen Sie Sich, sprechen Sie mit meinem Hauswirt, jetzt bezahle ich die Miethe pünktlich; die Leute werden Ihnen schon sagen, das ich kein unehrliches Frauenzimmer bin. O weh! Ich bitte um Verzeihung, ich habe aus Versehen die Ofenklappe gedreht, und nun raucht es.«
Madeleine hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Während sie sprach, hatte er in seine Westentasche gegriffen, seine Börse hervorgelangt und sie geöffnet. Sie war leer, und er hatte sie wieder eingesteckt. Nun fragte er Fantine: »Wie viel haben Sie gesagt, daß Sie schuldig sind?« Fantine, die bisher immer Javert angesehen hatte, drehte sich nach ihm um mit den Worten:
»Wer redet denn mit Dir!«
Dann wandte sie sich an die Schutzleute:
»Haben Sie gesehen, wie ich dem – hast Du nicht gesehen? – ins Gesicht gespuckt habe? Also Du alter Bösewicht von Bürgermeister, Du kommst her und willst mir Angst einjagen. Aber vor dir fürchte ich mich nicht. Ich fürchte mich vor Herrn Javert, vor dem lieben, guten Herrn Javert.«
»Gerechtigkeit muß ja sein, Herr Inspektor, das sehe ich ja ein. Im Grunde genommen ist es ja was ganz Einfaches, daß sich ein Mann den Spaß macht und stopft einem Frauenzimmer Schnee in den Rücken. Darüber haben die Offiziere gelacht; ihr Vergnügen müssen die Herren ja doch haben, und Unsereine ist doch dazu da, daß Andre ihren Spaß daran haben. Sie kommen nun gerade dazu, und da müssen Sie doch Ordnung stiften. Sie arretiren das Frauenzimmer, weil es Unrecht gehabt hat, aber nachher überlegen Sie Sich die Sache, da sind Sie gut und befehlen, daß man mich laufen läßt, von wegen dem unschuldigen Kind, denn wenn ich sechs Monate lang sitzen müßte, könnte ich nicht für ihren Unterhalt sorgen. »Aber thu's nicht wieder, Du Kanaille!« So denken Sie. O ich thu's gewiß nicht wieder, Herr Javert. Jetzt mag man mir anthun, was man will. Ich lasse mir Alles gefallen. Blos heute habe ich geschrieen, weil mir das weh that, und es kam so unerwartet. Und außerdem, wie gesagt, bin ich nicht ganz gesund, ich huste. Mir ist, als habe ich ein brennendes Eisen hier oben in der Brust, und der Arzt sagt auch, ich soll mich recht in Acht nehmen. Geben Sie mir Ihre Hand. So. Nun fühlen Sie. Hier.«
Sie weinte jetzt nicht mehr, und ihre Worte klangen schmeichlerisch, während sie Javerts rauhe, große Hand auf ihren zarten, weißen Busen hielt. Plötzlich aber brachte sie ihre Kleider hastig wieder in Ordnung, und ging auf die Thür zu, indem sie den Schutzleuten freundschaftlich zunickte und halblaut sagte:
»Kinder, der Herr Inspektor hat gesagt, ich darf gehen. Ich mache mich also davon.«
Schon legte sie die Hand auf die Klinke. Noch ein Schritt, so war sie draußen.
Die ganze Zeit über hatte Javert unbeweglich, gesenkten Hauptes, da gestanden wie eine Statue, die an einen unrechten Ort gestellt ist und wartet, daß sie wieder an ihre richtige Stelle kommt.
Das Geräusch, das die Klinke machte, weckte ihn. Er richtete sich empor mit einer grimmigen Gebietermiene. Solch eine Miene ist um so furchtbarer anzusehen, je niedriger die Intelligenz des betreffenden Wesens ist.
»Sehen Sie nicht, Sergeant, daß die Dirne davon geht? Wer hat Sie geheißen, sie gehen zu lassen?«
»Ich!« sagte Madeleine.
Als sie Javerts Stimme hörte, fuhr Fantine vor Schreck zusammen und ließ die Klinke fahren, wie ein Dieb, der auf der That ertappt wird. Als dann Madeleine antwortete, wandte sie sich nach ihm hin, und von diesem Augenblick an richteten sich ihre Blicke, ohne daß sie einen Laut dabei hören ließ, ohne daß sie auch nur frei zu athmen wagte, abwechselnd auf Madeleine und auf Javert, je nachdem Dieser oder Jener sprach.
Selbstredend mußte Javert, wie man sagt, ganz und gar aus dem Häuschen gerathen sein; sonst hätte er sich nicht erlaubt, den Sergeanten so anzuherrschen, nachdem der Bürgermeister angeordnet hatte, daß Fantine aus der Haft entlassen werden solle. War er so verwirrt, daß er die Anwesenheit des Herrn Bürgermeisters vergessen hatte? Erachtete er es jetzt für unmöglich, daß ein Mitglied der hohen Obrigkeit einen derartigen Befehl ertheilt hätte? Der Herr Bürgermeister hatte ganz gewiß etwas Andres gesagt, als er eigentlich wollte? Oder sagte er sich Angesichts der unsinnigen Vorgänge, denen er seit zwei Stunden beiwohnte, daß er einen großen Entschluß fassen, daß der kleine Beamte die Rolle des höheren übernehmen, der Spitzel sich in einen Richter verwandeln müsse, und daß in der vorliegenden Nothlage die Ordnung, das Gesetz, die Moral, die Regierung die ganze Gesellschaft sich in ihm, Javert, personifizirten?
Wie dem auch sei, als Madeleine das Wort »Ich!« ausgesprochen, wandte sich der Polizeiinspektor Javert, mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick, an allen Gliedern leise zitternd, an den Herrn Bürgermeister und wagte, was er noch nie gethan, ihm, einem Vorgesetzten, zu widersprechen. Gesenkten Hauptes, aber mit fester Stimme sagte er:
»Herr Bürgermeister, das geht nicht an!«
»Wieso?« fragte Madeleine.
»Dieses Frauenzimmer hat einen Mann von Stande insultiert.«
»Inspektor Javert,« erwiderte Madeleine in ruhigem und versöhnlichem Tone, »hören Sie, was ich zu sagen habe. Sie sind ein wackrer Mann, und ich nehme keinen Anstand, mich Ihnen gegenüber zu einer Erklärung herbeizulassen. Der Thatbestand ist folgender. Ich ging vorbei, als Sie die Frau eben verhaftet hatten, und erkundete mich bei Leuten, die auf dem Platz zurückgeblieben waren. Der andere Theil, der Herr, hat angefangen und hätte von der Polizei arretiert werden sollen.«
Javert entgegnete:
»Die Elende hat den Herrn Bürgermeister insultiert.«
»Das ist meine Sache. Ein mir angethaner Schimpf gehört doch wohl mir. Ich darf damit anfangen, was mir beliebt.«
»Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Entschuldigung, die Beleidigung geht nicht ihn an, sondern die Gerechtigkeit.«
»Inspektor Javert,« antwortete Madelaine, »die oberste Gerechtigkeit ist Sache des Gewissens. Ich habe die Frau angehört und weiß, was ich thue.«
»Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, was das Alles bedeuten soll.«
»Sehr wohl, dann gehorchen Sie.«
»Ich gehorche meiner Pflicht, und die verlangt, daß die Dirne da sechs Monat Gefängniß bekommt.«
Madeleine antwortete mit sanftmüthiger Ruhe:
»Merken Sie sich, Javert, sie bekommt nicht einen Tag.«
Als dieser Entscheid gefallen war, unterfing sich Javert, den Bürgermeister fest anzusehen, und ihm – allerdings mit aller Ehrerbietung im Tone – zu erwiedern:
»Zu meiner größten Verzweiflung sehe ich mich genöthigt, Einspruch zu erheben. Es ist das erste Mal in meinem Leben, aber der Herr Bürgermeister werden mir gütigst gestatten zu bemerken, daß ich mich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse befinde. Ich halte mich auch, wie der Herr Bürgermeister es wünschen, an den Thatbestand. Ich war zugegen und habe gesehen, daß diese Dirne den Herrn Bamatabois thätlich insultirt hat, Herrn Bamatabois, einen Wähler und Besitzer des schönen, dreistöckigen Hauses aus Quadersteinen und mit einem Balkon, das an der Ecke der Esplanade steht! – Was doch nicht Alles auf der Welt passirt! Wie dein aber auch sei, Herr Bürgermeister, der Vorfall geht die Straßenpolizei, also mich an, und ich behalte die Frau in Haft.«
Da verschränkte Madeleine die Arme und entgegnete in einem strengen Tone, den bisher noch Niemand von ihm gehört hatte:
»Der Vorfall geht die Gemeindepolizei an. Laut Paragraph 9, 11, 15 und 66 der Kriminalgerichtsordnung habe ich darüber zu entscheiden, und ich ordne an, daß die Frau ihrer Haft entlassen wird.«
Javert machte aber noch einen letzten Versuch seinen Willen durchzusetzen.
»Aber Herr Bürgermeister ...«
»Ich erinnere Sie an § 81 des Gesetzes vom 13. Dezember 1799 über willkürliche Inhaftirungen.«
»Gestatten Sie, Herr Bürgermeister ...«
»Kein Wort mehr!«
»Indessen ...«
»Hinaus!«
Javert empfing den Schlag aufrecht, von vorn und mitten in die Brust, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.
Fantine trat bei Seite um ihn vorbeizulassen, und sah ihn mit grenzenlosem Erstaunen an.
Auch sie war außer aller Fassung. Zwei einander feindliche Gewalten hatten sich um sie gestritten. Zwei Männer, die ihre Freiheit, ihr Leben, ihr Kind in ihrer Hand hielten, hatten gegeneinander gekämpft, der Eine, um sie in die Finsternis des Verderbens zu stürzen, der Andre, um sie dem Lichte zuzuführen. Während dieses Kampfes, den die Furcht ihr noch gewaltiger erscheinen ließ, hatten die beiden Männer etwas Übermenschliches für sie angenommen; der Eine war ein Dämon gewesen, der Andre erschien ihr ein Engel des Guten zu sein. Der Engel hatte den Dämon überwunden, und sie erbebte vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, daß sie gerade ihn, ihren Befreier haßte, den Bürgermeister, den sie seit langer Zeit als den Urheber ihres Unglücks betrachtet hatte, den Madeleine! Der hatte sie, gerade als sie ihn so abscheulich insultirte, gerettet. War sie denn in einem Irrthum befangen? Sollte sie mit ihrer ganzen Denkweise eine Aenderung vornehmen? Sie begriff das Alles nicht und zitterte. In sinnloser Geistesverwirrung stand sie da und bei jedem Wort, das Madeleine sprach, fühlte sie, wie die gräßliche Finsterniß des Hasses sich auflöste, und in ihr Herz wieder Freude, Hoffnung und Liebe einzogen.
Nachdem Javert hinausgegangen war, wendete sich Madeleine nach ihr hin und sprach mit langsamer Stimme, wie Einer, der seine Thränen unterdrückt:
»Ich habe Alles gehört. Ich wußte nichts von alle dem, was Sie erzählt haben. Ich glaube, ich fühle, daß es wahr ist. Mir war sogar unbekannt, daß Sie aus meiner Fabrik entlassen waren. Warum haben Sie Sich nicht an mich gewendet? Aber lassen wir das. Ich werde Ihre Schulden bezahlen und Ihre Kleine kommen lassen, oder Sie können zu ihr gehen. Bleiben Sie hier, oder gehen Sie nach Paris oder wo Sie sonst hin wollen. Die Sorge für Ihren und Ihres Kindes Unterhalt übernehme ich. Sie brauchen nicht mehr zu arbeiten, wenn Sie nicht wollen. Alles Geld, das Sie brauchen, bekommen Sie in Zukunft von mir. Sie werden wieder brav und gut werden, wenn sich Ihnen das Glück wieder zuwendet. Und um es gleich jetzt zu sagen, – wenn Alles sich so verhält, wie Sie behaupten, und ich zweifle nicht im Geringsten daran, – Sie haben nie aufgehört tugendhaft und Gott angenehm zu sein. Sie arme Frau!«
Das war mehr, als die arme Fantine fassen konnte. Cosette wieder zu bekommen! Ihren scheußlichen Lebenswandel aufgeben zu können! Frei, reich, glücklich, geachtet mit ihrer Tochter zu leben! Und alle diese Herrlichkeiten sich so unvermittelt aus dem tiefsten Elend entfalten zu sehen! Sie sah ihren Retter mit wirren, umflorten Blicken an und schluchzte nur: Oh! Oh! Dann versagten ihr die Kniee den Dienst, sie fiel Madeleine zu Füßen, und ehe er es verhindern konnte, ergriff sie seine Hand und drückte ihre Lippen darauf.